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»Ja«, sagte Hassa zerstreut. »Wir werden bestimmt irgendwann Kinder haben.« Er schwieg. Er fürchtete sich vor den Kindern, die zwischen ihm und Asiadeh sitzen würden. »Ja«, wiederholte er und nahm ihre Hand. Er liebte sie sehr…

Sie fuhren zurück in den brütenden Hexenkessel der Stadt. »Wollen wir das Wochenende auf dem Semmering verbringen?« fragte Hassa. Asiadeh nickte. Sie war noch nie auf dem Semmering gewesen.

Der Samstag kam, und um sechs Uhr läutete der Bariton der Oper an und bildete sich ein, ein Fibrom zu haben. Es war kein Fibrom, aber der Bariton klammerte sich keuchend an Hassas Ärmel, seine Glotzaugen rollten, sein Bauch bebte, und Hassa mußte mit ins Theater, um in den Pausen Kokain in die Stimmbänder des Baritons zu gießen.

»Wir fahren morgen in aller Frühe«, sagte er zu Asiadeh, »und bleiben bis Montag abend.« Er sah schuldbewußt und verschämt aus wie ein kleiner Junge. Dann kam die Nacht, und um fünf Uhr morgens mußte Hassa aus dem Bett, denn irgendwo lag ein krankes Kind und erstickte an Diphtherie. »Luftröhrenschnitt«, sagte er, Asiadeh war gar nicht verwundert, als er um sieben Uhr anrief und sagte: »Fahre allein. Ich komme mit dem Zug nach. Rufe Kurz an. Er soll dich begleiten, damit du dich nicht langweilst.«

Asiadeh rief Kurz an. Ja, er hatte Zeit. Die Hysteriker könnten warten und die Manisch-Depressiven auch.

Um acht Uhr fuhr das Auto zur Semmeringer Chaussee hinaus. Nun erreichten sie Maria-Schutz. Asiadeh blickte auf die Madonnenbildnisse am Wegrand und dachte an Hassa, an das fremde kranke Kind und an das Leben, das schön und ernst war.

Hinten im Rücksitz saß Dr. Kurz. Auch er dachte, denn er war ein Mensch, er hatte ein hochorganisiertes Gehirn, das zum Denken da war. Er dachte an die Kühe, denn die Kühe standen am Straßenrand, er dachte an die Kirchen, denn die Kirchen lagen am Weg, er dachte an die Irren, denn er lebte von ihnen. Er sah Asiadehs Nacken, und er dachte an den Nacken.

Ein schöner Nacken — dachte er — und weiche blonde Haare! Hassa hat Glück bei Frauen. Aber nur zu Beginn, denn er kann sie nicht halten. Seltsam, daß sie ihren Mann immer nur Hassa nennt. Im Unterbewußtsein empfindet sie ihn also doch als etwas Fremdes. Einen schönen Busen hat sie. Vielleicht kommt Hassa gar nicht nach. Toll, was dieser Mensch für eine Praxis hat. Und dabei nur technische Geschicklichkeit. Ich werde abends Sekt bestellen und lange über Hassa sprechen. Natürlich lobend. Das wirkt immer. Sie wird Vertrauen zu mir haben. Das ist die Hauptsache. Außerdem hat sie Heimweh. Wohl ein verborgener Vaterkomplex. Da wird man auch anpacken müssen. Nein, dieser Nacken. Hassa ist ihr gewiß nicht gewachsen. Wenn sie Temperament hat, kann ich schon heute manches erreichen…

So dachte Dr. Kurz, denn er war ein Mensch, er hatte ein hochorganisiertes Gehirn, das zum Denken da war.

Der Wagen hielt vor dem Südbahn-Hotel. Aus den Fenstern der großen Halle sah man die kantigen Berge und die breite Schlucht des Tales. »Schön«, sagte Asiadeh. Sie ging zur Terrasse und wurde plötzlich von wilder Lebenslust ergriffen. Die Berge waren blau, und die Luft klar und kühl. Der Horizont war eingeengt von dem Massiv der Berge. Die Unendlichkeit war im engen Kreise des Tales eingefangen. Es mußte schön sein, hier zu bleiben, durch die steile Bergwand von den Sorgen des Lebens getrennt.

Unten in der Stadt saß Hassa am Bett des röchelnden Kindes, unten in der Stadt lief durch das Vorzimmer der Ringwohnung der keuchende Bariton und wartete auf Hassa, denn er war jetzt überzeugt, daß er Krebs habe, unten in der Stadt läutete das Telephon, das Mädchen hob den Hörer ab, ein Hotel fragte nach Frau Dr. Hassa, und das Mädchen antwortete, daß die gnädige Frau auf dem Semmering sei. Unten in der Stadt fragte ein eleganter Ausländer den Hotelportier, wo sich der Semmering befinde. Doch all das wußte Asiadeh nicht, und wenn sie es gewußt hätte, würde sie es nicht beachtet haben.

»Gehen wir spazieren«, sagte sie. Kurz folgte ihr. Sie gingen die enge Straße zum Hotel Panhans hinauf. Der Wald rechts war dunkel und drohend, voll urzeitlicher Finsternis.

»Wissen Sie«, sagte Asiadeh, »ich habe nie Berge gesehen. Ich kenne nur den Bosporus und Berlin. Ich denke immer, daß das Mauern sind oder Burgruinen.« Kurz sah sie aufmerksam an. Dann sprach er mit leiser, eindringlicher Stimme. Er sprach und war über die Tiefgründigkeit seiner Sätze gerührt. »Die Frau beschwingt mich«, dachte er. Er wußte nicht, daß Asiadeh gar nicht zuhörte.

Sie gingen ins Tal hinab. Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich eine alte Kirche. Sie traten näher. Asiadeh las die verwitterten Lettern am Eingange: »Maria-Schutz steht allen Feinden zum Trutz.« Sie betrachtete lange die Aufschrift und war plötzlich gerührt. Eine Welt stand hinter der kleinen Kirche mit der alten Aufschrift. Vielleicht sah diese Kirche noch den Siegeszug der Türken. Vielleicht streiften durch diese Berge auf langmähnigen Pferden die Bogenschützen des Hauses Osman. Dörfer gingen damals in Flammen auf. Vor dem Kirchenportal, auf dem kleinen Platz mag ein Scheiterhaufen gebrannt haben. Soldaten wärmten sich am nächtlichen Feuer und dachten an die Beute, die sie hinter den Mauern Wiens erwartete. Die Kirchentür war verschlossen, aber stumm und abgeklärt blickte die Inschrift, die über das fremde Heer, über den grimmigen Feldherrn, über das ganze Haus Osman gesiegt hatte.

Asiadeh blickte sich um. Tiefer Friede lag über der Landschaft. Sie seufzte. »Ihr seid ein glückliches Volk«, sagte sie, »und ihr habt ein schönes Land.« Trauer und leiser Neid klangen in ihrer Stimme. Aber Kurz merkte es nicht. Er sah ihre aufgeworfenen Lippen und die seltsam geschnittenen Augen. Er sprach, und Asiadeh wurde immer stiller, denn es fiel ihr ein, daß sie jetzt selbst diesem schönen und grünen Lande angehöre und sich freuen müßte, daß an der kleinen Kirche die Macht des Hauses Osman zerbrach. Nachdenklich ging sie zum Hotel zurück. Kurz ging neben ihr.

»Nachmittags«, sagte er, »findet in der Hotelhalle ein Fünf-Uhr-Tee statt. Es sind immer viele Ausländer da. Würden Sie mir die Ehre geben?«

Asiadeh nickte. Sie dachte an die Kirche mit der Aufschrift, und es kam ihr zum erstenmal zum Bewußtsein, daß sie keine Türkin mehr war und daß ihre Kinder und Kindeskinder es nie sein würden.

Um fünf Uhr saß sie mit Kurz an einem niedrigen Tisch in der Halle. Die Kapelle spielte eine fremde sehnsüchtige Melodie. Tanzpaare schwebten über das Parkett, und Asiadeh fing abgerissene Sätze auf, die in allen Sprachen der Welt dieselben Koseworte wiederholten. Kurz verbeugte sich. Er tanzte mit ihr, und der Rhythmus der fremden Melodie befiel sie. Es war schön, in der lichten Halle zu tanzen, die blauen Berge im Hintergrund. Kurz’ Hände berührten kaum ihre Taille. Er war offensichtlich ein anständiger Mensch, der genau wußte, was sich bei der Frau eines Freundes gehörte. Männer und Frauen kreisten eng umschlungen an ihnen vorbei. Asiadeh fing begehrliche Blicke auf. Sie hörte das Atmen der fremden Körper. Es war ein schönes Land und ein schönes Hotel, und auch das Leben war schön und gar nicht so ernst.

»Genug«, sagte sie plötzlich und ließ Kurz stehen, als wäre er ein Mannequin. Ganz außer Atem ging sie zu ihrem Tisch und setzte sich hin. Kurz’ Gesicht beugte sich vor. Hastig leerte Asiadeh eine Kaffeeschale. Jetzt müßte Hassa da sein, sie wollte mit ihm durch den Saal wirbeln, seine starken Hände spüren, seine schräggestellten Augen sehen, die sie lächelnd und bittend ansahen…

Eine hohe schlanke Dame erhob sich am anderen Ende des Saales. Sie ging durch die Halle. Asiadeh sah ein zartes längliches Gesicht mit hochmütigen Augen und schmaler Nase. Die Linien des Mundes hatten einen vornehmen Schwung, und der gleiche Schwung wiederholte sich in den schmalen Augenbrauen, die über die hohe glatte Stirn liefen. Die Frau sah stolz, fremd und schön aus.