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»War das das einzige Mal, daß Sie meinen Vater gesehen haben?«

»Nein, zehn Jahre später sah ich ihn wieder. In der Moschee des Fahnenträgers Ejub. Es war an dem Tage, als Wachdeddin sich mit dem Schwerte Osmans umgürtete. Neben dem neuen Sultan stand der dicke Talaat-Pascha. Enver trug volle Gala und hatte einen stachligen Schnurrbart. Ihr Vater war damals bereits Leiter des Privatkabinetts des Sultans. Wachdeddin hatte eingefallene Wangen und lange Hände. Er war der letzte, der sich mit dem Schwerte Osmans umgürtete.«

Er saß sehr ruhig da und trank Mokka. Jetzt runzelte er kaum merklich die Stirn. Er sah wie ein Automat aus, der mechanisch die Bewegungen vollführt, die ihm ein fremder Wille eingeprägt hatte.

»Wenn mein Vater der Achtunddreißigste im Gefolge Memed-Raschids war, an welcher Stelle standen dann Sie?« Asiadehs Stimme klang ganz harmlos.

»Ich? Ich war der Siebzehnte.«

Beide schwiegen. Am Nebentische gab ein Gast weitschweifig eine Bestellung auf.

»Sie sind ein Hochstapler«, sagte Asiadeh sanft. »Aber es macht nichts. Ich unterhalte mich gern über die alten Zeiten.«

»Ich bin kein Hochstapler.« Johns Stimme klang traurig. »Warum denken Sie, daß ich einer bin?«

»Weil… na ja. Es ist ja ganz einfach. Sie sind bestimmt nicht über vierzig. In der Zeit, als mein Vater der Achtunddreißigste im Gefolge des Kaisers war, konnten Sie noch keine zwanzig Jahre alt sein. Und Sie wollen an der siebzehnten Stelle gestanden haben?«

»Deshalb brauche ich noch lange kein Hochstapler zu sein.« Seine Stimme klang gar nicht beleidigt. Er schwieg eine Weile und sagte dann hart und die Worte abhackend:

»Kaiserliche Prinzen rangierten vor den Hofchargen und vor dem Militär.«

»Wie meinen Sie das?« Wilde Furcht zeigte sich in Asiadehs Augen. Der große Saal glich plötzlich einer Gefängniszelle. »Wie meinen Sie das?« wiederholte sie und verstummte. Sie brauchte keine Antwort mehr. Sie sah das schmale Gesicht, die hellen leeren Augen, die gebogene Nase. Sie sah die trockenen bösen Lippen und die kantige viereckige Stirn. Das Gesicht war regungslos, maskenartig, sogar die Augen standen still. Stachlig und starr blickten sie Asiadeh an.

»Nein«, sagte Asiadeh. »Nein, bitte nein.«

Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre Lippen. Das Gesicht Rollands blieb starr. Er sprach kein Wort. Er sah sie an und glich einer versteinerten Statue, die sich aus einer urzeitlichen Welt in den lichtübergossenen Saal verirrt hatte.

»Ihr Vater nannte mir Ihre Adresse«, sagte er endlich. »Der Kaiser hat Sie mir zugesprochen. Ich dachte nicht an Sie. Weder in Istanbul, noch in Amerika. Jetzt sehe ich Sie. Jetzt denke ich an Sie. Sie sollen Mutter von Prinzen werden.«

Asiadeh schwieg. Sie blickte Rolland fest an. Sie lächelte nicht. Da war er also. Der Landesverwiesene, der Verschollene. In seinem Palast wuchsen Pinien. Sie kannte die Äste und Kronen, die hinter der breiten Mauer sichtbar waren. Auf der Terrasse saß oft ein dicker Eunuch, wahrscheinlich sein Hofmeister. Er war der Siebzehnte, der nach Memed-Raschid den Mantel des Propheten küssen durfte, und der schmalschultrige Wachdeddin hatte sie ihm zugesprochen. Sie gehörte ihm, jede Faser ihres Körpers war ihm zugedacht, für ihn lernte sie einst Persische Gedichte und arabische Gebete, für ihn lauschte sie den wilden Klängen der barbarischen Worte.

»Hoheit«, sagte sie, und ihre Stimme stockte. Die Gegenwart war wirr und phantastisch wie ein wilder Traum. Irgendwo in der Ferne erscholl Marions hochmütiges Lachen, erscholl und verstummte. Das Haus am Bosporus, die Heimat, die blutroten Sonnenuntergänge am Goldenen Horn, all das war wieder da, verkörpert in dem fremden Mann, der schmale böse Lippen hatte und sie starr anschaute.

Sie wollte plötzlich aufstehen, die schmale, schlaff herabhängende Hand ergreifen, ihre Lippen an die eckigen Schultern pressen. »Hoheit«, wiederholte sie und beugte den Kopf. »Ich bin Eure Sklavin, Hoheit. Ich folge Ihnen, wohin Sie befehlen.«

Sie hob die Augen. Für einen Augenblick war sie von einem wilden, rasenden, beinahe schmerzlichen Glücksgefühl ergriffen. Johns Lippen lächelten.

»Ich danke Ihnen«, sagte er, »Ihr Vater hat Sie gut erzogen. Kommen Sie morgen um fünf Uhr ins Hotel, wir werden alles vorbereiten.« Er hob sich. Er begleitete sie bis zur Tür. Sie ging über den Ring, und der Asphalt glich einem weichen Teppich. Das Glück — das Einmalige, Unfaßbare —, da war es plötzlich. Es hatte helle Augen und schmale Lippen, es sprach den weichen Dialekt Istanbuls. Es war plötzlich in ihr — unzertrennlich, wie ein Körperteil — das Glück.

Erst vor ihrem Hause fiel es ihr ein, daß sie verheiratet war und Frau Dr. Hassa hieß. Sie blieb stehen. Ängstlich blickte sie sich um. Die Straße war leer. Wie angewurzelt stand sie da und schüttelte fassungslos den Kopf. Es gab wirklich einen Menschen, der Hassa hieß und der mit ihr verheiratet war.

Plötzlich wandte sie sich um und ging schnellen Schrittes in der Richtung des Stadtparks.

19

Sie ging durch die Alleen des Parks. Sand und Kieselsteine raschelten unter ihren Füßen. Die Schatten der Bäume fielen auf den Rasen und flatterten. Liebespärchen saßen eng umschlungen auf den einsamen Bänken. Leises Geflüster verstummte, wenn Asiadeh eiligen Schritts vorbeiging. Sie ging, den Kopf leicht vorgeneigt. Sie sah die dunklen Äste, die sich über die Alleen wölbten, und die Kieselsteine, die unter ihren Füßen lagen und im Mondschein schimmerten.

Dann stand sie an der Brücke, an das Geländer gelehnt. Unten gähnte die trockene Leere des Flußbettes. Sie blickte hinunter. Die geplatzte Erde war vom Mondlicht übergossen. Asiadeh ging weiter, immer im Kreise, durch die Alleen des Parkes.

Hassa — dachte sie —, einst saß er im Auto, küßte sie und dünkte sich ihr überlegen. Dann stand er demütig im Regen der Berliner Straße und bat um ihre Gnade. Wann war das? Gestern? Vor Jahrhunderten? Er rettete einen heiligen Mann aus der Bruderschaft der Bektaschi, und er machte sie zur Frau in einer heißen Sommernacht im breiten Daunenbett eines serbischen Hotels.

Asiadeh blieb stehen. Der Mond schimmerte durch die Äste hindurch und war mild und weich wie die Seele Hassas.

Es war im Schlafzimmer vor dem breiten Doppelbett, in dem einst Marion schlief und an fremde Männer dachte. Er stand neben ihr und hatte erschrockene und bittende Augen.

Ja, damals versprach sie, eine gute Frau zu sein. Damals lag sie neben ihm und dachte an Marion, die ihn verlassen hatte und der das Tor der Hölle offenstand.

Asiadeh merkte nicht, wie sie weiterging, immer im Kreis durch die vom Liebesgeflüster erfüllten Alleen. Ein Ungläubiger war Hassa, ein Abtrünniger, ohnmächtig in der Welt der Gefühle. Er hatte starke Hände und geschickte Finger, und er war zufrieden in der engen Welt seiner Liebe. Sie sah ihn im weißen Kittel, nach Medizin riechend, oder im Kaffeehaus, seinen Freunden simple Geschichten über die Kranken, über Theater oder die Politik erzählend. Ein warmes Gefühl erfüllte sie. Es war ganz undenkbar, daß es keinen Hassa mehr in ihrem Leben geben sollte.

Asiadeh zündete sich eine Zigarette an. Die kleine Flamme erhellte ihr Gesicht, sie rauchte im Gehen, und alles in ihr fürchtete sich vor dem Prinzen, der plötzlich aufgetaucht war und nach ihr rief.

Ihre Ahnen kamen einst aus der Wüste und waren Sklaven der Ahnen des Prinzen. Jeden Atemzug, jede Bewegung ihrer Glieder verdankte sie der Gunst, den die Ahnen des Prinzen ihren Ahnen erwiesen hatten. Eine Bäuerin wäre sie geblieben, ein wildes Steppenweib, wenn es die Ahnen des Prinzen gewollt hätten.

Die Zigarette glimmte. Sie sah die Asche länger werden und dachte an die sengende Glut der großen Wüste, aus der die Ahnen kamen und die Welt bezwangen. Der große Orchan, der jähzornige Murad, der grausame Selim, der nach Ägypten zog und den Mantel des Propheten um seine breiten Schultern warf. Die ganze Größe des Reiches war jetzt in dem Mann verkörpert, der schlaffe Hände hatte und nach ihr rief. Sie mußte zu ihm ziehen, sie mußte Dienerin im leeren Hause Osman werden, demütig und ergeben, wie es Gott den Frauen als Pflicht auferlegt hat.