Stoßartig stieg das Flugzeug in die Höhe.
»Bismillahi, Rahmani, Rahim« — »Im Namen Gottes, des All-erbarmers, des Allbarmherzigen«, flüsterte Rolland und wunderte sich selbst über den plötzlichen Anfall von Gottesfurcht. Er öffnete den Ventilatorenschlauch. Luft schlug ihm ins Gesicht, seine schwarzen Haare wehten. Stunden um Stunden sollte er jetzt in diesem Fenstersitz verbringen, hineingepreßt in eine Kabine, die in der Luft schwebte zwischen Europa und Afrika. Schweigend saß er da, das Gesicht an das Fensterglas gepreßt. Das Surren des Propellers übertönte jedes Wort. Es war gut, sich still und allein ans Fenster zu lehnen, kraftlos den Gedanken ausgeliefert, die ihn von New York in die Wüste trieben, dann wieder in die steinerne Strenge der Städte führten und nun übers Meer jagten zu der fernen Küste der Barbaren.
John blickte aus dem Fenster. Unten zerriß der Wind die weichen Falten der Wolken. Weiße Fetzen trieben über die blaue Fläche. Glatt, regungslos und erstarrt war das glutübergossene Meer. Der Schatten des Flugzeuges glitt über die Fläche und glich einem großen Vogel. Angestrengt blickte John auf das Meer. Links, hinter der breiten Linie des Horizonts, verbarg sich Istanbul. Vorne bedeckten Wolken die unsichtbare Küste Afrikas.
Ausgebreitet lag das Mittelmeer vor Johns Augen, gleich einem geheimnisvollen Ring, der Vergangenheit und Gegenwart umfaßt. John hatte das Gefühl, als zeichneten sich in der erstarrten blauen Fläche die Jahrhunderte, die dieses Meer umspülte, und diese Jahrhunderte waren plötzlich in ihm, unzertrennlich mit ihm verbunden und über ihn herrschend.
Ein Rastloser war er, ein Vertriebener, der einem geheimnisvollen Ziel nachjagte. Die Heimat? Er wußte nicht mehr, wo Heimat für ihn war. Das Wasser vom Bosporus? Dasselbe Wasser breitete sich jetzt vor seinen Augen aus. Der Palast? Es gab bessere und schönere Häuser in der Welt, und sie standen ihm offen.
Die Ruhe war es, die Geborgenheit, die geheimnisvolle Zweckmäßigkeit des Daseins, die er eingebüßt hatte, als er über das große Wasser ging, zur steinernen Pracht Manhattans. Eine große Leere war in ihm — seelenlos waren die Zimmer, die er bewohnte, die Straßen, durch die er ging, die Häuser, die er sah. Das Leben war eine trostlose Reihenfolge von Nahrungseinnahme und Arbeitsstunden, denn ausgestoßen war er aus dem geheimnisvollen Ring des Schicksals, dem er angehörte und für den er geboren war.
Manchmal überfiel es ihn — mitten in der Arbeit, im Lokal, im Gespräch. Eine Silhouette, ein Profil, ein Wort ganz ohne Zusammenhang, und die Leere stieg in ihm auf, überfiel und würgte ihn wie ein böser unersättlicher Alp. Unstillbar war dann der Schmerz, und er entfloh ihm in die äußere Zweckmäßigkeit des Daseins, in den neuen Namen, in den neuen Paß und ahnte dumpf, daß es nur wertlose Hüllen waren, leichter abzustreifen als ein neues Hemd, als ein neuer Anzug.
Dann haßte er das neue Dasein, die schnurgeraden Avenuen von New York, die majestätischen Linien der Wolkenkratzer. Dann flatterten vor seinen Augen die fernen Linien der entschwundenen Welt, dann atmete er die salzige Luft des Bosporus und die trockene Trunkenheit des Staubes, der aus der Wüste kam und unter seinen Füßen knirschte.
John preßte seine Stirn an das Fenster. Unten entschwanden die blauen Umrisse des Vesuv. Der Golf von Neapel glich einer kindlich ausgestreckten Handfläche, die sich in das müde Grün der Küste hineindrängte.
Ich jage von einem Schmerz zum anderen — dachte John — und entsann sich der weißen Häuser von Marokko, des breiten Hofes des Kalifenpalastes und des rasenden Schmerzes, der ihn beim Anblick des weißvermummten Herrschers mit dunklen verträumten Augen ergriffen hatte. Jene Welt der unstillbaren Sehnsucht auch sie war von Larven und Dämonen erfüllt. Jede Berührung mit der Welt des Westens trieb ihn zurück zur entschwundenen Pracht der Vergangenheit. Jede Berührung mit einem Splitter der Alten Welt, jede Erinnerung an die Vergangenheit erzeugte neuen Schmerz, neue Qual der Ohnmacht und Schicksalsschwere.
John seufzte. Es war schön, in dem großen Flugzeug zu sitzen, mitten zwischen den beiden Welten, die Schmerz und Qual verursachten. Er blickte sich um. Die Gesichter der Mitreisenden glichen aufgedunsenen schlafenden Schnecken. Die beiden Piloten im Führersitz blickten gelangweilt in die Ferne. Der eine blätterte in einer Zeitung. Der Flug über das Mittelmeer war prosaischer und alltäglicher als eine Fahrt auf den Semmering. Sam Dooth schlief, das Gesicht mit der Zeitung verdeckt. An der Wand der Kabine hing ein Plakat, das ein Hotel darstellte und eine Autostraße, die durch die grünen Wiesen lief. Die Wiesen glichen dem grünen Weg zum Semmering. John sah das Auto und das Mädchen, das ihn angefahren und mit den Füßen aufgestampft hatte. Eine seltsame Wärme überkam ihn. Er öffnete den Schlauch des Ventilators und atmete gierig die kalte Luft ein. Es war plötzlich gut, daß es Asiadeh auf der Welt gab — ein Wesen, das gleich ihm zwischen den beiden Welten getrieben wurde und dennoch heiter und fest blieb in der losen Hülle des irdischen Glückes.
Ich müßte sie zurückholen — dachte John müde und fühlte die gewohnte kraftlose Leere in sich aufsteigen. Seine Glieder wurden schwer. Es war ganz gleichgültig, ob er über dem Mittelmeer war oder in New York oder in der Wüste. John streckte die Füße aus. Er war aufrichtig verwundert, daß die aufgedunsene grauhaarige Frau, die ihm gegenüber schlummerte, nicht Asiadeh war.
Draußen, am Horizont, zeigten sich die gelben Streifen der Barbarenküste. John preßte die Hände an die Schläfen. Hinter dem grauen Streifen lag die große Wüste.
Dort erhoben sich die Gebetstürme der Moscheen und glichen Lanzen, die sich in seine Seele bohrten. Fremd war er in New York, fremd wird er hier sein, in der Welt des Sandes.
Das Flugzeug ging im Gleitflug nieder. Unten zeigten sich die uralte Burg und die weißen viereckigen Häuser von Tripolis. Das Flugzeug wasserte. Wellenspritzer erglänzten in der afrikanischen Sonne. Johns Gesicht wurde steif:
»Wo wohnen wir?«
Sam Dooth erhob sich und zog dicke Wattebausche aus seinen Ohren. »Im Grand Hotel«, sagte er krächzend.
Das Flugzeug hielt an der Mole. John stieg aus. Er ging über den Landesteg zum bereitstehenden Wagen. Vor ihm erhob sich der Turm der Karamanli-Moschee. Verächtlich wandte er sich ab. Es gab keine Heimat für den Wanderer zwischen zwei Welten…
In der großen Halle des Hotels trugen schwarze Diener blendend weiße Hosen. Auf der sonnengeschützten Terrasse speisten Kolonialoffiziere. Die palmenbedeckte Promenade zog sich zum uralten Kastell, und über die Promenade wanderten Kamele, Esel, Araber und vermummte Frauen. Sam Dooth verschwand eilig in der Richtung des Regierungspalais.
John blieb allein in dem kühlen Halbdunkel der Hotelhalle. Die maurischen Bogen und Säulen wirkten tempelartig. Er erhob sich und ging zur Rezeption. Der Portier war ein dunkelhäutiger Mann mit großen, traurigen Augen.
»Es ist ein schönes Land«, sagte John.
»Ein sehr schönes«, meinte der Portier. »Reisen Sie weiter ins Innere des Landes?«
»Ja.«
»Sie werden vieles sehen. Fahren Sie in die Oase Zliten. Dort ist das Grab des heiligen Sidi Abdessalam. Oder in die Berge des Dschebels. Dort wohnen Menschen in unterirdischen Höhlen, die dem Gesetz des heiligen Ibad folgen. In den Oasen der Sahara werden Sie neue Brunnen und neue Häuser sehen. Wasser ergießt sich über die Wüste, und sie beginnt zu blühen. Sogar in Dscharabub wurde ein neuer Brunnen gebohrt.«
»Dscharabub?« sagte John. »Von dort bekam ich einst Datteln.«
Der Portier sah ihn verwundert an. Datteln aus Dscharabub waren einst der Tribut der Oase an das Haus Osman. John errötete. »Ich fahre aber nicht nach Dscharabub, ich fahre nach Gadames.«
»Dort wohnt der Stamm der Tarki, und Frauen herrschen dort über die Männer. Früher fuhr man drei Wochen nach Gadames, jetzt drei Tage.«