Kurz ging in den Garten. Auf den Bänken der langen Alleen saßen Melancholiker und stritten über Selbstmord. Kurz lächelte liebenswürdig und verständnisvoll. Er verschrieb den Melancholikern Essigabreibungen und den Nervösen eine moderne Diät. Den Frauen mit Depressionszuständen verschrieb er Unterhaltung und Umgang mit Männern. Er tat es seit Jahren und hatte damit gute Erfahrungen gemacht. Frauen waren wie unmündige Kinder, nur um vieles leichter zu behandeln. Ein erfahrener Nervenarzt hatte da seine Erfahrungen.
Jede Frau konnte man erobern, aber nicht bei jeder verlohnte es sich.
Dr. Kurz beendete den Rundgang und ging in sein Arbeitszimmer. Ja, jede Frau konnte man haben, es war wie eine mathematische Aufgabe, wie eine Gleichung mit wenigen Unbekannten. Kurz setzte sich an den Schreibtisch und sagte ins Telephon:
»Schwester, ich bin jetzt mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt und für niemanden zu sprechen.«
Dann legte er ein Bein über das andere und zündete sich eine Zigarette an. Die wissenschaftliche Arbeit hieß Asiadeh.
Eine schöne Frau — dachte Kurz —, eine begehrenswerte Frau. Er verspürte ein angenehmes Kitzeln in seinen Fingerspitzen. Der Instinkt eines erfahrenen Nervenarztes sagte ihm, daß Hassas Ehe kriselte. Hassa selbst war natürlich ahnungslos, wie immer. Kurz witterte aber die Ehekrisen in den unmerklichsten Erscheinungen des Lebens. In Asiadehs Kopfnicken, im leisen unterdrückten Lächeln, im Beben der Wimpern, in allem merkte Kurz die geheimen Zeichen des seelischen Konfliktes.
Ein anderer Mann? Kurz schüttelte den Kopf. Es gab keinen anderen Mann in Asiadehs Nähe. »Die Frau langweilt sich einfach«, stellte Kurz befriedigt fest, das Leben mit Hassa ist reichlich eintönig. Sie sehnt sich nach einem Abenteuer, aber weiß es noch nicht.
Kurz hob den Hörer des Telephons ab. Achtmal drehte er die Wählscheibe, achtmal lächelte er dem Unsichtbaren zu, der sich im Hörer meldete, und achtmal wiederholte er:
»Verehrter Freund, ich gebe am Samstag eine kleine Gesellschaft. Nichts Besonderes. Hassas werden da sein, und Sachs und Matuschek. Auch die gnädige Frau natürlich. Ja, im Smoking. Ich würde mich sehr freuen.«
Nach dem achten Gespräch waren die Vorarbeiten für die wissenschaftliche Arbeit beendet. Dr. Kurz war außerordentlich zufrieden.
Sonnabend um halb neun Uhr betrat Asiadeh die hell erleuchtete Zimmerflur im Rathausviertel — die Wohnung von Kurz. Hassa schritt neben ihr. Der steife Kragen drückte seinen Hals, und das gestärkte Hemd wölbte sich. Asiadeh sah glattpolierte Möbel und einen geöffneten Schrank mit einer Batterie von Flaschen.
Das große Zimmer war grell erleuchtet. Worte füllten den Raum wie kleine graue Vögel. Blauer Zigarettendampf verschleierte die Gesichter der Gäste und machte sie rätselhaft.
»Einen Cocktail«, rief Kurz, und Hassa nahm das Glas. In den breiten Sesseln saßen geschminkte Frauen mit nackten Schultern und glänzenden Augen. Asiadeh blickte in den Spiegel. Auch sie war geschminkt, und ihre Schultern waren den Blicken der Menschen preisgegeben. Äußerlich unterschied sie nichts mehr von diesen Frauen, die zahlreiche Männer hatten und Cocktail schlürften.
Die Männer standen in dem Raum wie Statuen mit Gläsern in der Hand. Die Worte klangen unwirklich, geisterhaft und fremd. Eine Frau mit strengem Profil und schmerzverzogenen Augenbrauen saß in der Ecke. Sie sprach vom Theater, und ihre Stimme klang wie ein Geheimnis. »Das war zuviel«, sagte sie, »haben Sie die Aufführung gesehen?« — »Nein«, sagte ein junger Mann und machte eine breite Handbewegung, »aber ein Buch ist erschienen. Haben Sie es gelesen?« — »Nein.« Asiadeh wußte nicht, ob sich die beiden miteinander unterhielten.
Die Gäste glichen Anhängern einer unbekannten Sekte. Die Bewegungen hatten ein magisches Gepräge. Lautlos wurden die Gläser geleert, und es war wie ein uraltes Ritual. Die Menschen schwammen im Tabaksqualm wie die Silhouetten eines Schattenspieles. Manchmal verstummten alle und sahen sich an wie Verschwörer bei einer nächtlichen Versammlung.
»Die Börse«, sagte ein Magier mit großer Glatze und hob bedeutungsvoll den Finger, »der Pulsschlag der Wirtschaft, das Barometer des öffentlichen Lebens. So was muß man erlebt haben. In Paris oder in London.«
Er verstummte mit erhobenem Finger. Niemand hörte ihm zu.
»Ja«, sagte Asiadeh schüchtern und ging in die Ecke. Weißbeschürzte Dienstmädchen reichten Sandwichplatten. Die Sandwiches waren bunt und eckig wie ein altes Mosaik. Asiadeh knabberte an einem Sandwich. Ein Arzt neben ihr erzählte von einer Fahrt nach Genf. »Konsilium«, sagte er und blickte siegreich um sich.
»Die Schweiz ist nur im Winter schön«, hauchte jemand. »Kennen Sie Sankt Moritz oder Arosa? Voriges Jahr wohnte ich im Tschuggen-Hotel.«
»Nein«, sagte Asiadeh und schämte sich, daß sie nie im Tschuggen-Hotel gewohnt hatte, »ich fürchte mich vor dem Schnee. Kälte ist der Vorbote des Todes.« Zwei Augen zeigten sich im Tabaksqualm und sahen sie mitleidig an.
Eine ungeheure Kristallschale, mit Bowle gefüllt, wurde hereingebracht. Sie glich einem großen duftenden Bassin. Die Gäste standen um das Bassin wie Schwimmer vor dem Start. In der Hand des Dr. Kurz glitzerte ein Silberlöffel. Die Gesichter der Gäste röteten sich. Die Stimmen wurden lauter.
»Das Problem des Mittelmeeres ist noch lange nicht gelöst«, sagte jemand sehr überheblich.
Ein kleiner Mann putzte sich die Brille und rief herrisch: »Die Frau von heute ist morgen eine Frau von gestern.«
Erschrockenes Lachen ertönte.
Nach dem achten Sandwich erhob sich Asiadeh. Sie ging durch die Zimmerflucht. In den verdunkelten Ecken saßen Männer und Frauen, eng aneinandergeschmiegt. Ein Herr mit zerknülltem Smokinghemd saß auf dem Diwan, und sein Kopf glich einem Spielball. Hassa stand am Ofen eingezwängt zwischen zwei Frauen. Er hielt ein Bowleglas in der Hand und trank Asiadeh zu.
Sie nickte vergnügt. Neben ihr stand Dr. Kurz.
»Wie geht es Ihnen, gnädige Frau?« Er tat so, als ob ihn Asiadeh nie auf dem Semmering sitzengelassen hätte.
»Danke, gut.« Asiadeh dachte an den Semmering und hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Sie ging neben Kurz her und stand plötzlich in einem leeren Zimmer vor einem verwirrenden Gemälde.
»Ein echter van Gogh«, sagte Kurz, »merken Sie den trockenen Rausch der Linien?«
Asiadeh merkte nichts. Sie sah eine Leinwand mit bunten Flecken und nickte ehrfurchtsvoll.
»So werden Sie besser sehen.« Er löschte die Lampen aus. Nur eine kleine Indirekta erleuchtete den Raum. Asiadeh nahm in einem weichen Sessel Platz. Sie hob den Kopf hoch und starrte auf die Leinwand. Das Bild langweilte sie. Das Zimmer war leer, und es roch nach Parfüm. Im Nebenzimmer ertönte das Lachen der Gäste.
»Was machen Sie den ganzen Tag, Asiadeh?« Kurz’ Stimme klang vertraulich.
»Ich lese über Afrika.«
»Über Afrika?« Kurz war sichtlich interessiert. Frauen, die über Afrika lesen, konnten unmöglich eine glückliche Ehe führen.
»Ja«, Asiadeh wurde plötzlich sehr lebhaft, »über die Sahara. Es ist ein seltsames Land. Es muß dort sehr schön sein. Haben Sie schon etwas über Gadames gehört?«
»Nein.« Kurz war aufrichtig erstaunt.
»Es ist eine Oase im Herzen der Sahara, an der heiligen Quelle Ain-ul-Fras. Nur siebentausend Einwohner. Aber sie zerfallen in viele Kasten. In den adligen Ahrar, in die berberischen Hamran, die schwarzen Atara und die Habid, die ehemaligen Sklaven.«
»So«, sagte Kurz, »eine ferne Oase in der Wüste. Davon lesen Sie also. Ob es dort auch Frauen gibt?«
»Ja, es gibt dort Frauen. Sie wohnen auf den Dächern. Alle Dächer sind miteinander verbunden. Kein Mann darf auf das Dach. Keine Frau darf auf die Straße. Zwischen den Dächern und den Straßen liegen Wohnungen. Dort treffen sich die Männer mit den Frauen. Eine seltsame Welt. Manchmal hab’ ich das Gefühl, daß ich dort war.«