»Ich weiß nicht«, sagt Dr. Kurz, »Kollege Hassa hat doch eine schöne Frau.«
»Eine sehr schöne«, bestätigt Dr. Sachs.
»Aber so fremd in ihrem Wesen«, sagt Dr. Kurz. »Ich kann Hassa nicht verstehen. Mit dieser Frau kann man doch über nichts sprechen. Eine Wand! Eine andere Welt! Sagen Sie, was Sie wollen, Kollege, die Asiaten sind doch andere Menschen als wir. Da hilft keine Erziehung, nichts. Habe ich nicht recht? Wenn diese Frau so dasitzt und vor sich hin starrt, habe ich direkt Angst um Hassa. Man kann nie wissen, was aus den Tiefen dieser fremden Mentalität emporbricht. Ebenso könnte man ein Eskimomädchen oder eine Negerin heiraten. Die Frau gehört in den Harem, zu einem Pascha oder zu einem Prinzen. Übrigens, ich habe neulich einen Fall gehabt. Am Semmering. Ein Größenwahnsinniger behauptete, er sei türkischer Prinz. Das wäre was für Frau Dr. Hassa. Hahahaha!«
Dr. Kurz lachte, und vor den Toren von Gadames, draußen, in einem breiten steinigen Feld saß John Rolland und wußte nichts von den Gedanken, die geheimnisvoll um ihn kreisten, von den Menschen, die in fernen Ländern saßen, unsichtbar und rätselhaft mit ihm verbunden.
Er saß auf einem niedrigen Stein. Trostlos und öde zog sich vor ihm das steinige Feld der Sahara. Heißer Wind wehte über das tote Gestein und war wie der glühende Atem eines unsichtbaren Riesen. Vorne erhoben sich die steinernen Götzen von el’Esnam, die geheimnisvolle Pforte der Sahara. Uralt, verwittert, rätselhaft, wie von der Hand eines Zyklopen hingestellt.
Rechts und links zogen sich die armseligen Zelte des Stammes Tarki. Vermummte Männer, rüstig und hager, saßen an den Eingängen der Zelte und blickten mit gleichgültiger Verachtung auf den Fremden. Die durchglühte Erde roch nach Brand. Weit in der Ferne zog zur tunesischen Grenze eine Karawane. Von weitem glichen die Kamele im Winde wehendem Sand. Sie brachten Goldstaub aus Timbuktu, Wohlgerüche von Ghat und Elfenbein und Straußenfedern aus dem fernen Süden.
Ein schlankes Weib, unverschleiert und mit offenem Busen, zeigte sich am Eingang des Zeltes. Sie kam auf Rolland zu. Ihre großen dunklen Augen blickten in die Ferne, in die flache Öde von glühendem Sand und Gestein, sie zog die heiße Luft ein und sagte:
»Schön ist es hier, Fremder. Nirgends auf der Welt ist es so schön.«
»Ja«, sagte Rolland und blickte auf die Frau mit dem braunen Gesicht und dem nackten Busen, »du bist eine Frau aus dem Stamme der Tarki, in dem Frauen über Männer herrschen?«
Die Frau nickte.
»Vor vielen Jahrhunderten«, sagte sie, »gab es in unserem Volke einen Streit zwischen Männern und Frauen. Die Frauen verließen ihre Männer und zogen bewaffnet und mit ihren Kamelen davon. Die Männer verfolgten sie. Es gab eine fürchterliche Schlacht, und in dieser Schlacht haben wir, die Frauen, den Sieg davongetragen. Seitdem gehört uns die Herrschaft über das Volk, und wir haben den Männern zum Zeichen ihrer Knechtschaft den Schleier über das Gesicht geworfen.«
Die Frau schwieg, lächelnd und überlegen. Plötzlich fuhr sie fort.
»So erzählen wir es den Fremden, aber es ist nicht wahr. Es gab keine Schlacht vor vielen hundert Jahren. Es ist gut für den Mann, wenn er im Schutze der Frau steht. Arm und nackt ist der Mann ohne Frau. Haltlos treibt er sich in der Wüste herum. Mordet und stiehlt, und niemand will sein Gesicht sehen. Halt und Heim findet er im Zelte der Frau, deshalb gebührt uns die Ehre.«
»Ja«, sagte John, »arm und nackt ist ein Mann ohne Halt.«
Er erhob sich. Er ging über das steinige Feld, und heißer Wind peitschte seinen Rücken. Er betrat die Oase. Wie Gruften zogen sich die engen Straßen. In wirren Dreiecken erhoben sich die Dächer. Negerfrauen mit drei blauen Streifen an den Schläfen schlüpften vorbei, noch immer gebückt unter dem Zeichen der ehemaligen Sklaverei.
An der viereckigen Quelle Ain-ul-Fras raschelten die Palmen. Ein alter Mann mit greisenhaft tränenden Augen saß an der Wasseruhr.
»Ain-ul-Fras«, sagte er, »heilige Quelle, nach der Stute des Propheten genannt. Seit viertausend Jahren steht die Wasseruhr da, und kein einziges Mal verirrte sich die Zeit.«
John erschauderte. Hier, am Rande der Welt, maß man die Zeit nach Jahrtausenden. Er ging nach Hause, in sein Zimmer. Sam Dooth schlief bereits. Die Schreibmaschine starrte John an wie ein bissiges Ungetüm mit vier Zahnreihen. John entkleidete sich. Es wurde dunkel. Unirdische Stille herrschte in der Oase. John lag im Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Ein Wanderer war er zwischen den Welten, ewig getrieben von der Last seiner Unruhe, wie ein Mann aus dem Volke Tarki, der plündernd und mordend durch die Wüste treibt.
Plötzlich horchte John auf. Zuerst leise, dann immer lauter ertönte von der Wüste her ein unheimliches Tönen. Ein Rauschen und Weinen drang in das Zimmer. Es war, als pochten alle Dämonen der Sahara an die Pforte des Hauses. John richtete sich auf. Das ferne Weinen ging in ein wildes Geheul über.
»Der Rul«, dachte John, der nächtliche Spuk der Wüste, das schreckliche Rascheln der Milliarden von Sandkörnchen, die sich plötzlich abkühlten im nächtlichen kalten Wind. Es wurde ihm unheimlich. Als Kind hatte er von den schrecklichen Dämonen der Wüste gehört. Die Amme hatte es ihm erzählt oder die Mutter — er wußte es nicht mehr.
In alten Zeiten, bevor der Prophet in die Welt kam, herrschten in der Sahara die Götter der Wüste. Als Mohammeds Scharen die Welt bezwangen, vertrieben sie die Götter der Wüste, und die Götter wurden zu Dämonen. Bis Mitternacht herrscht in der Welt des Sandes das Wort des Propheten. Dann aber erheben sich aus den Sanddünen der Wüste die Dämonen der Urzeit. Heulend und weinend schleichen sie durch das Land, überfallen den Fremden, verführen den Wanderer bis zur Stunde des Frühgebetes, das sie in ihre Höhlen zurücktreibt.
John erzitterte. Hastig sprang er aus dem Bett. Er zog sich an. Etwas Unsichtbares, etwas Gewaltiges und Uraltes ergriff ihn, trieb ihn hinaus zu den rätselhaften Stimmen der Nacht. Die Leere des Zimmers war plötzlich drückend.
Er verließ das Haus. Er keuchte. Der Mond erhellte die Palmzweige, und die Schatten waren wie erstarrte Riesen. John lief durch die menschenleere Oase, vorbei an der heiligen Quelle, vorbei an dem Sklavenmarkt mit den vergitterten Zellen.
Plötzlich stand er vor der Wasseruhr. Der Platz vor der Uhr war mondübergossen. Rechts erhob sich die Dschama el-Kabira, die große Moschee. John blieb stehen. Die Stimmen der Dämonen verstummten in der Ferne. Er fuhr mit der Hand über die Stirn. Die Pforte der Moschee stand offen und glich dem Eingang zur Ewigkeit. Er trat ein, von einem unergründlichen dumpfen Drang getrieben.
Das Innere der Moschee war von kleinen Öllampen erhellt. Die Säulengänge glichen erstarrten Sklaven. John erschauderte. Seit jenem Tag, als er der Heimat den Rücken kehrte, hatte er kein Gotteshaus betreten. Er zog die Schuhe aus. Ein alter Mann saß auf einem barbarisch gemusterten Teppich und las den Koran. Im flackernden Lichte der Öllampen glich er einer tänzelnden Mumie. Die Mumie stand auf und verbeugte sich.
»Ich will beten«, sagte John.
Der alte Mann bewegte die eingefallenen Lippen. »Hier«, sagte er und zeigte auf die Kanzel, »das ist die Kibla — die Richtung des Gebetes. Wenn du betest, bete auch ich. Ich bin der Imam dieses Gotteshauses.«
John hörte nicht zu. Er kniete nieder. Alles um ihn war verschwunden, wie versunken im Abgrunde des Vergessens. Seine Stirn berührte den Boden. Die Lippen flüsterten die halb vergessenen Worte. Er betete eine Stunde oder mehr. Die Zeit maß man nach Jahrtausenden. Dann saß er, mit gekreuzten Füßen, auf dem Teppich, die Augen auf das flackernde Licht gerichtet, gedankenlos und seltsam beruhigt, wie aufgelöst in der Stille der alten Moschee.
Der Alte blickte ihn neugierig an. Auch er betete nicht mehr. Das heilige Buch lag auf seinen Knien, aber er las nicht darin.