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»Natürlich«, sagte Asiadeh, denn sie war eine friedliebende Frau, »natürlich, wenn wir Kinder haben…«

Dann kam der Fasching. Der Wirbel der großen Bälle erfaßte Hassa. Er beschaffte sich einen Ballkalender und brütete mit gerunzelter Stirn:

»Der Opern-Ball«, flüsterte er, »der Ball der Stadt Wien«, »das Sankt Gilgener Fest.«

Vor Asiadehs erstaunten Augen entfaltete sich die ganze Pracht der alten Stadt. Sie sah den großen Saal der Oper ohne die gewohnten Stuhlreihen des Parketts und mit Logen, aus denen die Edelsteine auf den Händen der Frauen herausleuchteten. Sie sah die gotische Strenge des Rathauses im festlichen Schmuck der nächtlichen Beleuchtung, sie sah Säle, in denen Kommerzienräte Bauerngewänder trugen und Rechtsanwaltsgattinnen ihre gepflegten Körper in bunte Dirndlkleider eingezwängt hatten. Sie war sehr erstaunt, denn irgendwo herrschten vierzig Grad Hitze, und John Rolland wälzte sich im Staube vor dem Throne Allahs und sprach mit Schriftgelehrten über den heiligen Abdessalam.

Draußen knirschte die Tür. Hassa war aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Er trat ins Zimmer, lächelnd und sichtlich gut gelaunt. Er streichelte Asiadehs Haar. Sie hob den Kopf und blickte in seine Augen.

»Übermorgen ist Gschnas«, sagte Hassa, »wir gehen natürlich hin.«

Asiadeh lachte. Das Wort Gschnas klang wie ein Scherz. »So was gibt es nicht, Hassa, Gschnas ist kein Wort. Das kann man gar nicht aussprechen.«

»Doch, und jeder Mann in Wien spricht es mit Liebe aus.«

»Aber um Gottes willen, was kann das sein?«

Hassa schüttelte lächelnd den Kopf. Seine Frau war eine kleine Wilde. Sie wußte nicht, was Gschnas ist.

»Gschnas ist ein Maskenfest. Halb Wien verkleidet sich an diesem Tage und tobt durch die Säle des Künstlerhauses. Es ist sehr lustig auf dem Gschnas, und die Eheleute dürfen nicht aufeinander eifersüchtig sein. Sonst gibt es immer Krach. Du wirst als Bajadere hingehen und ich als Neandertaler.«

Asiadeh blickte in sein strahlendes Gesicht und lachte.

»Eigentlich brauche ich mich nicht zu verkleiden, Hassa. Ich bin sowieso von früh bis spät verkleidet. Ich trage ein Kleid statt der weiten türkischen Hosen und einen Hut statt des Schleiers. Nein, ich werde bestimmt nicht eifersüchtig sein.«

Hassa saß neben ihr. Er streichelte ihr Gesicht. Seine Hand war warm und weich:

»Wir kommen gut miteinander aus, Asiadeh«, sagte er plötzlich bewegt, »es war ein guter Gedanke, zu heiraten. Fehlt dir nichts bei mir?«

»Nichts, Herr und Gebieter. Du bist ein guter Mann. Es gibt kaum einen besseren.« Asiadeh verstummte; Hassa war immer noch wie eine treue Maschine, deren Mechanismus unklar ist. »Hast du nie Sehnsucht nach Sarajewo, Hassa?«

»Nach Sarajewo? Nein«, Hassa lachte, »dort wohnen Wilde. Ich weiß: wenn du so dasitzt und vor dich hin starrst, denkst du an Moscheen, Springbrunnen und maurische Säulengänge. Aber in den Moscheen muß man auf dem Boden sitzen, das Wasser in den Springbrunnen ist ungenießbar, und in den Arabesken der maurischen Säulen nisten die Skorpione. Ich wäre im Orient auf die Dauer wahnsinnig geworden. Krank und verfallen ist die Welt des Ostens. Ich habe oft an sie gedacht, und ich weiß von ihr mehr, als du glaubst. Es ist dort wie in der Unterwelt. Enge feuchte Gassen, Häuser, in denen kein Mensch wohnen kann, Teppiche mit unzähligen Bazillen. Trachome und Syphilis in den Dörfern. Messerstechereien als Zeitvertreib und das stumpfe tierische Dahindösen im Schatten eines greulichen Kaffeehauses. Alles, was das Leben im Orient erleichtert, stammt aus Europa: die Eisenbahnen, die Krankenhäuser, die Autos. Der Mensch wird seit Urbeginn der Zeiten von der Natur bedroht und kämpft gegen ihre Gewalten. In der Bändigung der Naturkräfte gewinnt er seine Freiheit und seine Sicherheit. In Europa ist die Natur beinahe gebändigt. Auch die Pockenbazillen sind eine Naturkraft, und der Mensch in Europa besiegte sie. Wir siegten über die Kälte, und unsere Wohnungen sind warm, wir siegten über Meere und Flüsse, über Raum und Zeit.

Im Orient ist der Mensch den Elementen ausgeliefert. Ein Windhauch — und ganze Dörfer sterben an Pest. Eine Heuschreckenschar, ein Sandsturm — und ganze Provinzen sind dem Hunger preisgegeben.

Ich weiß: In Istanbul erheben sich am Bosporus die Paläste der Paschas. Aber ganze Stadtteile wurden jährlich durch Brand vernichtet. Denn der Mensch im Orient hat es noch nicht gelernt, über die Natur zu herrschen. Deshalb betet er auch einen Gott an, der nur straft und richtet, aber nicht liebt. Nein, der Orient ist wie ein Inferno. Eine jenseitige Welt, voll Trübsal, Ohnmacht und Schmerz. Ich bin froh, daß ich in einer Welt wohne, die die Natur gebändigt hat…«

Er wollte weitersprechen. Aber da öffnete sich die Tür, der dicke Bariton trat ein und streckte Hassa die Hände entgegen:

»Herr Doktor«, rief er, »ich warte schon seit einer Stunde. Ich habe eine schreckliche Sinusitis. Ich kann das ›m‹ nicht mehr aussprechen, und Sie kuscheln hier mit Ihrer Frau, Sie böser Mensch.«

»Wir werden gleich die Sinusitis bändigen«, rief Hassa. Er sprang auf und lief ins Ordinationszimmer.

Asiadeh blieb allein. Wie dumpfe Hammerschläge klangen Hassas Worte in ihren Ohren. Alles, was er sprach, stimmte. Eine armselige Kreatur war der Mensch im Orient, arm und nackt den Elementen preisgegeben. Und dennoch: alles in Asiadeh sehnte sich nach der stillen Würde des heimatlichen Lebens, nach den armseligen Häusern, nach der Welt der weisen Derwische und der stillen Andacht, nach der Welt, in der es niemand wagen würde, in einen Raum einzudringen, in dem Mann und Frau ins Gespräch vertieft waren.

In Istanbul gingen Verbrecher, die von der Polizei verfolgt wurden, zu ihren Frauen, und die Polizei stand draußen auf der Straße und wagte es nicht, das Gespräch des Mannes mit seiner Frau zu unterbrechen. Hier drang ein fremder Mann in ihr Zimmer ein, und der Mann wies ihn nicht hinaus, sondern ging mit ihm und bändigte die Natur. Es war keine schlechte Welt, die sich hier ausbreitete, es gab vielleicht überhaupt keine guten und keine schlechten Welten. Jede Welt konnte ihre Menschen glücklich machen. Aber alle Welten waren anders, von Urbeginn der Zeiten voneinander getrennt, fest und unverrückbar in ihrer Eigenart verwurzelt.

Vor vielen hundert Jahren ehelichte der Kalif Moawija eine einfache Frau aus der Wüste. Er brachte sie in seine Kalifenstadt Damaskus, und sie gebar ihm einen Thronfolger, den Kalifen Jesid. Als aber der Thronfolger zum erstenmal das Schlachtroß bestieg, kam die Frau zum Kalifen, verbeugte sich vor ihm und bat ihn, sie zu ihrem Stamm in die Wüste zurückzuschicken, denn ihre Pflicht hier in der Stadt sei nunmehr beendet.

»Wir lieben uns«, sagte der Kalif. »Und wir sind glücklich. Du hast einen Sohn, der Thronfolger ist, du hast einen Kalifen zum Mann, du hast Paläste und Diener. Was fehlt dir, warum willst du mich verlassen?«

Da kniete die Frau vor ihrem Mann und sprach ein Gedicht:

»Ein Zelt, durch das der Wind weht, ist mir lieber als der schönste Palast. Ein Stück Brot in der Ecke meines Zeltes schmeckt mir besser als die erlesensten Leckerbissen. Ich sehne mich nach meiner Heimat, und kein Königreich kann sie mir ersetzen.«

Da staunte der Kalif und entließ seine Frau in Ehren.

Jahrhunderte trennten Asiadeh von der Frau und Mutter der alten Kalifen. Aber durch Jahrhunderte zog sich der Reigen, der Tote und Lebende miteinander verbindet.

Ja, Hassa hatte recht. Die Welt des Westens war eine sichere, gute Welt. Hassa könnte in keiner anderen glücklich sein. Asiadeh aber lebte in einer anderen Welt, voll anderer Gefühle und Vorstellungen. Und zwischen den beiden Welten, auf einer schmalen Brücke, die nie errichtet werden könnte, standen John Rolland, der auf sie wartete, und Hassa, den sie nicht verlassen konnte, auch wenn er von der stolzen Welt der gebändigten Natur umschlossen war.

Im Nebenzimmer entließ Hassa den beglückten Sänger. Draußen warteten die Kranken. Sie kamen, saßen im Untersuchungsstuhl und klagten ihr Leid. Hassa schrieb Rezepte und erteilte Ratschläge. Plötzlich merkte er, daß er mitten in einer Gehörprüfung ein leises und vergnügtes Lied surrte. Der schwerhörige Patient hörte nichts, aber die Ordinationsschwester sah ihn erstaunt an, und Hassa wurde rot und verlegen. Das Leben war schön, er war ein tüchtiger Arzt und hatte eine wunderschöne Frau, die er sehr lieb hatte. Er war ein aufmerksamer Mann, der seine Frau nicht vernachlässigte. Die Frau war noch jung und unausgeglichen. Doch hatte er eben erst ein ernstes Gespräch mit ihr geführt. Er hatte sie überzeugt, daß Europa ein schöner Kontinent sei, und sie hatte ihm andächtig zugehört. Das Leben war gut und einfach. Einer klugen Frau konnte man alles erklären, insbesondere die einfache Tatsache, daß eine Welt ohne Pocken besser sei als eine Welt mit Pocken. So sollte eine Ehe geführt werden, dann gäbe es auch keine Überraschungen.