Achmed-Pascha erhob sich. Er verließ das Lokal und ging langsam und gesenkten Hauptes durch die Straßen der fremden Stadt. Die Häuser glichen fremden unbezwingbaren Festungen. Die Menschen eilten vorbei, als wären sie graue Gespenster. Schweigsam ging der Pascha durch die lärmende Stadt und hörte nichts von ihren Geräuschen. »Ich werde Kartoffeln kaufen«, dachte er. »Und Tomaten dazu. Ich werde sie zusammenmischen. Das ergibt einen guten Brei.«
Am Wittenbergplatz blieb er stehen. Die Fassade des großen Kaufhauses war von schrägen Sonnenstrahlen übergossen. Der Pascha sah fremde Frauen mit schimmernden Seidenstrümpfen. Asiadeh hatte keine Seidenstrümpfe. Die Frauen gingen vorbei mit abwesenden und leeren Augen. Plötzlich beschleunigte der Pascha seinen Schritt und bog in eine Seitenstraße ein. Über die Tauentzienstraße ging ein dicker braungebrannter Mann mit einem fetten Nacken. Achmed-Pascha blickte weg mit verzweifelten und müden Augen. Es war bitter, daß ein kaiserlicher Minister in die Seitengasse biegen mußte, weil er einem reichen Landsmann fünfzig Mark schuldig war. Ihn erfaßte ein schmerzlicher Wunsch zu raufen, um sich zu hauen und zu kämpfen. Er sehnte sich nach einer dunklen Straße und nach einem fremden Mann, der ihn plötzlich stoßen würde, um darauf eine Ohrfeige zu erhalten. Aber die Straßen waren hell, die Menschen traten höflich und teilnahmslos zur Seite, und er kaufte Kartoffeln, Tomaten und Rettich. Dann ging er nach Hause zu dem vierstöckigen Haus mit der ehrbaren grünlich-saubern Fassade und der Marmortür mit der Aufschrift »Eingang nur für Herrschaften«. Er mied den vornehmen Eingang und benutzte die kleine Tür, die schlundartig neben der Marmorpracht des Haupteinganges gähnte. Er durchschritt den viereckigen Hof mit den schwindsüchtigen Bäumen und blieb an der abgebrochenen Türklinke seiner Wohnung stehen. Er öffnete sie und betrat den Korridor, der zum Wohnzimmer führte. Asiadeh saß auf dem Diwan, hielt einen Zwirn zwischen den Zähnen und stopfte hingebungsvoll einen Strumpf. Auf dem Stuhl vor ihr lag ein ausgebreitetes Buch, und sie surrte unverständliche barbarische Sätze.
Achmed-Pascha schüttete Tomaten und Kartoffeln auf den Tisch aus, Asiadeh sah die roten, runden Kugeln, die sich mit den braunen nach Erde riechenden Klumpen vermischten, und klatschte in die Hände vor Vergnügen, Übermut und unerklärlichem Glücksgefühl.
3
Die Mensa glich dem Wartesaal eines Provinzbahnhofs. An langen ungedeckten Tischen saßen in dichten Reihen die Studenten und aßen eilig und unwählerisch die Speisen, die ein hünenhafter Mann mit akrobatischer Kunstfertigkeit zu servieren verstand. Links, etwas oberhalb des Büfetts, hing ein schwarzes Brett, auf dem mit Kreide die Speisekarte eingetragen war. Die Karte wirkte verwirrend durch die niedrigen Preise und den feierlichen Klang der Speisenamen.
Asiadeh verfolgte angestrengt die Reihenfolge der Speisen und zögerte lange in der Wahl zwischen einem Königsberger Klops und einem Pfirsich-Melba. Endlich siegte der Hunger über die Naschsucht, Asiadeh schob dem Ober 25 Pfennige zu und erhielt einen Teller mit einem mächtigen säuerlich duftenden Fleischkloß. Vorsichtig balancierte sie den Teller zum Tisch, setzte sich hin und atmete zufrieden den säuerlichen Duft ein.
»Schon gesund, Fräulein Anbari?« Sie hob den Kopf. Dr. Hassa stand vor ihr und blickte auf ihren Teller.
»Seit wann besuchen Ärzte die Mensa?« fragte Asiadeh und war sehr zufrieden, endlich einen Menschen zu sprechen, der weder Türke noch Turkologe war.
»Ärzte ohne Praxis gelten immer als Studenten«, sagte Hassa und setzte sich an den Tisch. »Sie sind Türkin, nicht wahr? Ich wußte nicht, daß es blonde Türkinnen gibt.«
Asiadeh sah ihn erstaunt an. Es gab also Menschen, die nicht wußten, daß die hellen Augen der Istanbuler Prinzessinnen von Tibet bis zum Balkan berühmt waren.
»Es kommt vor«, sagte sie bescheiden und bohrte mit der Gabel in der dampfenden Fleischspeise. »Sie sind kein Deutscher, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?«
Asiadeh lachte zufrieden. »Ich bin zwar nur eine Turkologin, kenne mich aber in Dialekten aus. Außerdem ist Hassa kein deutscher Name.«
Der Arzt nippte an einem Glas Bier und sah Asiadeh mit seinen schräggestellten schwarzen Augen an. Sein Blick streifte die kindlichen Linien ihres Körpers und die weichen Falten der Lippen. Er sah die leicht verschleierten grauen Augen, und in seinen Gedanken stiegen dunkle Vorstellungen auf von geheimnisvollen, verschleierten Frauen, von Harems mit marmornen Springbrunnen und bösartigen Eunuchen, die infolge eines geglückten chirurgischen Eingriffs bei den Völkern Asiens eine bedeutende, doch nicht ganz klare Rolle spielten. Er verspürte plötzlich den Wunsch, dieses Kind aus Tausendundeiner Nacht an sich zu reißen und seine Knie berührten unter dem Tisch vorsichtig ihre schmalen Schenkel. Das asiatische Kind sah ihn bösartig an und sagte:
»Wenn Sie zudringlich werden, sperre ich den Mund auf und sage ›a‹. Dann bin ich Ihre Patientin, und Sie sind an weiteren Gefühlsausbrüchen durch Ihre Ärzteethik gehindert.«
Das Kind war offensichtlich gar kein Kind mehr oder ein sehr kluges Kind. Hassa leerte hastig sein Glas.
»Ich bin Österreicher«, teilte er gnädig mit. »Kennen Sie Wien?«
Die Nennung der Kaiserstadt übte auf Asiadeh keinerlei nennenswerte Wirkung aus. Sie führte das letzte Stück Fleisch zum Munde, blickte etwas traurig auf den geleerten Teller, und ihre Mundwinkel zogen sich verächtlich herab.
»Kennen Sie Kara-Mustafa? Den, der Wien unter Suleiman dem Glänzenden belagert hat? Na, also er war mein Ahne. Hätte er gesiegt, würde ich Sie vielleicht zu meinem Leibarzt ernennen.«
Das stimmte zwar nicht ganz. Der grimmige Kara-Mustafa war kaum mit dem Hause Anbari verwandt. Auf den Wiener aber übte die Mitteilung die gebührende Wirkung aus.
»Verbindlichen Dank, Prinzessin«, sagte er galant. »Darf ich Sie Prinzessin nennen?«
»Nein«, sagte das Mädchen. »Nennen Sie mich nicht Prinzessin.« Sie wurde traurig und dachte an den Prinzen Abdul-Kerim, den sie nie gesehen hatte und der ihr Mann werden sollte. Abdul-Kerim war nach Amerika ausgewandert. Niemand hatte seitdem etwas von ihm gehört. Wahrscheinlich war er Kellner geworden.
Dr. Hassa bemerkte die Trauer im Gesicht des Mädchens. Er stürzte zum Büfett und holte einen schokoladenübergossenen mit Schlagsahne gefüllten Mohrenkopf. Asiadeh sah ihn nachsichtig an und aß den Mohrenkopf. Die weiße, klebrige Masse bedeckte ihre Lippen, und sie leckte sie mit spitzer Zunge ab.
»Ich bin Wiener«, wiederholte Hassa mit Nachdruck, denn er war verletzt, daß diese Mitteilung auf das fremde Mädchen keinerlei Eindruck machte. »Ich habe meinen Doktor in Wien gemacht und habe je ein Semester in Paris und London verbracht zur weiteren Ausbildung. In Berlin bin ich bis Ende des Semesters, dann lasse ich mich in Wien endgültig nieder.«
Auch das war nicht die reine Wahrheit, aber die reine Wahrheit war so tief in Hassas Seele verborgen, daß es keinen Sinn hatte, sie plötzlich ans Licht zu zerren. Denn natürlich war es sinnlos, daß ein approbierter Wiener Arzt durch die Welt gondelte und Gastvorstellungen an verschiedenen Kliniken gab. Wenn aber Asiadeh danach fragen würde, hätte sie von dem gelehrten Eifer und den wissenschaftlichen Interessen des Dr. Hassa erfahren. Vielleicht hätte er ihr sogar mitgeteilt, daß er hauptsächlich deshalb nach Berlin gekommen war, um die neuen Errungenschaften der Oto- und Rhinoplastik zu verfolgen. Bestimmt hätte er aber von dem Skandal mit Marion geschwiegen und von Fritz, mit dem sie den ganzen Sommer im Salzkammergut… aber genug davon. Es ging ja schließlich niemanden was an und war längst vorbei. Er beugte den Kopf und sah lächelnd zu Asiadeh herab.
»Ja«, sagte Asiadeh, ohne die Reden Hassas zu beachten. »Ich bin schon vier Jahre in Berlin. Wir verließen Istanbul nach dem Umsturz. Es ist alles etwas seltsam. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und bereits verschleiert. Ich konnte mich zuerst gar nicht daran gewöhnen, allein und ohne Schleier durch die Straßen zu gehen. Jetzt gefällt es mir ganz gut. Aber eine Schande ist es doch. Ich habe zu Hause Musik und Sprachen gelernt. Und jetzt lerne ich die Sprachen meiner wilden Ahnen. Wissen Sie, das bindet mich an die Heimat. Sie verstehen das doch?«