So dachte Hassa, und ein paar Häuser weiter, im massiven Gebäude am Karlsplatz, schleppten gebückte Arbeiter schwere Holzbretter. Der Boden wurde gescheuert und gewaschen. Kellner, mit Gesichtern, die noch einen privaten Ausdruck hatten, stellten die Tische auf. Die Mechaniker prüften die elektrischen Drähte. Ein dicker Mann hantierte an einer dicken Kaffeemaschine, das große Künstlerhaus, die Säle, Gänge, Nischen bedeckten sich mit Plakaten, Aufschriften und Zeichnungen. Hagere Jünglinge mit langen Haaren fuhren mit Kohlestiften über mächtige Papierbogen. Schanktische wurden aufgestellt und Batterien von Weinflaschen hineingetragen. Im Büro läutete ununterbrochen das Telephon. Herren mit zerknüllten Gesichtern sprachen mit heiseren Stimmen auf den Direktor ein und verlangten Pressekarten. Die Polizei durchschritt die Säle und prüfte die Plakate, Tische und Buden auf Feuergefahr. Das große Haus führte ein eigenartiges und wirres Dasein: Die Vorbereitungen zum Gschnas waren im vollen Gange…
25
Über die hell erleuchtete Treppe strömten Harlekine, Zigeuner, Bajaderen und Ritter. Die bemalten Gesichter waren von einer maskenartigen Fröhlichkeit, und die gewölbten Frackhemden glichen Pinguinbrüsten. Aus dem Halbdunkel der Nischen kamen lärmendes Lachen und unterdrücktes Kichern. Ein Mann mit einem Dreimaster auf dem breiten Schädel stand in der Mitte des Saales mit gekreuzten Armen und siegreich erstarrtem Gesicht.
Frauen in weiten Hosen und bunten Röcken tanzten mit mittelalterlichen Alchimisten und russischen Bojaren. Eigenbrötlerische Einzelgänger mit angeklebten Nasen wanderten durch die Säle mit steifer Verachtung in den Augen. Auf langen Bänken saßen buntbekleidete Menschen und wischten den Schweiß von den erhitzten Stirnen. Ein Photograph stand an der Tür seiner hell erleuchteten Nische und fing mit seiner Linse die Harlekine, Ritter und Bojaren ein.
In buntem Wirrwarr ergoß sich die Menge durch das Haus. Der große Saal glich dem Schauplatz eines bacchantischen Spiels. Es war, als ob die Menschen, vom plötzlichen Trieb ergriffen, zusammen mit ihren alten Gewändern auch ihre Gebärden, Gewohnheiten und Gedanken abgestreift hätten. Unterdrückte Träume, schamhaft verborgene Vorstellungen offenbarten sich in der sorgsamen Wahl der Gewänder. Die Menschen gingen für eine Nacht in ihre Träume über, und diese leibhaft gewordenen Träume wanderten durch die Säle als Napoleon, Bojar oder Feuerwehrmann.
Ein geheimnisvolles magisches Spiel war im Gange. Wie vom Zauberstabe der Zauberin Circe berührt, verwandelten sich die Menschen in geisterhafte Phantasien, die zu verwirklichen ihnen der Lauf ihres Alltags verwehrt hatte. In dieser einen Nacht konnte, einer gnadenhaften Eingebung folgend, sich ein Anwalt in einen Zigeuner verwandeln und ein Apotheker in einen Raubritter. Die lässig abgestreifte Seele hing gemeinsam mit dem alltäglichen Mantel in der Garderobe, und der Saal war von erhitzten Menschen erfüllt, die für kurze Stunden Urlaub vom Schicksal genommen hatten und sich in wilder Gier in den Ozean des fleischgewordenen Traumes stürzten.
Asiadeh saß am engen Tisch zwischen einem schweigsam dahinbrütenden Harlekin und einem französischen Marquis mit gepuderter Perücke und langer schnuppernder Nase. Sie trug ein Zigeunerkleid, und goldene Münzen klapperten an ihrer Stirn.
Hassa war verschwunden. Nur hin und wieder erblickte sie in der Menge seine hohe spitze Alchimistenmütze. Einmal tauchte sein lächelndes Gesicht in ihrer Nähe auf Zwei Frauen hingen an seinen Armen, er blickte Asiadeh an, und sie hatte das bestimmte Gefühl, daß er sie gar nicht erkannte. Hinter ihm lief im Gewande eines chinesischen Mandarins der Chirurg Matthes und trug eine Sektflasche unter dem Arm. Er winkte Asiadeh zu und rief lallend, daß er Li Tai-pe heiße und sich amüsieren wolle.
Asiadeh lachte, und der Harlekin legte seine Hand um ihre Schulter. Sie schob ihn sanft weg und gelangte in die Umarmungen des Marquis, der ihr einen Sliwowitz anbot und an ihrem Rücken schnupperte. Sie klapperte ablehnend mit den Münzen und streckte ihm die Zunge heraus. Die Gebote der Sittsamkeit waren für diese Nacht ausdrücklich aufgehoben.
Sie stand auf und ging wiegenden Schrittes durch die Räume. Menschen, die aus sich selbst herausgeschlüpft waren, strahlten im Taumel ihrer erfüllten Wünsche. Sie sah einen hageren Mann im wallenden Gewand eines alten Paschas. Sie blinzelte ihm zu, und er ergriff ihre Hände und schleppte sie zum Tanz. Sie tanzte mit ihm und rückte seinen verrutschten Turban zurecht: »So trägt man das«, erklärte sie streng, und der Pascha sagte, daß er sie in seinen Harem aufnehmen wolle und zum Sekt einlade.
»Ich bin bereits in einem Harem«, lachte Asiadeh und knabberte an etwas Süßem.
»Ich werde Sie Ihrem Besitzer abkaufen. Wir Paschas sind gewohnt, Frauen zu kaufen.«
»Ich bin ausverkauft«, sagte Asiadeh und ließ den Pascha stehen. Sie ging zum Schanktisch und bestellte einen Mokka. Die bunten Farben des Saales verwirrten sie. Sie sprach mit fremden Menschen, und ein lyrisch aussehender Jüngling streichelte ihre Hand. Männer standen um sie herum mit werbenden, befehlenden und bittenden Augen. Sie sah in den festlich erleuchteten Raum, und wie im plötzlichen Wachtraum schien sie den verborgenen magischen Sinn der Geschehnisse zu erfassen. Traum und Wirklichkeit gingen hier geheimnisvoll ineinander über. Die Grenzen des äußeren Lebens waren plötzlich verschoben, wie in einem heidnischen Mysterium. Die innere Wahrheit der nie zu bändigenden Natur grinste sie siegreich an im jubelnden Triumph über die armseligen Jahrtausende, die ihrer Bändigung gewidmet waren. Aus den Schlupfwinkeln des Alltags erhob sich die gebändigte Seele und überrannte in jähem Ansturm alle Barrieren und Schranken der äußeren Welt…
Ein Pierrot mit weißgepudertem Gesicht ergriff Asiadeh. Er führte sie in eine Nische und hatte die bittenden und erschrockenen Augen eines Menschen, der aus einem bösen Traum erwacht ist und die Wirklichkeit noch nicht erfaßt hat: »Ich habe eine Frau, die ich nicht mehr liebe«, sagte er und nahm Asiadeh an der Hand. Dann lachte er, und Asiadeh streichelte sein gepudertes Gesicht und erzählte ihm von Hassa, von ihrem Vater und von der Wohnung am Ring.
Plötzlich war der Pierrot verschwunden, vielleicht war er auch nie dagewesen, und Asiadeh sah Hassa in Alchimistentracht, breit grinsend und von Frauen umgeben. Er trat auf sie zu, umarmte sie und führte sie zum Tanz.
»Bist du böse? Langweilst du dich?«
Er sprach wie aus dem Traum.
»Nein, es ist sehr schön hier. Es soll immer so sein.«
Sie tanzten, und der französische Marquis schnupperte an ihnen vorbei. Später saß Hassa auf einer Bank und las einer schlanken Frau aus der Hand.
Asiadeh ging die Treppe hinunter. Eine Schar junger Frauen umgab den Polizisten an der Eingangstür. Der Polizist hatte ein würdiges Amtsgesicht. Seine blauen Augen betrachteten das heidnische Mysterium mit der ruhigen Gelassenheit eines Machtvollkommenen. Asiadeh berührte den Arm des Polizisten. Der Polizist war ganz echt und gar nicht verkleidet. Er glich einem Spalt in der Welt, die jenseits des Hauses begann und Wirklichkeit hieß. Eine Bewegung seiner Hand, eine kurze Geste, und der nächtliche Spuk der befreiten Seele verwandelte sich in die gebändigte Ruhe des Alltags…