Asiadeh ging heim. Hassa saß im Wartezimmer und blätterte in alten Zeitschriften.
»Hassa, mach dir für morgen keine Sorgen«, Asiadeh sprach kleinlaut, »ich habe mich genau unterrichtet. Zuerst reiche ich dir einen Politzer und nachher einen Gottsteinischen Messer mit einem Beckmannischen Knick.«
»Ganz und gar falsch«, lachte Hassa, »genau umgekehrt. Aber ich habe bereits Vorsorge getroffen. Kurz schickt mir eine erfahrene Schwester. Er ist wirklich ein treuer Freund. Gehen wir abends ins Kino, Asiadeh? Du kannst ja nichts dafür, daß dir diese Arbeit nicht bekommt. Obwohl du dich damals, bei dem Derwisch, ganz gut gehalten hast.«
Hassa sprach verschämt und blickte zur Seite. Es tat ihm schrecklich leid, daß Asiadeh keine Rhinophyma sehen konnte und die Instrumente verwechselte.
»Ja, der Derwisch.« Einen Augenblick lang blitzten Asiadehs Augen auf. Hassa war wieder ein großer Zauberer, Herr über Leben und Tod, der den heiligen Mann gerettet hatte.
»Ja, der Derwisch«, wiederholte sie, und ihre Stimme wurde kalt, »bei dem Derwisch war es etwas anderes, Hassa. Der Derwisch war ein heiliger Mann, dem ich helfen mußte. Und hier sind es Greise mit ekelerregenden Geschwüren. Ich muß mich jetzt umziehen, Hassa.«
Hassa nickte traurig. Asiadeh ging ins Ankleidezimmer. Sie setzte sich auf einen niedrigen Hocker, und ihr Gesicht wurde starr. Müde fuhr sie mit der Hand über die Stirn. Es war schwer, ein Luxusweibchen zu sein, das unfähig ist, ihrem Manne zu helfen. Es war sehr schwer, Übelkeit aufsteigen zu lassen, anstatt dem Mann die richtigen Instrumente zu reichen und das Lächeln in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Sie seufzte. Marion mußte sie für eine Wahnsinnige halten. Aber es war gleichgültig. Das Ziel war vorgeschrieben.
Asiadeh warf den Kopf zurück und lächelte. Nein, Hassa durfte ihretwegen nicht traurig sein. Sie würde für alles sorgen.
Sie schloß die Augen und faltete die Hände. Ihre Lippen bewegten sich. Wenn Hassa jetzt ins Zimmer gekommen wäre, hätte er gesehen, daß sie betete.
Der nächste Tag kam. Traumverloren ging Asiadeh durch die Wohnung. Um halb zehn Uhr erschien die neue Schwester. Eine dicke Frau in weißer Haube. Hassa führte sie in das Ordinationsraum. Asiadeh schlich hinterher und hörte gespannt zu.
»Es ist eine Kleinigkeit«, sagte Hassa, »eine adenoide Vegetation bei einer jungen Dame. Ganz einfache Rauschnarkose. Später eine leichte Septumresektion, linksseitig, bei einer Schauspielerin. Mit Injektion. Sie kennen sich doch aus, Schwester?«
»Natürlich kenne ich mich aus, Herr Doktor«, sagte die Schwester mit tiefer Stimme.
Es wurde zehn Uhr. Die Patientin kam. Asiadeh blickte verstohlen ins Wartezimmer. Es war eine schlanke Blondine. Eine ältere Frau, wahrscheinlich ihre Mutter, begleitete sie.
»Es wird gar nicht weh tun«, hörte Asiadeh Hassas Stimme, »Sie werden schlafen.«
Die Kranke antwortete etwas. Ihre Stimme klang leise.
Asiadeh schlich sich in den Salon. Sie hörte Schritte im Ordinationsraum.
»Setzen Sie sich… so… Die Maske, Schwester! Zählen Sie: eins… zwei… drei… vier…«
Hassas Stimme wurde ganz leise. Jetzt klapperten die Instrumente. »Sie schläft«, sagte die Schwester. Asiadeh horchte. Sekunden verstrichen. Plötzlich ertönte ein würgender Schrei. Dann lautes Schluchzen.
Asiadeh zuckte zusammen. Hassa rückte den Stuhl weg. Das Schluchzen hörte nicht auf. Plötzlich kam Hassa in den Salon. Seine Augen waren ganz schräg.
»Schicke nach etwas Eis, Asiadeh. Die Kleine soll Eis schlukken. Sie wachte zu früh auf. Die Schwester gab zu wenig Narkose. Es ist ja kein Unglück, aber es gehört sich nicht.«
Asiadeh nickte. Sie lief selbst nach Eis und tröstete die schluchzende Kranke. Das Mädchen schluckte Eis. Sie war höchstens achtzehn Jahre alt und auf Schmerz nicht vorbereitet. Erschrocken blickte sie auf Asiadeh und ahnte nichts von dem traumhaften Reigen des Schicksals, mit dem auch sie geheimnisvoll verkettet war.
Die robuste Schwester brachte das Zimmer in Ordnung. In der Metallwanne kochten die Instrumente.
»Sie verstehen, Schwester, eine Septumresektion. Linksseitig. Sie müssen hämmern. Sie kennen sich doch aus?«
»Natürlich kenne ich mich aus, Herr Doktor.«
Es läutete. Asiadeh öffnete selbst. Die Schauspielerin war dunkelhaarig und trug einen Nerzmantel. Asiadeh führte sie ins Wartezimmer. Aus dem Ordinationsraum erklang unterdrücktes Flüstern. Offensichtlich war noch nicht alles bereitgestellt.
»Sie sind Frau Dr. Hassa?« hauchte die Schauspielerin. Ihre Hände zerfetzten eine alte Zeitschrift auf dem Tisch. »Ihr Mann soll mich in der Nase operieren. Nein, leider keine Polypen. Das wäre ja eine Kleinigkeit. Einer Freundin von mir hat Ihr Mann Polypen entfernt. Sie war sehr zufrieden. Sie hat nichts gespürt. Bei mir ist etwas mit dem Knochen nicht in Ordnung. Es stört beim Sprechen.«
Sie verstummte. Es war ein Viertel eins. Im Ordinationszimmer klang noch immer unterdrücktes Flüstern.
»Ich bin überzeugt, daß mein Mann es sehr gut machen wird«, sagte Asiadeh. Die Schauspielerin tat ihr leid.
»Hoffentlich«, sie blickte ängstlich vor sich hin, »warum dauert es so lange? Ihr Mann sagte Punkt zwölf. Ich habe gar keine Begleitperson mitgebracht. Ihr Mann sagte, es sei nicht nötig. Ich kann gleich nach Hause gehen.«
»Ja, natürlich«, nickte Asiadeh.
Die Tür ins Ordinationszimmer öffnete sich. Hassa erschien. Hinter ihm die Schwester. Asiadeh verspürte plötzlich heftige Gewissensbisse, als wenn sie für das Schicksal der Schauspielerin verantwortlich wäre. Sie zupfte leise an Hassas Arm.
»Hassa«, sagte sie, »die Schwester scheint nicht viel zu taugen. Darf ich dabei sein, Hassa? Vielleicht kann ich helfen. Ich werde bestimmt nicht ohnmächtig.«
Hassa nickte. Asiadeh streifte den weißen Kittel über. Die Schauspielerin saß im Operationssessel, den Kopf leicht nach hinten gebeugt. Ihre schmalen Nasenflügel zitterten. Hassa saß vor ihr. Das Licht des Reflektors fiel auf ihr Gesicht.
»Es wird doch nicht schlimm sein?« fragte sie.
»Nein, gar nicht«, sagte Hassa.
Er legte seine Hand auf ihre Stirn. Mit dem Daumen hob er ihre Nasenspitze in die Höhe. Die Schauspielerin hatte ein erschrockenes Gesicht. Asiadeh stand daneben. Sie sah, wie die Schwester die Injektionsnadel reichte und dachte an den Derwisch, der einst ebenso vor ihr saß und von Hassa gerettet wurde.
Hassa arbeitete schweigsam und still. Die Schauspielerin saß regungslos, mit bebenden Lippen.
»So«, sagte Hassa, »den Meißel, bitte.«
Die Schwester reichte den Meißel. Asiadehs Mund stand offen. In der Hand der Schwester blitzte ein kleiner Hammer auf.
»Jetzt«, sagte Hassa. Die Schwester schlug mit dem Hammer auf den Meißel.
»Au!« sagte die Kranke und rückte den Kopf zur Seite. In ihren Augen zeigte sich Schmerz.
Hassa hob den Kopf. Sein Gesicht wurde rot vor Ärger.
»Aber Schwester, was tun Sie denn, Sie haben gar nicht getroffen!«
Der Hammer schlug von neuem an.
»Au-au! Au!« Der Kopf der Schauspielerin war ganz nach hinten gerückt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ergriff Hassas Hand.
»Genug, Doktor«, flüsterte sie, »ich kann nicht mehr.«
Hassa biß die Zähne zusammen. Schweiß rann von seiner Stirn. »Schwester, Sie haben immer noch nicht getroffen.«
Er zischte. Asiadeh ergriff den Kopf der Kranken. Sie beugte sich zu ihr nieder.
»Es ist gleich vorbei«, flüsterte sie, »haben Sie nur etwas Geduld. Sitzen Sie ruhig.« Sie küßte rasch die Stirn der Frau. Dann stand sie hinter dem Stuhl. Ihre Hände umklammerten den fremden Kopf.
Endlich — beim drittenmal — fiel der Hammer auf den Meißel. Tränen flossen über das Gesicht der Kranken.
»Fertig, Gaze, Schwester.«
Hassa stand auf. Sein Gesicht war ganz rot. »Wie bei einem Dorfarzt«, dachte er verbittert. Die Schauspielerin weinte. Asiadeh saß neben ihr und trocknete die Tränen.