Sie öffnete hastig die Schranktür. Eine dunkle, kühle Höhle starrte ihr entgegen. Kleider hingen in Reih und Glied und glichen Soldaten auf einer Parade. Asiadehs Hände berührten die bunten Fetzen. Jedes Kleid hatte einmal ihren Körper umhüllt, und an jedem Kleid war ein Stück ihres Daseins haftengeblieben. Als stumme Wache standen die Kleider am Weg ihres Lebens. Hier, an diesem bunten Stück Seide schlug ihr Herz, als sie mit Hassa zum Stölpchensee fuhr und er ihr einen Badeanzug kaufte. Das sommerliche Nachmittagskleid daneben barg die Erinnerung an einen Fünf-Uhr-Tee auf dem Semmering, an einen Autozusammenstoß und an einen fremden Mann, dem sie eine zerrissene Dollarnote ins Gesicht geworfen hatte. In der wirren Buntheit der Kleider las Asiadeh die Geschichte ihres Lebens. Das blaue Kostüm, das sie in Sarajewo trug, hatte noch den Geruch des Orients in seinen Falten bewahrt. Daneben zerknüllt und bunt — das Zigeunergewand vom Gschnas. Und ganz vorn — unberührt und jungfräulich — das weißseidene Abendkleid ohne Rücken und ohne Ärmel. Ein Ballkleid — schillernd und nie getragen, für die Prunksäle der Hofburg bestimmt.
Asiadeh schob das Kleid zur Seite. Es war die Uniform für eine Schlacht, aber zum Angriff war noch nicht geblasen. Ihr Blick fiel auf ein einfaches dunkles Kostüm. Es hing ganz hinten.
Liebevoll berührte sie den einfachen Stoff. Sie hatte es in den langen Bibliotheksstunden getragen, als sie die Geheimnisse der fremden Laute erschloß und Hassa an der Ecke im Auto saß und auf sie wartete. Asiadeh schob ihre Hand in die Brusttasche des Kostüms. Ein zerknüllter Papierfetzen kam zum Vorschein. Asiadeh betrachtete ihn verwundert. Sie hatte keine Ahnung mehr, wann sie dieses Papier in die Tasche geschoben hatte. Sie entfaltete es und las bestürzt:
»Was man dir bietet, kommt und geht. Nur das beglückende Wissen bleibt. Alles, was die Welt enthält, endet und schwindet. Nur das Geschriebene steht fest, alles andere fließt dahin.«
Sie errötete heftig. Sie entsann sich genau der stillen Bibliothek und des aufgeregten Mädchens, das das Buch vom »Beglückenden Wissen« aufgeschlagen und in den verschnörkelten Linien der alten Schrift das Geheimnis ihres Lebens zu enträtseln versucht hatte. Sie legte das Papier behutsam zurück. Es war kaum noch zu glauben, daß sie selbst das aufgeregte Mädchen war. Sie schloß den Schrank. Ein alter persischer Spruch fiel ihr ein. Sie ging in das Badezimmer, aber der Spruch ging mit. Sie stieg mit ihm in das weiche duftende Wasser, und er begleitete sie zum Ankleidezimmer, zum Toilettentisch und zum Frühstück. Traurig und gedankenverloren wiederholte sie:
»Nur die Schlangen streifen ihre Haut ab, damit die Seele erblüht und altert. Wir Menschen ähneln nicht den Schlangen. Wir streifen die Seele ab und behalten die Haut.«
Stunden vergingen wie Perlen an einem Rosenkranz. Um halb zwei Uhr kam Hassa. Er brachte Orchideen mit, die bunten kriechenden Schlangen glichen. »Für heute abend«, sagte er und überreichte die Orchideen Asiadeh.
Sie aßen zu Mittag. Hassa löffelte die Suppe und sprach von Rehrücken in Rahmsauce und von Italien, wohin er im Frühjahr mit Asiadeh reisen wollte.
»Es wird sehr schön sein«, sagte er und Asiadeh nickte.
»Ja, es wird sehr schön sein.«
Plötzlich legte Hassa den Löffel weg.
»Freust du dich auf deine Landsleute auf dem Ball?«
Asiadeh schlug die Augen auf. Hassas Gesicht war verdächtig harmlos.
»Natürlich, Hassa, sehr!«
»Ich weiß schon«, lachte Hassa, »du wirst den ganzen Abend türkisch sprechen, und ich werde kein Wort verstehen und einsam sein.« Hassa sprach, und seine Augen blickten fromm zur Decke empor. »Ich meine nur… so ein Fest ist immer so steif.
Wenn du mit deinen Türken zusammen sein willst, was soll dann ich tun? Kurz wird übrigens auch da sein. Hättest du was dagegen, wenn er, hmhm, ich meine, wenn er Marion mitbrächte? Natürlich nur, wenn es dir angenehm ist.«
Hassa sprach hastig und blickte immer noch zur Decke empor. Er wußte selbst nicht, daß er rot wurde.
»Aber natürlich, Hassa. Die arme Marion! Sie hat so wenig vom Leben. Sie soll mit Kurz kommen.«
Asiadeh blickte zum Fenster. In ihren Ohren erklang der Laut der Trompete, die zur Attacke blies.
Der Abend kam. Die große Burgfassade erglänzte im Licht der Scheinwerfer. Die Muskeln der steinernen Titanen an der Fassade badeten im grellen Licht. Festlich und stolz blickte die Burg auf den lichtübergossenen Platz. Sie war alt und abgeklärt. In ihren Sälen entschieden sich einst die Schicksale von Staaten, Völkern und Geschlechtern. Alte Schatten vergangener Tage fielen über ihre Stiegen. Einst sah sie Feste, würdige Empfänge und geheime Kabinettssitzungen, einst spiegelten sich in ihren Wandspiegeln die Umrisse von Prinzen und Höflingen. Die Gegenwart war ihr fremd, und gleichgültig blickte sie auf die lackierten Kästen, die zum mächtigen Portal hineinfuhren, auf die Menschen, die unten auf dem Platz standen und die Gesichter zu ihr emporhoben. Sie wunderte sich über nichts, sie dachte an nichts. Sie träumte. Und aus ihren Träumen stiegen verborgene Geheimnisse auf, Schicksale und Taten blitzten auf. Wogenartig rollten die Geschehnisse ab, wie in einem gleichnishaften magischen Reigen. Traumverloren und gelangweilt strahlte die Burg über den Platz. Gleichgültig blickte sie auf Marion, die, in Pelz gehüllt, neben Kurz dahinschritt, gleichgültig blickte sie auf Asiadeh, auf Hassa, auf die beiden Fremden im Frack, auf die flache und fremde Welt, die sich unter ihren Füßen ausbreitete und zu ihr emporstrebte.
Über die breite Freitreppe strömten die Gäste. Lakaien in alter Hoftracht standen auf den Stufen mit versteinerten und traurigen Gesichtern. Durch das marmorne Foyer schritten befrackte Lebemänner und Würdenträger mit vollem Ordensschmuck. Im großen Tanzsaal kreisten die Paare. Schrill und fremd klangen die Rhythmen der Musik. Die Klänge stiegen zur Decke empor, prallten an den Marmorwänden ab und füllten den Raum mit den neuesten Schlagern.
In der Ecke, an eine Marmorsäule gelehnt, stand ein ordenbehängter Greis, auf einen schwarzen Stock gestützt. Sein Gesicht war leidend und gefurcht. Die kleinen grauen Augen starrten in die Ferne. Vielleicht entsannen sie sich der Nächte, als dieser Saal im gelben Wachslicht der unzähligen Kerzen erstrahlte. Die Spiegel warfen damals das Kerzenlicht in den Saal und die Strahlen brachen sich an den Edelsteinen der Damen. Über das Parkett glitten Höflinge in goldgestickter Tracht, und durch den Saal schritten die Erzherzöge, geschmückt mit den Insignien des Goldenen Vlieses. Still und einsam starrten die grauen Augen in die Ferne. Vielleicht erinnerten sie sich auch an gar nichts. Sie waren alt und müde, abgeklärt wie die Fassade der Burg.
Lautlos glitten die Paare über das Parkett. Manchmal erklang das silberne Klirren der Sporen. Die bunten Uniformen bewegten sich im wogenden Rhythmus des Walzers.
Ein Mann mit weißem Schnurrbart stand am Eingang, und an seiner Brust blitzte der Maria-Theresien-Orden. Der Mann hatte lächelnde Augen, und seine Fußspitze schlug auf das Parkett im Takte des Walzers. Ehre und Ruf hatte dieser Mann einst in die Waagschale des Glücks geworfen. Am Isonzo oder in den Karpaten oder auf den blutbefleckten Feldern Flanderns. Jetzt stand er da, der Maria-Theresien-Orden blitzte auf seiner Brust, und seine Augen lachten.
Mit würdig rhythmischem Schritt gingen die Gäste durch die Räume der Burg. Im kleinen Saal spielte die englische Kapelle. In den Gängen standen kleine Tische, und die Hoflakaien servierten mit gelassen feierlichen Gesichtern.
Links am Ende des roten Saales saß Hassa. Asiadeh saß neben ihm, und ihre Augen waren klein und geschlitzt. Gierig atmete sie die Luft des alten Palastes ein. Schattenartig wölbte sich über dem Raum die jahrhundertelange Vergangenheit.