»Der römische Kaiser«, sagte sie leise und dachte an die Welt, die einst in zwei Teile zerfiel. Die Welt des Wiener Cäsars und die Welt des Istanbuler Kalifen.
»Wir sind zu früh gekommen«, sagte Hassa, »deine Türken sind noch nicht da und Kurz auch nicht. Vielleicht suchen sie uns und können uns nicht finden.«
Er blickte schüchtern in Asiadehs Augen, und seine Hand umklammerte das Sektglas.
»Man wird uns finden«, sagte Asiadeh ruhig. Sie hörte immer noch den Ruf der Trompete, die zur Attacke blies…
Sie hob den Kopf. In der Tür standen John Rolland und Sam Dooth. Sie winkte ihnen zu. Langsam schritten die beiden durch den roten Marmorsaal. Sie traten an den Tisch heran und verbeugten sich. John drückte Hassas Hand, seine Bewegungen hatten etwas Katzenartiges und Lauerndes. Die beiden nahmen Platz. Hassa füllte die Gläser. John saß regungslos im Stuhl und blickte auf Hassas Stirn. Seine Augen waren ausdruckslos und kalt.
»Meine Frau hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Hassa, »ich freue mich, Sie zu sehen. Ihr Beruf und Ihr Name zeigen, daß auch Sie die verstaubten Gewänder Asiens abgestreift haben, um in der Welt der westlichen Kultur aufzugehen. Meine Frau dagegen würde auch heute noch am liebsten auf dem Boden sitzen und vom Boden essen.«
Er lachte. John sah ihn lange an. Plötzlich nickte er:
»Ich weiß, was Sie meinen. Sie meinen, daß es ein Zeichen tiefer Unkultur ist, auf dem Boden zu sitzen und vom Boden zu essen. Aber der Boden — er ist die diesseitige Heimat des Menschen, von der er sich nicht trennen sollte. Der Mensch kommt von der Erde und braucht sie nicht zu verleugnen. Im Gegenteiclass="underline" er soll den Klumpen, von dem er stammt, in sein geistiges Streben einbeziehen. Ein Mensch in Asien fühlt seine Erdgebundenheit und demütigt sich freudig vor dem Boden, der ihn geschaffen hat. Es ist wie ein ewiger, geheimnisvoller Strom, der von der Erde kommt und den Menschen befruchtet. Deshalb beten wir auch auf dem Boden sitzend und berühren mit dem Gesicht die Erde, zu der wir einst werden sollen.«
John schwieg. In der Ferne spielte die englische Kapelle. Sam blickte durch das Sektglas zu Asiadeh. Sie saß still da, und ihre Augen streiften von John zu Hassa. Die Attacke war in vollem Gange.
»Ja«, sagte Hassa, »ich kenne die Gebete unter den gewölbten Kuppeln der Moscheen. Aber der Mensch, der von der Erde stammt, strebt zum Himmel. Diesem Streben verdankt er, daß er aufgehört hat, Tier zu sein. In der Sprache der äußeren Formen heißt dieses Streben — der gotische Dom. Er ist edler als alle erdgebundenen Moscheen mit plumpen breiten Kuppeln.« John nickte. Seine Blicke waren auf Asiadeh gerichtet. Er sah ihre kurze, leicht abstehende Oberlippe und ihre Augen, die jetzt wie graue Asche waren.
»Die Moschee«, sagte er, »ist der in Stein geformte Geist Asiens. Unzählige fremde Augen sahen die Moscheen, aber kein Ungläubiger vermochte die Symbolik des Hauses zu erfassen. Niemand begriff die Idee der Kuppel, des kubischen Grundbaues, des vielkantigen Zwischenstückes und des Flammensymbols des Minaretts. Überall im Orient sind die Gotteshäuser in diese vier Teile gegliedert und überall stellen sie dasselbe dar: den jenseitigen Geistesmenschen, der seine irdische Erscheinungsform, durch Vermittlung der beiden sich gegenseitig durchdringenden Welten zur Grundlage des göttlichen Erlösungswillens macht. Sie haben recht — der Moschee fehlt das einmalig Lineale und die heftige Bewegung der Gotik. Ihr Schwergewicht ruht auf dem breiten klaren Boden, der in gleichem Maße vom Kunstwillen überformt ist wie das Gewölbe, das sich über dem Boden schließt und eint.«
Hassa schüttelte heftig den Kopf.
»Der Moschee fehlt jeder erschütternde Aufriß zur Höhe«, sagte er, »ebenso wie es eurer Malerei an jeder lebendigen Darstellung fehlt. Eine traurige Welt — eine Welt ohne Bilder.«
John nickte höflich und nippte am Sekt.
»Sie haben recht. Asien ist jenseitsbetont. Europa ist diesseitsbetont. Deshalb braucht Europa lebendige Darstellung, lebendigere Geschöpfe. Asien sucht den Ausdruck der letzten Dinge ohne Verwendung des Figuralen. Das direkte Formsymbol, das die platonische Idee der Dinge ohne Umweg über menschliche oder tierische Körperformen gestalten soll, verzichtet auf die Darstellung des Lebendigen und also Vergänglichen.«
Hassa sah John erstaunt an.
»Ich bin anderer Meinung«, sagte er, »deswegen wohne ich in Wien. Wäre ich Ihrer Meinung, so würde ich in Sarajewo wohnen. Das äußere Sein muß mit dem inneren Bewußtsein im Einklang stehen. Ich stehe im Bannkreise Europas und bin den östlichen Dingen abgewandt. Aber Sie — Sie sind Filmautor in New York und tragen die Seele Asiens in sich. Wie überbrücken Sie diesen Zwiespalt?«
Hassa sprach langsam und etwas spöttisch. Es war sehr einfach, für den Staub Asiens zu schwärmen, wenn man in Amerika wohnte.
Sam rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er wußte sehr wohl, auf welche Art John den Zwiespalt zwischen dem Sein und dem Bewußtsein überbrückte. Aber John lächelte und blickte harmlos zu Hassa hinüber. »Die Heimat!« sagte er. »Solange man sie hat, gibt es keinen Gegensatz zwischen äußerem Sein und innerem Bewußtsein. Früher dachte ich anders. Aber ich war ein Verirrter in der Welt der äußeren Formen. Die Heimat ist nicht das Badezimmer, in dem man zu baden gewohnt ist, auch nicht das Kaffeehaus, das man immer besucht. Die Heimat — das ist die seelische Struktur, die vom heimatlichen Boden einmalig geschaffen wurde. Die Heimat ist immer da, sie ist immer im Menschen. Der Mensch steht im Banne der Heimat, solange er lebt, und ganz gleich, wo er lebt. Ein Engländer fährt in den afrikanischen Busch, und das Zelt, in dem er schläft, ist England. Ein Türke fährt nach New York, und das Zimmer, das er bewohnt, ist seine Türkei. Die Heimat und die Seele verliert nur derjenige, der beides nie besessen hat.«
Hassa konnte den Hieb nicht parieren. Marion und Kurz traten an den Tisch.
»Da seid ihr! Und wir suchen euch seit einer Stunde.« Marions Stimme war, wie immer, weich und melodisch. Plötzlich brach sie ab. Sie erblickte John Rolland, und ihr schöngeschwungener Mund blieb offen. Angst zeigte sich in ihren Augen.
»Ahh«, sagte sie gedehnt und schüchtern, »ich glaube…« Sie sprach nicht weiter. Sie war überzeugt davon, daß John gleich aufspringen und ihr mit strenger Stimme befehlen werde, auf der Stelle einen Bauchtanz zu tanzen. Aber John sagte nichts. Er erhob sich und verbeugte sich steif. Er hatte die Szene am Semmering noch sehr klar im Gedächtnis. Kurz und Marion nahmen Platz. Mit entgeisterten Gesichtern blickten sie auf Rolland.
»Asiadehs Landsleute«, sagte Hassa, »Herr Rolland ist ein bekannter Filmautor.«
Dr. Kurz nickte fassungslos. Ja, so was kam vor. Typische Bewußtseinsspaltung. Gehört in die Anstalt. Einmal bildet er sich ein, Prinz zu sein, das andere Mal Filmautor. Casus gravissimus. Prognose ungünstig.
Kurz schielte verstohlen zu Hassa hinüber. Es gehörte die ganze Ignoranz eines Laryngologen dazu, nicht sofort zu begreifen, daß dieser Mann ein Irrer war. Typische Schädelformationen, dachte Kurz und machte geheimnisvolle Gesten in der Richtung Sams, den er für den Irrenwärter hielt. Aber der Irrenwärter schien ihn nicht zu verstehen.
Plötzlich erhob sich John. Marion zuckte entsetzt zusammen. Aber es geschah nichts. John verbeugte sich förmlich vor Asiadeh und forderte sie zum Tanz auf. Asiadeh folgte ihm. Sie war offensichtlich instinktlos genug, um mit dem entsprungenen Insassen einer Irrenanstalt zu tanzen.
Als die beiden in die bunte Menge der tanzenden Paare tauchten, räusperte sich Kurz und beugte sich zu Sam:
»Geht es dem Herrn schon besser?«
Sam blickte ihn ärgerlich an:
»Viel besser, und bald wird es ihm ganz ausgezeichnet gehen.«