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Die unbekannte Größe Europas zieht mich aber an. Es folgt Italien und die vornehme katholische Klosterschule in Rom, dann Paris, und zuletzt, seit mehr als einem Jahrzehnt, Deutschland.

In Deutschland beginnt zuerst die praktische Politik. In einer dunklen, verrauchten Kneipe im Norden Berlins versammeln sich die wenigen Panislamisten. Unsere Zahl wächst, im verrauchten Zimmer werden alle Sprachen des Orients gesprochen, hin und wieder auch deutsch. Wohl die Hälfte der Anwesenden sind englische oder russische Spione. Der Anführer ist ein indischer Eunuch, der gleichfalls später in englische Dienste tritt. Wir alle zusammen treiben Politik, der Krieg hat uns alle irgendwie aus der Bahn gebracht, Verschwörungen werden organisiert, Attentate vorbereitet und nicht ausgeführt, Aufrufe verfaßt. Ich halte Vorträge über das Kalifat und schreibe Gedichte. Zugleich immatrikuliere ich mich bei der Universität. Die Semester rollen ab, ohne eine wesentliche Spur zu hinterlassen. Die praktische Politik beginnt mich zu ekeln. Der praktische Panislamismus artet in Klatsch, gegenseitige Verleumdungen und Mißtrauen aus. Der praktischen Politik folgt die praktische Literatur, das Stadium, in dem ich mich auch gegenwärtig befinde, ohne es bis jetzt bedauert zu haben. Ich bin deutscher Schriftsteller. Die vielen Völker, die ich besucht, die vielen Ereignisse, die ich gesehen habe, haben mich zum vollendeten Kosmopoliten erzogen. Doch liebe ich Deutschland, weil es (lache da, wer lachen will!), das bestorganisierte und bequemste Land der Welt ist, was ich im Gegensatz zu den meisten jungen Zeitgenossen keineswegs als ein Manko empfinde. Im Gegenteil; ich erdreiste mich, gerade darin die eigentliche Aufgabe eines jeden Staates und die primitivste Vorbedingung jeglicher Kultur zu erblicken.

Weshalb ich heute, trotz des jahrelangen Aufenthaltes in einer Republik, Monarchist geblieben bin und mit jedem Tage immer monarchistischer werde? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Die heutige Welt steht vor zwei großen Gefahren: des Bolschewismus und des alles überwuchernden Nationalismus. Gegen diese beiden Gefahren kenne ich nur ein Mittel — die Monarchie, allerdings die wahre Monarchie und nicht ihre verfassungsmäßige, national begrenzte, wilhelminische Abart. Was ist die wahre Monarchie? Für mich ist sie das einzige überparteiische, überstaatliche und übernationale Prinzip, mit dem die Menschheit erfolgreich regiert werden kann. Ich weiß: die Menschheit zerfällt in Völker, die Völker in Klassen. Doch ist die Klasse keineswegs die letzte Teilung der Menschheit. Außer dem Klassenkampf gibt es einen Kampf der Parteien innerhalb einer Klasse und den Kampf der Führer innerhalb einer Partei. Die Monarchie, ein legitimes föderatives Imperium mit dem Monarchen als einem gänzlich klassenlosen, beinahe übermenschlichen Gipfel der Menschheitspyramide, ist der gegebene Ausweg für die Menschheit, die an Parlamentarismus, Nationalismus, Bolschewismus und ähnlichen Relativitäten leidet. Zur Rechtfertigung dieses Standpunktes könnten Traktate geschrieben und Vorträge gehalten werden. Meine Absicht ist das nicht, denn ich versuche prinzipiell nie einen politisch Andersgläubigen zu überzeugen. Nur das eine muß hervorgehoben werden: in der heutigen Zeit wird der Begriff der Monarchie oft mit dem Begriff der Diktatur verwechselt. Nichts ist fehlerhafter! Diktatur und Monarchie sind absolute Gegensätze, schon deshalb, weil die Diktatur sämtliche Schattenseiten einer Monarchie besitzt, ohne auch nur einen einzigen ihrer Vorteile aufzuweisen.

Phantasien? Vor einigen Jahrzehnten lebte in der Stadt Zürich ein armer Mann mit einer großen Glatze. Er lebte in den bescheidensten Verhältnissen und phantasierte. Selbst der Polizei erschien er als ein harmloser Phantast. Dieser Mann hieß Lenin. Seitdem ich dieses weiß, glaube ich an keine unerfüllbaren Phantasien mehr.

Radhia Shukrullah

Über den Autor:

Kurban Said alias Leo Noussimbaum alias Muhammed Essad Bey

Als ich den hier vorliegenden Text zum ersten Mal zu lesen begann, war mir der Name Kurban Said gänzlich unbekannt. Ich ging von der Annahme aus, es handle sich um einen Exil-Osmanen, der sich mit einer nostalgischen Romanze einige Pein von der Seele geschrieben hatte. Doch schon auf der ersten Seite wurde ich stutzig, im Ton und im Rhythmus der Sätze schwang etwas mit, das mich aufhorchen und sofortige Nachforschungen anstellen ließ. Die Stimme, das Timbre waren mit Sicherheit nicht die eines orientalischen Literaten, es klang eine andere, mir viel vertrautere Sensibilität durch, die mitunter leicht expressionistische Nachklänge hatte. Meine Suche wurde auch nicht enttäuscht; was ich in der Folge über den Schriftsteller Kurban Said erfuhr, war für mich fast noch ergreifender als die Bücher, die ich von ihm las.

Ganz sicher weiß man es nicht, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit kam Kurban Said am 20.10.1905 in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, zur Welt und verstarb am 27.8.1942 in Positano, in Süditalien. Er starb somit kurz vor Vollendung seines siebenunddreißigsten Lebensjahres. Der Bericht seines kurzen Lebens liest sich wie eine einzige unausgesetzte Reiseunternehmung, dennoch verfaßte er innerhalb eines Jahrzehnts (1929–1938) sechzehn Bücher in deutscher Sprache, davon vierzehn Sachbücher und zwei Romane sind. Daneben schrieb er Aufsätze, Artikel und Rezensionen für Zeitschriften, unternahm Vortragsreisen und hielt Lesungen. Es muß auch lyrische Arbeiten in anderen Sprachen geben, in Russisch und Türkisch, sowie einen letzten, bisher unveröffentlichten Roman, der die eigentliche Autobiographie sein dürfte.

›Kurban Said‹ wurde allerdings nicht als Kurban Said geboren, sondern als Leo Noussimbaum oder Lev Abramovic Nüssenbaoum, der Sohn des Abraham Noussimbaum, eines zu Ölreichtum gelangten Unternehmers aus Tiflis (Tblisi), Georgien. Über die Mutter ist nicht viel bekannt, sie starb entweder kurz nach der Geburt ihres Sohnes oder in seinen ersten Lebensjahren. Wie seiner (vorläufigen) Autobiographie zu entnehmen ist, war sie eine russische Intellektuelle, die wegen revolutionärer Umtriebe im zaristischen Gefängnis gelandet war, aus dem sie der ältere Noussimbaum freikaufte. Der Knabe wurde von einer baltischen Amme, Alice Schulte, aufgezogen und sprach seit frühester Kindheit Deutsch. Als mutterloser Sohn war er der verzärtelte Mittelpunkt der Familie und wuchs in einem gut gepolsterten Milieu von Wohlhabenheit und kulturellem Kosmopolitismus heran. Schon als Kind sei er jedes Jahr in den Sommerferien nach Europa gereist, schrieb später Essad Bey. Die Region Transkaukasien, das Land Aserbaidschan bilden eine Wegscheide zwischen Europa und Asien, es mischen sich dort die Kulturen des Ostens und des Westens, und es kreuzte sich dort Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein verwirrendes Flechtwerk politischer Interessen. Schon seit Jahren ein Unruheherd, wurde es nach der Ermordung der Zarenfamilie und dem Toben der roten und weißen Armeen in Rußland auch im transkaukasischen Nachbarland ungemütlich für die ›kapitalistische‹ Unternehmerklasse, der die Noussimbaums angehörten, so daß 1917 Vater Noussimbaum mit seinem etwa zwölfjährigen Sohn Lev übers Kaspische Meer floh. Ihr Fluchtweg führte sie durch Turkmenien und Usbekistan bis nach Buchara und Samarkand und zurück durch Tadschikistan und Persien. Nach einem Jahr fiel die bolschewistische Herrschaft in Baku, und alliierte Truppen (türkische und deutsche, und anschließend britische) sorgten für eine vorübergehende Wiederherstellung der alten Ordnung. Noussimbaum, Vater und Sohn, waren in ihre Pfründe zurückgekehrt, erlebten noch ein Rachemassaker (der Aserbaidschaner an den Armeniern) und mußten zwei Jahre später, im Frühjahr 1920, schon wieder die Flucht vor den Bolschewiken ergreifen, diesmal nach dem Westen. Der erste Zufluchtsort war Georgien, doch angesichts der unaufhaltsam nahenden Sowjetmacht entflohen sie per Schiff entlang der Schwarzmeerküste nach Istanbul. Dort scheint sich der nun fünfzehnjährige Leo entschlossen zu haben, Muslim zu werden, und so beginnt seine Verwandlung in ›Essad Bey‹ (Essad = Asad = Lev = Leo = Löwe). Die Familie flieht weiter über Rom und Paris und gelangt schließlich um 1921 nach Berlin.