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Das Berlin der zwanziger Jahre stand im Zentrum der großen Bewegungen, die durch die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die der Erste Weltkrieg nach sich zog, ausgelöst wurden. Hierher ergoß sich ein Strom von Flüchtenden und heimatlos Gewordenen aus vielen Ländern, vornehmlich von Osten kommend. Durch die Zusammenbrüche der großen kaiserlichen Dynastien Europas und des Nahen Ostens entmachtet, trieben entwurzelte, abgedankte Hoheiten und Würdenträger untergegangener Reiche in den bitteren Gewässern des Exils, Verfolgungsopfer des Krieges und der Revolution liefen hier an Land. Berlin wurde zum Anlaufpunkt und Durchgangslager für viele, denen keine Rückkehr möglich war. Das eben neu errichtete (Weimarer) Staatsgebilde hatte mit der Abschaffung der Zensur ein entsprechend aufgelockertes Klima geschaffen, ein gewissermaßen rauschhaftes Potential war entfesselt worden. In diesem versammelte sich eine künstlerische Avantgarde, die etwa für ein Jahrzehnt ihre Schaffenslust und Experimentierfreude (u. a. mit neuen Medien) austoben konnte. Die Stadt wurde zum Fluchtpunkt für viele Künstler wie auch für andere Randfiguren der bürgerlichen Gesellschaft. Als Hauptstadt der Republik war Berlin die einzige echte moderne Großstadt Deutschlands mit all der Abgründigkeit und den Verlockungen, die einem solchen Gebilde eigen sind. Krasse soziale Gegensätze, moralische Abgründe, steiler Aufstieg, jäher Absturz: ein Berlin der großen Boheme, ebenso voll von Flittergold wie von echten Kronjuwelen, das wahre Pendant zu Paris. Ein ausgelassener Tummelplatz, ein erotisches Babel, zog die Stadt damals magnetisch viele Menschen an, deren Namen zu den großen des Jahrhunderts zählen. Ein kurzes, heftiges Aufblühen, das bereits den Keim des Welkens in sich barg.

In diesem Berlin ließ sich der junge Leo = Essad Bey nieder, besuchte zunächst die russische Oberschule, dann das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen. Im August 1923 wird er zum Studium an der Friedrich-Wilhelm Universität zugelassen und belegt das Fach islamische Geschichte. Bis 1925 dauert sein Studium. 1926 erscheint sein erster Artikel in der Wochenschrift ›Die Literarische Welt‹, und somit beginnt seine Karriere als freier Schriftsteller. Die nächsten drei Jahre schreibt er vorwiegend Artikel und Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften über Sowjetrußland und den islamischen Orient, und bahnt sich seinen Weg in den deutschen Literaturbetrieb hinein. 1929 erscheint sein erstes Buch, »Blut und Öl im Orient«, eine blumig fabulierende Quasi-Autobiographie, die, wenn sie auch nicht immer unbedingte Faktentreue aufweist, doch im Kern wahrhaftig bleibt. Das Buch rief seinerzeit heftige und widersprüchliche Reaktionen hervor.

Schon 1922 war Essad Bey als Gründungsmitglied der »Islamischen Gemeinde zu Berlin« beigetreten und wurde später Mitglied des »Islam Instituts«. In diesen Vereinigungen trafen sich Muslime aller Schattierungen aus aller Herren Länder, und für Essad Bey wurde diese Gemeinschaft auch zu einer Art Studienplatz. Er selbst stilisierte sich zunehmend als Orientale: mal trat er im kaukasischen Kriegergewand auf, mal mit juwelenbestücktem Turbanschmuck. Er machte sich nicht unbedingt beliebt mit seinem spielerischen Rollenwechsel und seinen Verwandlungskunststücken und wurde sowohl von der deutschen Kritik als auch von den ›echten‹ Orientalen als Betrüger und Scharlatan bezeichnet. Die Kritik an seinem Buch »Blut und Öl« bekam in Deutschland bereits stark antisemitische Färbung, und die assimilationsbedürftigen muslimischen Mitbrüder, die sich durch das Buch wohl teils in ihrem Nationalstolz beleidigt fühlten, teils es als Diskreditierung vor einem westlichen Publikum empfanden, warfen ihm vor, kein echter Muslime zu sein. Die Fachwelt verwarf ihn als ›Dilettante‹. Essad Bey scheint aber diese Attacken eher als wirksame Reklame für sich und sein Buch gewertet zu haben, er ließ sich zumindest dadurch nicht von der Arbeit an weiteren Büchern abhalten. Bis 1938 hatte er noch fünfzehn weitere Werke verfaßt, u. a. eine Biographie von Stalin, eine des letzten Zaren, des Schahs von Persien, und des Propheten Muhammed. Er schrieb über Rußland und den sowjetischen Geheimdienst, eine Geschichte der Weltölindustrie, vom »Niedergang und Aufstieg der islamischen Welt«, und außerdem seine beiden Romane. Seine Bücher wurden sehr rasch in verschiedene Sprachen übertragen und fanden im Ausland schnell Anerkennung und Wertschätzung.

1932 heiratete Essad Bey eine deutsch-jüdische Lyrikerin, Erika Renon, die ihn auf zwei Vortragsreisen durch Amerika begleitete. Sie verließ ihn aber schon 1935 und folgte ihren nach USA ausgewanderten Eltern. Die Ehe wurde 1937 geschieden, was anscheinend in der amerikanischen Boulevardpresse Schlagzeilen verursachte. Essad Bey unternahm auf Einladung noch eine dritte Reise nach Amerika, und danach soll er eine ausgedehnte Orientreise angetreten sein, die ihn über Nordafrika, Ägypten, die Arabische Halbinsel und den Iran bis an die Tore Indiens führte.

Mit dem Machtantritt der Nazis fegte ein eisiger Wind durch die Reihen der Berliner Boheme, viele helle Köpfe spürten den Gifthauch früh genug und suchten schon in den Anfangsjahren das Weite. Die ›Szene‹ verödete allmählich. So übersiedelte Essad Bey 1933 nach Österreich, wo es noch für ein paar Jahre gemütlichen zuging. Die Wiener Kaffeehauskultur und Literaten-Cliquenwirtschaft entsprach seinem Naturell recht gut, er wurde gut aufgenommen und schnell bekannt, und die zynisch-melancholische Atmosphäre der einstigen Kaiserstadt wird ihm sehr entgegengekommen sein. Er blieb hier bis zum österreichischen Anschluß ans Reich im Jahre 1938. Hier traf er mit vielen heute noch bekannten Exil-Literaten zusammen, u. a. mit Max Brod, Joseph Roth, Franz Werfel, Robert Neumann, Elias Canetti und Wolfgang von Weisl (mit dem gemeinsam er sein letztes Sachbuch »Allah ist groß« verfaßte). Vor allem aber traf er hier den Freund seiner Seele, Umar Rolf von Ehrenfels und wurde vertraut mit dessen Familie.

Die Familie derer von Ehrenfels bewohnte seit Jahrhunderten ein Schloß Lichtenau im Waldviertel, unweit von Wien und doch entlegen wie im Märchenwald. Baron Rolf Umar von Ehrenfels war Völkerkundler und in den zwanziger Jahren zum Islam übergetreten, ein weitgereister und in der islamischen Welt bewanderter Mann. Er hatte in Wien den ›Orient-Bund‹ für afro-asiatische Studenten gegründet, den Essad Bey anscheinend frequentierte. Mit ihm und dessen Frau Elfriede verband Essad Bey eine tiefe und bleibende Freundschaft. Elfriede aus dem Nachbarschloß Bodmershof hatte ihrerseits auch literarische Ambitionen und bereits einige kleinere Arbeiten unter Pseudonym veröffentlicht.

Als Essad Bey im April 1935 aufgrund seiner nun bürokratisch verbuchten jüdischen Herkunft aus dem ›Reichsverband Deutscher Schriftsteller‹ und der ›Reichsschrifttumskammer‹ ausgeschlossen wurde, war es ihm nicht mehr möglich, in Deutschland zu publizieren. Seit Hitlers Machtergreifung, 1933, mußten auch in den anderen deutschsprachigen Ländern, d. h. die Schweiz und Österreich, verlegte Bücher an der deutschen Zensur vorbeigeschmuggelt werden, was an Relevanz gewinnt, wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der österreichischen Verleger (wie auch ihre Autoren) Juden waren. Die betroffenen Verlage bedienten sich umwegiger Lösungen, indem unverdächtige Drittländer mit in den Herstellungsprozeß einbezogen wurden (wie etwa Holland oder Schweden). Es gab für jüdische Autoren auch die Möglichkeit, Pseudonyme zu verwenden, von welch letzterem Mittel Essad Bey Gebrauch gemacht zu haben scheint, denn seine beiden letzten Bücher, die Romane »Ali und Nino« und das vorliegende »Das Mädchen vom Goldenen Horn« gaben den Namen des Autors mit ›Kurban Said‹ an.