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»Ich bin Reza«, sagte der Alte. »Aus der Bruderschaft der Bektaschi.«

»Bektaschi«, wiederholte Asiadeh und dachte an die heilige Gemeinschaft der Krieger, Asketen und Mönche. Die kleinen Augen des Alten waren unruhig und stachlig. »Wir sind alle weg«, sagte er. »Istanbul hat uns ausgespien. In Bosnien wohnt jetzt der Meister. Ali-Kuli ist sein Name. Dort kasteien wir den Leib.« Seine Unterlippe hing herab, und der Mund blieb halb offen.

»Sie sind ein weiser Mann«, flüsterte Asiadeh gepreßt.

»Wir hüten den Glauben«, sagte der Alte mit Inbrunst. »Alles zerfällt in der Welt des Unglaubens. Licht und Schatten vereinen sich, und Gott straft die Irrenden. Die Sünde belauert die Schwankenden und hat viele Gesichter.«

»Ich sündige wenig«, sagte Asiadeh, und der Alte lachte nachsichtig und mit Schwermut.

»Sie gehen unverschleiert, Hanum. Das ist keine Sünde, aber das fordert die Sünde bei andern heraus.«

Er erhob sich und verdeckte für einen Augenblick mit der rechten Hand die Augen. Dann ging er gebückt und einsam, und die Menschen blickten ihn scheu an.

Achmed-Pascha kam herbei. Seine Augen lachten.

»Der ganze Saal will dich heiraten, Hanum«, sagte er leise.

Asiadeh blickte sich spöttisch um.

»Es sind alles gute Menschen, Vater. Wem gibst du mich, dem Neger aus Timbuktu oder dem Prinzen aus dem Hause der Kadscharen?«

»Niemandem«, sagte der Pascha. »Ich werde nach Afghanistan ziehen und mein Schwert in das Blut der Feinde tauchen. Ich erbaue mir eine Burg, und du heiratest den König.«

Asiadeh blickte zum Vater empor. Hinter dem Kopfe des Vaters hing die schwarze Fahne Afghanistans und das Bild eines Mannes mit Adlernase und langer weißer Feder auf der Mütze.

»Der König«, sagte sie leise, und ihre Hand streichelte den Arm des Vaters. »Was würdest du tun, Vater, wenn ein fremder Mann mich küssen würde?«

Achmed-Pascha sah seine Tochter verblüfft an.

»Ein fremder Mann dich küssen? Das würde doch keiner wagen!«

»Und wenn?«

»Mein Gott, Hanum, wie kannst du nur so was denken? Ich würde mein Messer nehmen, ich würde die Lippen abschneiden, die dich geküßt haben, und die Augen ausstechen, die dich gesehen haben. Er würde es sehr bereuen, daß er dich geküßt hat.«

Asiadeh drückte dankbar die Hand des Vaters. Sie fühlte sich als die Retterin der Augen und Lippen des Dr. Hassa. »Soll ich also einen König heiraten?«

»Nein«, lachte der Pascha. »Ich hab’ es mir überlegt. Du heiratest den Präsidenten der Vereinigten Staaten und bekehrst Amerika zum Islam. Der Präsident schickt seine ganze Flotte nach Istanbul, und wir können in die Heimat zurück. Das wird sein Brautpreis sein.«

»Gut, mein Vater«, sagte Asiadeh feierlich. »Ich gehe jetzt heim und überlege deine Worte, es wird hier viel geraucht, und der Tag des Propheten ist vorbei.«

Sie erhob sich und ging durch den Saal. Schüchterne Blicke verfolgten sie, doch sie erwiderte sie nicht. Im qualmigen Rauch tauchten geschlitzte Augen auf und schmale zusammengepreßte Lippen. Die Augen glichen denen Dr. Hassas, und Asiadeh wandte sich ab.

Sie ging zur Tür. Der Diener reichte ihr den Mantel, und der Neger aus Timbuktu lächelte ihr zu. Sie verließ den Klub und fühlte sich bereits auf der Treppe einer fremden feindlichen Welt ausgeliefert. Hinter ihr war die Heimat, waren dienstbeflissene Neger, Prinzen und Blutsverwandte, die ihre Ehre schützen würden, und fromme Derwische, die sie an die Sünden gemahnten. Es war die Welt, die sie kannte, in der sie sich ruhig und geborgen fühlte. Vor ihr war die staubige Treppe eines spärlich beleuchteten Hauses und fernes Licht der Straßenlaternen. Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Wind wehte durch die breite menschenleere Straße. Abendliche Dunkelheit umhüllte die Häuser. Trübes Licht fiel aus den Fenstern auf den feuchten Asphalt, und von den Scheiben der Straßenlaternen fielen die Tropfen eines eben abgeklungenen Regens. Asiadeh trat auf die Straße. Gierig atmete sie die kühle abendliche Luft ein. Der Asphalt der Straße war in mathematisch-genaue Vierecke geteilt. Asiadeh blickte auf das Pflaster, runzelte die Stirn und fühlte ein leichtes Zittern in den Knien. Sie hatte plötzlich den Wunsch, zurückzulaufen und mit dem Neger aus Timbuktu das Gespräch über den weisen Achmed-Baba fortzusetzen, der das berühmte Buch el-Ihtihadschi geschrieben hatte und schon lange tot war.

Sie tat es nicht. Sie hob den Kopf und sah ernst und finster in die Augen Dr. Hassas. Hassa zog den Hut und verbeugte sich. »Guten Abend, Fräulein Anbari«, sagte er sanft.

5

Dr. Hassa dachte an die Ohrfeige und punktierte eine eiterverdächtige Nebenhöhle. Der Eiterverdacht erwies sich als unbegründet, aber die Gedanken an die Ohrfeige verschwanden nicht. Alsdann katheterisierte er das Eustachische Rohr eines dicken Delikatessenhändlers, der sich kindisch anstellte und sinnlose Fragen stellte. Später ging er in den Operationssaal und leitete die Ausräumung eines Labyrinthes. Dabei dachte er, daß das Ohrfeigen eine Unverschämtheit sei und leicht zu einer Störung des Labyrinthes führen könnte. Später sah er zu, wie der Alte eine Tracheotomie vornahm und bewunderte wieder einmal die überraschende Geschicklichkeit seiner Hände. Nachher ging er in den zweiten Stock und dachte ganz allgemein an die Sinnlosigkeit des Lebens und an die Belagerung Wiens durch Kara-Mustafa. Er machte einen Rundgang durch den Krankensaal und sprach begütigend zu dem keifenden Weib mit dem herrlichen Sklerom. Die Kranken lagen pflichtbewußt in den Betten, die schwarzen Tafeln über den Betten verkündeten vorschriftsgemäß die Namen ihrer Erkrankungen, und die diensttuende Krankenschwester meldete, daß die Otitis maedia vom achten Bett rechts eine Morphiuminjektion erhalten habe.

Dr. Hassa nickte, ging in das Kellergeschoß und brüllte den Famulus an, der ein und dieselbe Augenbinde bei Luftlichtbädern an drei verschiedenen Kranken verwandt hatte. »Hygiene!« sagte er dabei und hob den Finger.

Dann kehrte er auf seinen Sitz zurück in der trüben Überzeugung, daß höchstens eine Phlegmone mit dem Ursprung in der hinteren Nebenhöhle ihn aus der allgemeinen Gleichgültigkeit herausreißen könnte. Statt dessen erschien eine hagere Frau mit einer Rhinorrhöe, die Dr. Hassa erbittert und enttäuscht mit Chlor behandelte, und zuletzt ein Student, dem gar nichts fehlte und der lediglich aus Neugierde und auch, weil es nichts kostete, sich von Ärzten aller Spezialfächer untersuchen ließ. Dann kam eine Weile überhaupt niemand, Hassa starrte gedankenverloren auf die Wand und dachte an die Vertreibung der Türken aus Europa. Seine rechte Hand glitt zum Instrumententisch, und er klapperte kriegerisch und drohend mit Kathetern, Spekuli, Trichtern und Konchotomen, so lange, bis der Nachbar von links zu ihm hinüberschielte und »äh-h, Kollega!« sagte.

Durch diese Ansprache ernüchtert, blätterte Dr. Hassa eine Weile in verschiedenen Krankengeschichten nach und stellte seltsam befriedigt fest, daß der Fall Anbari zwischen einer Retromaxialgeschwulst und einem Sängerknötchen lag. Daraufhin erhob er sich, wusch sich die Hände, streifte den weißen Kittel ab und fühlte sich als Privatmensch.

In unerlaubtem Tempo fuhr er über die Linden und hatte an der Charlottenburger Chaussee eine Meinungsverschiedenheit mit einem Taxichauffeur, dem er diverse Ohrfeigen in Aussicht stellte und von dem er erfuhr, daß er ein schlapper Österreicher sei und keine Ahnung vom Chauffieren habe.

Am Knie angelangt, hielt er den Wagen an, ging in seine Wohnung und blätterte äußerst konzentriert im Archiv für Oto-Rhino-Laryngologie. Er erfuhr daraus, daß im New Yorker Baptistischen Krankenhaus neuerdings mit Erfolg Radiumbestrahlungen gegen hartnäckige und rezidivierende Muschelhypertrophien angewandt wurden und daß Neger fast nie pathologische Scheidewandanomalien aufweisen. Unerklärlicherweise war er darüber erbost und klappte das Archiv zu. Sein Blick fiel dabei auf Marions Bild im Silberrahmen. Er runzelte die Stirn und hatte plötzlich die Überzeugung, daß eine Ohrfeige noch nicht das Schlimmste auf Erden sei. Es komme immerhin auch darauf an, von wessen Hand man geohrfeigt werde.