Dar Weter merkte, daß ihn die ungewöhnlichen Eindrücke redselig gemacht hatten. Geschwätzigkeit galt in der Ära des Großen Rings als eine der beschämendsten Schwächen des Menschen. Er verstummte, ohne seinen Gedanken beendet zu haben.
„Ja, ja“, antwortete Mwen Mass zerstreut.
Yuni Ant spürte, daß Mwen Mass nicht ganz bei der Sache war, und stutzte. Weda berührte Dar Weters Hand und deutete mit dem Kopf auf Mwen Maas.
Vielleicht ist er zu empfindsam, ging es Dar Weter durch den Sinn, und er musterte seinen Nachfolger eingehend.
Mwen Mass fühlte, daß seine Gesprächspartner ein wenig befremdet waren, er gab sich einen Ruck und war so aufmerksam wie zuvor.
Die Rolltreppe brachte sie nach oben. Mwen Mass und Dar Weter hatten noch zu tun.
Weda Kong drückte Dar Weter noch einmal fest die Hand und flüsterte, sie werde diese ereignisreiche Nacht niemals vergessen.
„Ich kam mir so unbedeutend vor!“ sagte sie mit einem Lächeln, das ihre Worte Lügen strafte.
Dar Weter verstand, was sie meinte. Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin überzeugt, Weda, hätte die rothäutige Frau Sie gesehen, sie wäre stolz auf ihre Schwester. Unsere Erde ist gewiß nicht schlechter als ihre Welt!“ Seine Zuneigung zu Weda spiegelte sich auf seinem Gesicht wider.
„Nun ja, in Ihren Augen, lieber Freund“, gab Weda zurück. „Aber fragen Sie Mwen Mass!“ Scherzend legte sie die Hand vor die Augen und verschwand hinter einem Mauervorsprung.
Als Mwen Mass endlich allein war, graute der Morgen. Dämmerung erfüllte die kühle, windstille Luft; Meer und Himmel waren von der gleichen kristallenen Durchsichtigkeit — silbrig getönt das Meer, rosig der Himmel.
Lange stand Mwen Mass auf dem Balkon des Observatoriums und betrachtete versunken die Konturen der ihm unbekannten Gebäude.
Ein wenig entfernt erhob sich auf einem flachen Plateau ein gigantischer Aluminiumbogen, durchzogen von neun parallelen Aluminiumstreifen, die durch cremefarbene und silberweiße Plexiglasscheiben verbunden waren — das Gebäude des Rates für Astronautik. Davor stand ein Denkmal, errichtet zu Ehren der Menschen, die als erste in den Kosmos vorgedrungen waren. Es stellte einen steilen Berggrat dar, gekrönt von einem Sternschiff alten Typs — einer fischförmigen Rakete, deren spitzes Vorderteil in die Höhe gerichtet war. Eine Kette von Metallfiguren war spiralförmig um den glatten Denkmalsockel gruppiert: Astronauten, Physiker, Astronomen, Biologen und Verfasser phantastischer Romane. Schon färbte die Morgenröte den Rumpf des alten Sternschiffes und die schwungvollen Konturen der Gebäude, doch Mwen Mass ging noch immer mit langen Schritten auf dem Balkon hin und her. Noch nie war er so erregt gewesen. Nach den allgemeinen Regeln der Ära des Großen Rings erzogen, war sein Körper im harten Training gestählt worden; seine Herkulestaten hatte er erfolgreich absolviert. So nannte man in Erinnerung an die Sagen des antiken Hellas schwierige Aufgaben, die jeder junge Mensch am Ende seiner Schulzeit vollbringen mußte. Wenn er sie bewältigte, war er zur höchsten Bildungsstufe zugelassen.
Mwen Mass hatte die Wasserversorgung eines Bergwerks in Westtibet organisiert, einen Araukarienwald auf der Hochebene von Nachebt in Südamerika angepflanzt und die Haifische ausgerottet, die erneut vor den Küsten Australiens aufgetaucht waren. Die Stählung für das Leben und seine hervorragenden Anlagen ermöglichten es ihm, viele Jahre lang beharrlich zu lernen und sich auf eine schwere und verantwortungsvolle Arbeit vorzubereiten. Und nun hatte gleich zu Beginn seiner neuen Tätigkeit die Begegnung mit einer der Erde ähnlichen Welt etwas Unerklärliches in ihm ausgelöst. Bestürzt wurde sich Mwen Mass plötzlich der Leere seines bisherigen Lebens bewußt. Unerträglich stark war das Verlangen nach einem neuen Zusammentreffen mit dem Planeten des Epsilon Tucanae. Das Bild des rothäutigen Mädchens, ihre ausgebreiteten Arme, ihr zarter halbgeöffneter Mund und ihre bezwingende Schönheit hatten sich für immer in sein Gedächtnis eingeprägt.
Daß er von dieser Wunderwelt durch die ungeheuerliche Entfernung von zweihundertundneunzig Lichtjahren getrennt war, konnte sein brennendes Verlangen nicht verringern.
In Mwen Mass war etwas herangereift, was sich nun verselbständigt hatte und außerhalb der Kontrolle des Willens und der kühlen Vernunft war. Der Afrikaner hatte bisher fast ausschließlich seiner Arbeit gelebt, noch nie geliebt oder etwas empfunden, was der freudigen Erregung glich, die diese Begegnung über riesige Entfernungen von Raum und Zeit hinweg in ihm ausgelöst hatte.
Gefangene der Finsternis
Auf den orangeroten Skalen, die die vorhandenen Anamesonvorräte anzeigten, standen die breiten schwarzen Zeiger auf Null. Bis jetzt war das Sternschiff noch nicht von seinem bisherigen Kurs abgewichen, da seine Geschwindigkeit noch groß genug war. Unaufhaltsam näherte es sich der für Menschenaugen unsichtbaren, unheimlichen Sonne.
Zitternd vor Anstrengung und Schwäche, nahm Erg Noor, von Pel Lin gestützt, an der Rechenmaschine Platz. Die planetarischen Triebwerke waren verstummt, der Steuerautomat hatte sie abgeschaltet.
„Ingrid, was ist ein Eisenstern?“ fragte leise Keh Ber, der die ganze Zeit unbeweglich hinter der Astronomin gestanden hatte.
„Ein für uns unsichtbarer Stern der Spektralklasse T, schon erloschen, aber noch nicht endgültig erkaltet. Er sendet langwellige Lichtstrahlen aus, die im Wärmebereich des Spektrums liegen — infrarote Strahlen —, und ist nur durch den Elektroneninvertor sichtbar. Eine Eule könnte den Stern wahrnehmen, da sie infrarote Strahlen sieht.“
„Weshalb heißt er aber Eisenstern?“
„Auf allen bisher erforschten Sternen ist Eisen in erheblich größerer Menge vorhanden als auf der Erde. Handelt es sich um einen großen Stern, sind Masse und Gravitationsfeld gewaltig. Ich fürchte, wir sind auf solch einen Stern gestoßen.“
„Und was nun?“
„Ich weiß nicht. Du siehst selbst, wir haben keinen Treibstoff mehr. Dabei fliegen wir weiter geradewegs auf den Stern zu. Wir müssen die ›Tantra‹ bis auf ein Tausendstel der Lichtgeschwindigkeit abbremsen, so daß ein genügend großer Abweichungswinkel erreicht werden kann. Wenn uns dabei auch noch der planetarische Treibstoff ausgeht, nähert sich unser Schiff allmählich dem Stern, bis es abstürzt.“ Ingrid zuckte nervös mit dem Kopf, und Keh Ber streichelte beruhigend ihren von einer Gänsehaut bedeckten Arm.
Der Expeditionsleiter trat ans Steuerpult und konzentrierte sich auf die Instrumente. Alle warteten atemlos und schwiegen. Auch Nisa Krit, die eben erst erwacht war und instinktiv das Gefährliche der Situation begriffen hatte. Der Treibstoff reichte wahrscheinlich nur zum Abbremsen des Sternschiffs, je mehr es aber an Geschwindigkeit verlor, desto schwerer würde es ohne die Anamesontriebwerke der gewaltigen Anziehungskraft des Eisensterns entkommen. Wenn die „Tantra“ nicht schon so nahe wäre und Pel Lin rechtzeitig begriffen hätte… Doch was half jetzt noch ein Wenn und Aber!
Drei Stunden mochten vergangen sein, da hatte Erg Noor einen Entschluß gefaßt. Das heftige Vibrieren der Ionentriebwerke ließ die „Tantra“ erzittern. Vier Stunden lang verringerte das Sternschiff seine Geschwindigkeit. Kaum merklich bewegte Erg Noor die Hebel, und alle verspürten sogleich ein schreckliches Unwohlsein. Der furchterregende braune Himmelskörper verschwand vom vorderen Bildschirm und tauchte auf dem Seitenbildschirm auf. Wie die Instrumente anzeigten, hielten noch immer die unsichtbaren Ketten der Gravitation das Schiff fest. Erg Noor riß die Hebel zu sich heran — die Triebwerke standen still.