„Das habe ich erwartet!“ brachte Mwen Mass mühsam hervor.
„Warum haben Sie mich dann um Rat gefragt?“
„Ich glaubte, wir könnten Sie überzeugen.“
„Na schön, versuchen Sie es mal! Schwimmen wir zurück. Unsere Freunde bereiten sicherlich schon die Tauchgeräte vor, um sich das Pferd anzusehen.“
Am Ufer sang Weda, begleitet von zwei Frauenstimmen, die Dar Weter nicht kannte. Als sie die Schwimmenden sah, rief sie sie winkend herbei. Das Lied verstummte. In einer der Frauen erkannte Dar Weter Ewda Nal. Zum erstenmal sah er sie ohne den weißen Arztkittel. Ihre hochgewachsene, geschmeidige Gestalt hob sich von den anderen beiden durch ihre noch ungebräunte Haut ab. Augenscheinlich war die berühmte Nervenärztin in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen. Das in der Mitte gescheitelte blauschwarze Haar trug sie an den Schläfen hochgesteckt. Die hervortretenden Backenknochen über den etwas eingefallenen Wangen unterstrichen noch den schrägen Schnitt der schwarzen Augen. Das Gesicht erinnerte an die berühmte ägyptische Sphinx, die einst am Rande einer Wüste stand. Heute, ein Jahrtausend später, waren an Stelle der Wüste blühende Haine getreten, und die Sphinx wurde von einer Glashaube geschützt, die die Sprünge ihres von der Zeit zerfurchten Antlitzes nicht verbarg.
Dar Weter erinnerte sich, daß Ewda Nals Vorfahren Peruaner oder Chilenen waren. Er begrüßte sie nach der Sitte der alten südamerikanischen Sonnenanbeter.
„Ich sehe, Ihre Arbeit bei den Historikern war von Nutzen“, sagte Ewda. „Sie sollten Weda dankbar sein.“
Dar Weter sah sich suchend nach der vertrauten Gestalt um, und Weda nahm ihn bei der Hand und stellte ihn der unbekannten Frau vor.
„Das ist Tschara Nandi. Wir alle hier sind eigentlich zu Gast bei ihr und dem Maler Kart San, denn sie leben schon einen Monat an dieser Küste. Ihr transportables Atelier steht am Ende der Bucht.“
Dar Weter streckte der jungen Frau, die ihn aus großen blauen Augen ansah, die Hand entgegen. Für einen Augenblick stockte ihm der Atem — diese Frau hatte etwas an sich, was sie von allen anderen unterschied. Sie stand zwischen Weda Kong und Ewda Nal, aber die durchgeistigte und strenge Schönheit der beiden Forscherinnen verblaßte vor der ungewöhnlichen Faszination der Unbekannten.
„Ihr Name hat eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem“, sagte Dar Weter.
Die Mundwinkel der Unbekannten zuckten vor verhaltenem Spott.
„Ebenso wie Sie selbst eine gewisse Ähnlichkeit mit mir haben.“
Dar Weter blickte über den dichten, glänzenden Schopf ihres schwach gekräuselten schwarzen Haares hinweg und lächelte Weda zu.
„Dar, Sie verstehen es nicht, den Frauen Komplimente zu machen“, sagte Weda, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
„Ist das denn heutzutage noch nötig, da wir uns gegenseitig nichts mehr vorzutäuschen brauchen?“
„Auch heute noch“, mischte sich Ewda Nal ein. „Und es wird immer nötig sein.“
„Ich würde mich freuen, wenn man mir das erklärte.“ Dar Weters Gesicht hatte sich ein wenig verfinstert.
„In einem Monat halte ich an der ›Akademie des Leides und der Freude‹ meine Herbstvorlesung“, entgegnete Ewda. „Darin wird viel von der Bedeutung der unmittelbaren Emotionen die Rede sein.“ Sie nickte dem herangekommenen Mwen Mass zu.
Der Afrikaner ging wie immer gemessen und lautlos. Dar Weter bemerkte, wie sich Tscharas braune Wangen mit flammender Röte überzogen. Mwen Mass verbeugte sich gleichmütig.
„Ich habe Ren Boos mitgebracht. Er sitzt dort auf dem Stein.“
„Gehen wir zu ihm“, schlug Weda vor. „Wir begegnen dann sicherlich auch Miiko. Sie holt die Tauchgeräte. Kommen Sie mit, Tschara?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Ich warte auf den Meister. Die Sonne steht schon tief, und bald beginnt unsere Arbeit.“
„Es ist doch bestimmt nicht leicht, Modell zu stehen, nicht wahr?“ erkundigte sich Weda. „Ich bewundere Sie. Ich könnte es nicht.“
„Das habe ich auch immer geglaubt. Aber wenn den Künstler eine Idee gepackt hat, dann wird man von ihr mitgerissen. Man sucht selbst nach der idealen Verkörperung seiner Vorstellungen. Jede Bewegung, jede Linie besitzt Tausende von Nuancen. Man muß sie erhaschen wie flüchtige Töne.“
„Sie sind für den Maler einfach eine großartige Entdeckung, Tschara!“
„Ja, das ist sie!“ unterbrach Weda eine laute Baßstimme. „Und was meinen Sie, wie ich sie entdeckt habe! Es hört sich sehr unwahrscheinlich an.“ Kart San, der Maler, schüttelte die hocherhobene Faust. Sein helles Haar flatterte im Wind, sein wettergegerbtes Gesicht war gerötet.
„Begleiten Sie uns, wenn Sie Zeit haben, und erzählen Sie es“, bat Weda.
„Ich bin zwar ein schlechter Erzähler, aber es ist an sich schon interessant. Ich beschäftigte mich damals mit der Rekonstruktion der verschiedenen Rassentypen, die es einst, bis zur Ära der Partikularistischen Welt, gab. Nach dem Erfolg, den mein Bild ›Die Tochter Gondwanas‹ hatte, wollte ich unbedingt den Typ einer anderen Rasse rekonstruieren. Ich wollte ein Bild malen ›Die Tochter der Thetis‹, des Mittelmeeres. Mich beeindruckte, daß in den Sagen des alten Griechenlands, Kretas, des Zweistromlandes, Amerikas und Polynesiens die Götter dem Meer entstammten. Was gibt es Wunderbareres als die altgriechische Sage von Aphrodite, der Göttin der Liebe und der Schönheit! Allein schon der Name: Aphrodite Anadiomene — die Schaumgeborene. Eine Göttin, hervorgegangen aus Schaum und dem Licht der Sterne über nächtlichem Meer. Welch Volk hat je etwas Poetischeres ersonnen!“
„Aus Sternenlicht und Meeresschaum“, hörte Weda Kong Tschara flüstern und blickte das Mädchen verstohlen an.
Das strenge, wie aus Holz geschnitzte Profil Tscharas rief die Erinnerung an längst vergangene Zeiten wach. Die kleine, gerade, ein wenig abgerundete Nase, die leicht fliehende breite Stirn, das energische Kinn und vor allem der große Abstand zwischen Nase und Ohren — all das waren typische Züge der Völker des antiken Mittelmeergebiets.
Weda musterte sie unauffällig von Kopf bis Fuß und fand, daß alles an ihr ein wenig übers rechte Maß hinausging. Die Haut war zu glatt, die Taille zu schmal, und die Hüften waren zu breit. Da sie sich betont gerade hielt, wirkte ihre straffe Brust zu üppig. Aber vielleicht brauchte der Maler gerade diese stark ausgeprägten Formen.
Als der Weg von einem Steinwall gekreuzt wurde, war Weda erstaunt, wie leichtfüßig Tschara Nandi von Stein zu Stein sprang.
Sie hat zweifellos indisches Blut in den Adern, schlußfolgerte Weda. Bei Gelegenheit werde ich sie danach fragen.
„Um ›Die Tochter der Thetis‹ malen zu können“, fuhr der Maler fort, „mußte ich das Meer kennenlernen, es ganz in mich aufnehmen, sollte doch meine Kreterin wie Aphrodite aus dem Meer steigen, und jeder sollte dieses Bild verstehen. Bevor ich ›Die Tochter Gondwanas‹ malte, arbeitete ich drei Jahre in einem Forstbetrieb in Äquatorialafrika. Nachdem das Bild fertig war, ging ich als Mechaniker auf ein Postgleitboot und fuhr zwei Jahre lang auf dem Atlantischen Ozean die Post aus — wissen Sie, für all die Fischfang-, Eiweiß- und Salzfabriken, die dort auf gigantischen Metallflößen herumschwimmen.
Eines Abends befand ich mich mit meinem Boot im mittleren Atlantik, westlich der Azoren, wo zwei Strömungen aufeinandertreffen. Dort herrscht stets starker Wellengang. Bald wurde das Boot hoch emporgehoben, den tiefhängenden Wolken entgegen, bald schoß es ungestüm in ein Wellental. Die Luftschraube heulte. Ich stand neben dem Steuermann auf der hohen Brücke. Und plötzlich — ich werde es nie vergessen. Stellen Sie sich vor, da wälzt sich uns eine Welle entgegen, höher als alle anderen. Auf dem Kamm dieser riesigen Welle, dicht unter den niedrigen, zusammengeballten, perlmuttfarbenen Wolken, steht ein junges Mädchen, bronzefarben ihre Haut. Lautlos nähert sich die Welle. Das Mädchen scheint zu fliegen, sie wirkt unvorstellbar stolz in ihrer Einsamkeit inmitten des Ozeans. Unser Gleitboot wird emporgerissen und schießt an dem Mädchen vorbei, das uns freundlich zuwinkt. Da sah ich, daß sie auf einem Brett stand, wissen Sie, auf so einer Tafel mit Elektromotor und Akku, die man mit den Füßen steuert.“