Er dachte nicht mehr daran, daß seine Träume zerstört waren. Er überlegte, was nun an auch noch so geringem Wissen für die Menschheit auf Kosten zweier opfervoller Expeditionen gewonnen worden war.
Erg Noor dachte an seine heimatliche Erde, an seine Mitmenschen, deren Leben frei war von schweren Sorgen, von den Gefahren der Natur oder der Primitivgesellschaft. Natürlich gab es auch jetzt noch in der Epoche des Rings Mißerfolge, Irrtümer und Enttäuschungen, doch jetzt entstanden sie in den schöpferischen Prozessen der Wissenschaft, der Kunst und des Aufbaus. Allein das Wissen und die schöpferische Arbeit befreiten die Erde von den Unbilden des Hungers, der Übervölkerung, von Seuchen und schädlichen Tieren, bewahrte sie vor Mangel an Brennstoff, an nützlichen chemischen Elementen, vor frühzeitigem Tod und Siechtum der Menschen. Und dieses Wissen, jene winzigen Erkenntnisse, die die „Tantra“ mitbrachte, werden in die mächtige Bewegung des Denkens eingehen, die mit jedem Jahrzehnt einen Schritt nach vorn beim Aufbau der Gesellschaft und bei der Erkenntnis der Natur machte.
Erg Noor öffnete den kleinen Safe für das Bordjournal der „Tantra“ und nahm die Schachtel heraus, in der das Metallstück vom Tellerschiff auf dem schwarzen Planeten lag. Der Splitter wog ungewöhnlich schwer in seiner Hand.
Erg Noor wußte, daß es solch ein Metall weder auf dem heimatlichen Planeten und den Nachbarplaneten im Sonnensystem noch auf den nächstgelegenen Sternen gab. Außer der Nachricht vom Untergang des Lebens auf der Sirda war das vielleicht die wichtigste Information, die sie der Erde und dem Ring bringen würden. Der Eisenstern war der Erde sehr nah, ein Besuch des schwarzen Planeten durch eine speziell ausgerüstete Expedition würde jetzt nach den Erfahrungen der „Parus“ und der „Tantra“ nicht mehr so gefährlich sein, ganz gleich, welche schwarzen Kreuze und Medusen in dieser ewigen Finsternis auch existierten. Sie hatten an einer ungeeigneten Stelle das Tellerschiff zu öffnen versucht. Hätten sie Zeit gehabt, das Vorhaben gut zu durchdenken, wären sie vielleicht schon an Ort und Stelle darauf gekommen, daß die Riesenspirale zum Antriebssystem des fremden Sternschiffes gehörte.
Wieder tauchten in der Erinnerung des Expeditionsleiters die Ereignisse des letzten unheilvollen Tages auf, wieder sah er in Gedanken Nisa vor sich, wie sie sich schützend über ihn warf, als er hilflos vor dem Ungeheuer lag. Seit kurzem erst war in ihr jenes Gefühl erwacht, das in sich den heroischen Opferwillen der Frauen des Altertums mit der Aufgeschlossenheit und dem besonnenen Mut der modernen Zeit vereinte.
Lautlos erschien Pur Hiss hinter dem Leiter, um ihn abzulösen. Erg Noor ging aber nicht zu den Schlafräumen, sondern öffnete die schwere Tür zur Krankenkabine.
Das diffuse künstliche Tageslicht spiegelte sich in den Silikollschränken mit Arzneien und Instrumenten, in dem Metall des Röntgenapparats und der Geräte für künstliche Blutzirkulation und Atmung. Vorsichtig schob der Expeditionsleiter den bis zur Decke reichenden dichten Vorhang beiseite und trat in das Halbdunkel. Das matte Licht bekam durch das rosa Kristall des Silikolls einen warmen Ton. Zwei Stimulatoren, die für den Fall eines plötzlichen Kollapses eingeschaltet waren, klickten hin und wieder ganz leise; sie erhielten künstlich das gelähmte Herz am Schlagen. Nisa lag regungslos unter der Glocke und schien in einen ruhigen, glücklichen Schlaf versunken zu sein. Die gesunde, reine Lebensführung der Menschen viele Generationen hindurch hatte den weiblichen Körper — die herrlichste Schöpfung des reichen Erdenlebens — zu höchster ästhetischer Vollkommenheit gebracht. Die Menschen wußten längst, daß ihr Schicksal vom Wasserreichtum ihres Planeten abhing. Das Wasser hatte eine üppige Vegetation begünstigt, und die Pflanzenwelt wiederum hatte große Vorräte an freiem Sauerstoff erzeugt. Das tierische Leben hatte sich mehr und mehr ausgebreitet und sich im Laufe von hundert Millionen Jahren immer höher entwickelt, bis zum denkenden Wesen, dem Menschen. Die historische Erfahrung bei der Entwicklung des Lebens auf Planeten zahlloser Welten lehrte, daß die Menschen in ihrem Äußeren um so vollkommener wurden, daß sie sich den Umweltbedingungen und den Erfordernissen des Lebens um so besser anpaßten, je komplizierter und langwieriger der Weg der blinden Evolution und Auslese war.
Alles Bestehende bewegt und entwickelt sich spiralförmig. Erg Noor stellte sich diese gewaltige Spirale des allgemeinen Aufstiegs, angewandt auf das Leben und die menschliche Gesellschaft, bildhaft vor. Zum erstenmal wurde ihm deutlich: Je schwieriger die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Organismen als biologische Maschinen sind und je komplizierter der Entwicklungsweg der Gesellschaft ist, um so straffer ist diese Spirale gewunden, um so enger liegen ihre einzelnen „Windungen“ beieinander, folglich verläuft dieser Prozeß um so langsamer und genormter, die entstehenden Formen sind einander um so ähnlicher.
Er hatte sich geirrt bei seiner Jagd nach den Planeten der blauen Sonne, hatte Nisa nicht richtig unterwiesen. Zweck eines Fluges zu neuen Welten durfte nicht die Suche nach irgendwelchen unbesiedelten, sich willkürlich formenden Planeten sein, sondern das wohlüberlegte, schrittweise Vorrücken der Menschheit über den ganzen Spiralarm der Milchstraße, ein Siegeszug des Wissens.
Von plötzlicher Sehnsucht überwältigt, ließ sich Erg Noor vor der Silikollglocke auf die Knie nieder. Der Atem des Mädchens war nicht wahrzunehmen; die Wimpern warfen unter den geschlossenen Lidern violette Schatten. Auf der linken Schulter, am Ellenbogen und am Halsansatz schimmerten blaßblaue Flecke — das waren die Stellen, wo sie der Strom getroffen hatte.
Angesichts der regungslosen Gestalt preßte sich Erg Noor das Herz zusammen; sein Atem stockte, seine Kehle war wie zugeschnürt.
Die Ärztin Luma Laswi betrat leise die Krankenkabine. Als sie vorsichtig den Vorhang zurückschlug, sah sie den knienden Erg Noor. Nicht zum erstenmal traf sie ihn hier, und sie empfand tiefes Mitleid mit ihm. Als er sich erhob, trat Luma schnell auf ihn zu und sagte flüsternd: „Ich muß mit Ihnen sprechen.“
Erg Noor nickte und folgte ihr in den vorderen Teil der Krankenkabine. Luma bot ihm einen Stuhl an, aber er blieb stehen und lehnte sich an den Röntgenapparat. Die kleine Luma Laswi reckte sich vor ihm in die Höhe, um für das bevorstehende Gespräch größer und imposanter zu wirken. Der Blick des Expeditionsleiters ließ ihr keine Zeit, sich die Worte zurechtzulegen.
„Sie wissen“, begann sie unsicher, „daß die moderne Neurologie den Entstehungsprozeß der Emotion in der bewußten und der unterbewußten Sphäre der Psyche gründlich erforscht hat. Das Unterbewußtsein läßt sich durch hemmende Medikamente beeinflussen, und zwar über die Zentren des Gehirns, die den Organismus, darunter auch das Nervensystem und speziell die höhere Nerventätigkeit, chemisch regulieren.“
Erg Noor zog die Augenbrauen hoch. Luma Laswi spürte, daß sie zu ausführlich und langatmig sprach.
„Ich will damit sagen, daß die Medizin jene Gehirnzentren zu beeinflussen vermag, die die starken Gefühlsäußerungen lenken. Ich könnte…“
In Erg Noors Augen trat ein Ausdruck des Verstehens, er lächelte flüchtig.
„Sie wollen auf meine Liebe einwirken“, fragte er schnell, „um mich dadurch von meinem Leiden zu befreien?“
Die Ärztin blickte zu Boden.
Erg Noor schüttelte den Kopf. „Ich gebe meine Gefühle nicht her, wie sehr ich auch darunter leiden mag. Leid führt, wenn es nicht über die Kräfte geht, zum Verstehen, Verstehen zur Liebe — so schließt sich der Kreis. Ihre Besorgnis, Luma, ist völlig unnötig.“ Er reichte ihr dankbar die Hand und verließ eilig die Kabine.
Zum erstenmal nach dreizehn Jahren stellten die beiden Elektroneningenieure in der Steuerzentrale und in der Bibliothek wieder die Bildschirme für Erdensendungen auf. Das Sternschiff hatte die Zone erreicht, wo die Wellen der Erde — wenn auch mit Störungen — empfangen werden konnten. Die Stimmen, Töne, Formen und Farben des Heimatplaneten gaben den Weltraumreisenden neuen Mut und lösten gleichzeitig Ungeduld aus. Die ausgedehnte Reise im Kosmos wurde immer unerträglicher.