„Vielleicht ist es eine Expedition zum Neptun?“ mutmaßte der Biologe. Sie legten schnell den zwei Kilometer langen Weg bis zum Sanatorium zurück und stiegen dann die breite Terrasse hinauf, die nach Süden ging. Am schwarzen Himmel leuchtete heller als alle Sterne die winzige Scheibe der Sonne. Die 170 Grad Frost waren durch die heizbaren Skaphander nicht stärker zu spüren als die normalen Kältegrade eines irdischen Polarwinters. Große Flocken Ammoniak- oder Kohlensäureschnees fielen in der windstillen Atmosphäre auf sie nieder.
Wie hypnotisiert starrten Erg Noor und Eon Tal auf den Schnee. Wie einst für ihre in den gemäßigten Breiten lebenden Vorfahren der erste Schnee stets das Ende der Landarbeit bedeutete, kündigte dieser ungewöhnliche Schnee auch für sie ein Ende an — das Ende ihrer Reise und ihrer Strapazen.
Einer instinktiven Regung folgend, reichte Eon Tal dem Expeditionsleiter die Hand.
„Unsere Abenteuer sind zu Ende, und Ihnen haben wir es zu verdanken, daß wir unversehrt geblieben sind.“
Erg Noor wehrte schroff ab.
„Sind etwa alle unversehrt? Und wem habe ich es zu verdanken?“
Unbeirrt fuhr Eon Tal fort: „Ich bin überzeugt, Nisa wird gerettet werden! Die hiesigen Ärzte wollen die Kur unverzüglich beginnen. Sie haben schon bei Grim Schar, dem Leiter des Forschungsinstituts für allgemeine Lähmungserscheinungen, Instruktionen eingeholt.“
„Weiß man wenigstens, was es ist?“
„Vorläufig noch nicht. Nisa wurde durch eine Art Strom verletzt, der die Reaktionsfähigkeit der Ganglien des vegetativen Nervensystems verändert. Wenn man dahinterkommt, wie man die lang anhaltende Wirkung aufheben kann, ist das Mädchen geheilt. Haben wir nicht auch den komplizierten Mechanismus der chronischen Paralysen entdeckt, die so viele Jahrhunderte lang als unheilbar galten. Hier ist es etwas Ähnliches, lediglich durch einen äußeren Erreger hervorgerufen. Wenn man Versuche mit den gefangenen Scheusalen durchführen wird, ganz gleich, ob sie leben oder nicht, dann… werde ich auch meine Hand wieder gebrauchen können!“
Beschämt runzelte der Expeditionsleiter die Stirn. Über seinem Kummer hatte er vergessen, wieviel der Biologe für ihn getan hatte. Er ergriff Eon Tals Hand, und beide bekräftigten ihre gegenseitige Sympathie durch einen männlichen Händedruck.
„Sie glauben, daß die mörderischen Organe bei den schwarzen Medusen und bei diesem… kreuzförmigen Untier von der gleichen Art sind?“ fragte Erg Noor.
„Ich zweifle nicht daran. Ein Beispiel dafür ist meine Hand. In der Anhäufung und Umwandlung elektrischer Energie kam die Umweltangleichung der schwarzen Wesen zum Ausdruck. Sie sind die reinsten Raubtiere, aber wer ihre Opfer sind, wissen wir vorläufig noch nicht.“
„Erinnern Sie sich, was mit uns allen geschah, als Nisa…“
„Das ist etwas anderes. Ich habe lange darüber nachgedacht. Mit dem Erscheinen des kreuzförmigen Untiers wurden Ultraschallwellen von unglaublicher Stärke ausgesandt, die unser Bewußtsein ausschalteten. In dieser schwarzen Welt sind auch die Töne ›schwarz‹, unhörbar. Die Wirkung des Ultraschalls auf das Bewußtsein kommt der einer Hypnose gleich. Das hätte uns fast das Leben gekostet, wenn nicht Nisa…“
Der Expeditionsleiter schaute zur fernen Sonne, der schon immer die Hoffnung des Menschen galt, auch als er noch in der prähistorischen Periode inmitten der schonungslosen Natur dahinvegetierte. Die Sonne verkörperte auch jetzt noch die helle Kraft der Vernunft, die die Finsternis und die Alpträume der Nacht verjagt. Und auch bei Erg Noor entzündete das Gestirn einen Funken freudiger Hoffnung.
Der Stationsleiter des Triton besuchte Erg Noor im Sanatorium. Sein Erscheinen in den Quarantäneräumen bedeutete das Ende der Isolierung. Nach der Unterredung erklärte Erg Noor seinen Gefährten: „Wir fliegen noch heute ab. Man hat mich gebeten, sechs Personen von dem Planetenschiff ›Amat‹ mitzunehmen, das zur Erschließung neuer Erzvorkommen auf dem Pluto vorerst hierbleibt. Wir nehmen die Expedition und ihr Material vom Pluto mit. Diese sechs haben ein gewöhnliches Planetenschiff umgebaut und eine unwahrscheinlich kühne Tat vollbracht. Sie sind bis auf den Grund der Hölle vorgedrungen, durch die dichte Neon-Methan-Atmosphäre des Pluto. Sie haben den Planeten in Ammoniakschneestürmen umflogen, ständig der Gefahr ausgesetzt, in der Finsternis an dem stahlharten Eis zu zerschellen. Das Rätsel des Pluto ist endlich gelöst: Er gehört nicht zu unserem Sonnensystem. Die Sonne hat ihn auf ihrer Bewegung durch das Milchstraßensystem eingefangen. Deshalb ist seine Dichte auch weit größer als die der anderen fernen Planeten. Die Forscher haben eigenartige Mineralien aus einer ganz fremden Welt vorgefunden und vor allem auf einem der Berge Spuren fast restlos zerstörter Bauten entdeckt, die Zeugnis von einer unvorstellbar alten Zivilisation ablegen. Alle Angaben müssen natürlich noch überprüft werden, und selbstverständlich müssen erst Beweise für eine vernunftgemäße Bearbeitung des Baumaterials erbracht werden. Dennoch bleibt es eine erstaunliche Tat. Ich bin stolz darauf, daß wir die Helden zur Erde bringen dürfen, und ich brenne vor Ungeduld zu hören, was sie zu erzählen haben. Ihre Quarantänezeit ist vor drei Tagen abgelaufen.“
„Aber da besteht doch ein ernsthafter Widerspruch!“ rief Pur Hiss.
„Der Widerspruch ist die Mutter der Wahrheit!“ antwortete Erg Noor gelassen mit einem alten Sprichwort. „Es ist Zeit, das Planetenschiff startklar zu machen.“
Bald löste sich das Schiff vom Triton und jagte auf einem gigantischen Bogen, senkrecht zur Ebene der Ekliptik, dahin. Ein direkter Flug zur Erde war unmöglich. Jedes Raumschiff würde zugrunde gehen in dem breiten Gürtel von Meteoriten und Asteroiden, den Bruchstücken des Planeten Phaeton, der sich einst zwischen Mars und Jupiter befand, durch die Anziehungskraft dieses Giganten des Sonnensystems jedoch auseinandergerissen worden war.
Erg Noor beschleunigte die Geschwindigkeit: Er wollte die Helden nicht in den festgelegten 72 Tagen zur Erde bringen, sondern beschloß, unter Ausnutzung aller technischen Möglichkeiten die Strecke in kürzerer Zeit zu schaffen.
Durch den Kosmos drang eine Sendung von der Erde zum Planetenschiff; man beglückwünschte die Weltraumfahrer zu ihrem Sieg über den Eisenstern und über das Dunkel des eisigen Pluto. Zu Ehren der „Tantra“ und der „Amat“ erklangen Sinfonien und Lieder.
„37. Sternenexpedition“, meldete sich schließlich die Stimme von der Zentrale des Rates, „Landung frei auf El Homra!“
Das zentrale Kosmodrom befand sich dort, wo einst die Wüste in Nordafrika war. Dorthin flog das Planetenschiff durch die lichtdurchflutete Erdatmosphäre.
Die Sinfonie in f-Moll Farbtonart 4,750 μ
Durchsichtige Kunststoffplatten bildeten die Wände der breiten Veranda, die nach Süden zum Meer hin lag. Die matte Deckenbeleuchtung kontrastierte nicht mit dem hellen Mondlicht, sondern zeichnete die scharfen Schatten weicher. Auf der Veranda war fast die gesamte Meeresexpedition versammelt. Nur die jüngsten Mitarbeiter badeten im mondbeschienenen Meer. Kart San, der Maler, hatte sich mit seinem schönen Modell eingefunden. Frit Don, der Expeditionsleiter, erzählte von der Untersuchung des von Miiko entdeckten Pferdes. Als man, um das Gewicht zu berechnen, das Material bestimmen wollte, hatte man eine überraschende Entdeckung gemacht: Unter einer dünnen Schicht, die aus einer einfachen Legierung bestand, befand sich pures Gold. Wenn die Statue massiv war, betrug ihr Gewicht, nach Abzug des verdrängten Wassers, vierhundert Tonnen. Zur Bergung dieses Monstrums wurden Schiffe mit Spezialausrüstungen erwartet.
Als man auf die unsinnige Verwendung des wertvollen Metalls zu sprechen kam, erinnerte sich eines der ältesten Expeditionsmitglieder einer Sage, die er im Geschichtsarchiv gelesen hatte. Ihr zufolge war einst der gesamte Goldschatz eines Landes verschwunden. (Damals hatte Gold noch als Äquivalent der Arbeit gedient.) Die verbrecherischen Herrscher waren nach jahrelanger Unterdrückung des Volkes geflohen, weit über die Grenzen des Landes, die es dereinst noch gab. Zuvor ließen sie jedoch in aller Stille die gesamten Goldvorräte des Landes zusammentragen und daraus eine Statue gießen, die auf dem belebtesten Platz der Hauptstadt aufgestellt wurde. Das Gold konnte also niemand finden. Der Historiker äußerte die Vermutung, daß niemand geahnt habe, welches Metall unter der billigen Legierung verborgen sei.