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Die Talente ihres Vaters sind vielfältig. Er kann zeichnen, schreiben, er schafft dreißig Bierflaschen an einem Abend, er kann lustige Geschichten erzählen, wenn ihm danach ist, und er scheint eine große Wirkung auf Frauen zu haben.

Als er wieder einmal seit Tagen verschwunden ist, schickt die Mutter sie los, um den Saufbold zu suchen, und sie soll sich nicht ohne ihn nach Hause wagen. Sie läuft bis zum Einbruch der Dämmerung durch die Straßen, klappert die Kneipen ab und findet ihn schließlich im Parkcafé. Er sitzt neben einer Frau, die ihre Hände über seine gelegt hat. Die Fingernägel der Frau sind rot lackiert, und ihr knallroter Mund ist wie ein Herz geformt. Der Vater bringt sie zum Lachen, und sie meint, ihr Lachen zu hören, ein perlendes Lachen, wie aus den alten Filmen, die Montagabend im Fernsehen laufen. Ihr fröstelt, es ist kühl und windig, doch sie kann den Blick nicht von ihrem Vater abwenden, er sieht anders aus als die anderen Männer im Café, abenteuerlicher. Er trägt ein grünes Hemd, das einem Armeehemd ähnelt, sein dunkles Haar ist von weißen Strähnen durchzogen, und als er das Bierglas austrinkt, bewegt sich sein Adamsapfel so heftig, als wolle er ihm aus dem Hals springen. Beim Reden wirft er die Arme in die Luft, und sie kann sich vorstellen, was er erzählt: Geschichten aus seinem Leben. Die Frau neben ihm zeigt sich beeindruckt, flüstert ihm etwas ins Ohr, und der Vater lächelt auf eine traurige Art, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hat, und plötzlich ist sie beunruhigt. Wer ist dieser Mann, fragt sie sich, und was hat er mit ihr zu tun? Warum ist sie hier? Sie will nicht vor dem Fenster stehen und diesen Mann beobachten, doch was will sie dann? Am liebsten möchte sie ihr Leben mit zwei, drei großen Sprüngen hinter sich lassen und in einem ihr unbekannten Universum landen. Ein Windstoß fährt ihr in die Glieder, sie versucht das Frösteln abzuschütteln, geht zur Tür und betritt den Gastraum. Sie bewegt sich durch die abgestandene Luft, als müsse sie diese durchstoßen, bleibt vor dem Tisch stehen und wartet. Sie räuspert sich, spürt, wie sie rot wird. Obwohl der Vater sie längst bemerkt hat, spricht er weiter mit der Frau, als wäre seine Tochter gar nicht da. Die Frau beugt sich zu ihm, scheint ihm mit leiser Stimme eine Frage zu stellen, dann blickt sie zu ihr hoch. Er schüttelt den Kopf und winkt nach dem Kellner. Sie kommt sich vor, als wäre sie nackt und ihre Haut aus lauter Lügen zusammengesetzt, und sie wächst in ihre Scham hinein, akzeptiert, dass sie die Tochter dieses Mannes ist.

Vater, sagt sie und grinst.

Ihr Vater hebt seinen Arm, als müsse er etwas abwehren, dann schließt er die Hand und ballt sie zur Faust.

Es ist still geworden um sie herum. Ihr Vater lässt den Arm sinken und sagt: Na, sieh mal einer an. Doch statt seine Tochter mit einem Feuerwerk aus Flüchen zu bedenken, wie sie es erwartet hat, lächelt er, steht auf und bleibt leicht schwankend vor ihr stehen.

Gehen wir, sagt er leise und berührt mit seiner Hand ihren Ellenbogen.

Die Frau ruft ihnen etwas hinterher, doch es bringt ihren Vater nicht dazu, sich umzudrehen. Sie spürt Stolz in sich aufsteigen, diesmal hat sie es geschafft, er kommt mit ihr nach Hause. Auf der Straße stemmen sie sich gemeinsam gegen den Wind, ihr Vater seufzt, als hätten ihn die Worte im Stich gelassen. Er hält den Kopf gesenkt, sie hat sich bei ihm untergehakt. Vor ihrem Haus bleibt er stehen, sucht etwas in seinen Hosentaschen, dann setzt er ein besorgtes Gesicht auf.

Meine Brieftasche, flüstert er, hab meine Brieftasche, mein ganzes Geld im Café vergessen.

Ich hol es dir, flüstert sie, du kannst hier warten.

Nein, sagt er. Es ist zu spät.

Ich wäre ganz schnell wieder da, verspricht sie, mit einem Flehen in ihrer Stimme.

Er schlägt mit der flachen Hand gegen die Haustür, und ohne sie anzusehen, sagt er: Geh hoch, ich komme nach. Er versucht, mit einem Stoßseufzer seine Lüge abzumildern: Denkst du, mir macht das Spaß? Dann verschwindet er im Dunkel der Straße.

11

Sie ist beim Klauen erwischt worden. Beinahe hätte sie sich vor Schreck in die Hosen gemacht, als die Verkäuferin ihr an der Tür den Weg verstellte. Sie sieht noch immer deren triumphierendes Grinsen vor sich und ist froh, dass ihre Beute an diesem Tag nur aus einer Schachtel Bonbons bestanden hat. Sie bleibt bei ihrer Ausrede, dass sie nur vergessen habe, zu bezahlen, wer will ihr das Gegenteil beweisen — niemand kennt ihr Lager unter dem Bett, wo sie ihr anderes Diebesgut versteckt hält.

Als der Abschnittsbevollmächtigte in die Klasse kommt, ahnt sie, dass es ihretwegen ist. Während der Polizist einen Vortrag über sozialistisches Eigentum hält, überlegt sie sich ihre Strategie. Sie wird alles abstreiten. Sie versucht in dem Gesicht des Polizisten zu lesen, wie gut ihre Chancen stehen, damit durchzukommen. Als der Beifall verebbt ist, wird sie von ihrem Klassenlehrer nach vorn an die Tafel gerufen. Herr Baum wiegt bedächtig den Kopf und spricht von einer persönlichen Enttäuschung. Seine Worte kommen ihr verlogen vor, und sie fragt sich, woran der Lehrer seine Enttäuschung misst, er weiß doch gar nichts von ihr. Sie fühlt sich gedemütigt, weil es nicht darauf ankommt, ob sie die Tat leugnet oder gesteht, ihre Schuld wird einfach vorausgesetzt. Die Empörung sitzt ihr in der Kehle, und sie entschließt sich, unschuldig zu sein; die Verkäuferin hat sich geirrt, diese Möglichkeit könnte immerhin der Wahrheit entsprechen, und so ins Unrecht gesetzt, zeigt sie einen trotzigen Stolz. Sie zuckt die Achseln und betrachtet ihren Lehrer. Er ist alt, denkt sie, mindestens dreißig, und doch hat er keine Ahnung. Sie holt tief Luft und lässt einen leisen Pfeifton hören. Herr Baum runzelt streng die Stirn. Sie pfeift lauter und ist von ihrem Mut selbst überrascht, aber nun kann sie nicht mehr zurück, laut pfeifend geht sie an ihren Platz. Sie kann die Atemgeräusche ihrer Mitschüler hören, doch dann klingelt es zur Pause, und der Polizist verabschiedet sich, als hätte er es plötzlich sehr eilig. Herr Baum begleitet ihn hinaus.

In der Pause schaut sie sich herausfordernd im Klassenzimmer um. Vor ihr sitzt Lutz, ein dürrer, hässlicher Junge, der was mit der Lunge hat und immer friert. Wenn er hustet, holt er den Schleim tief aus den Bronchien und schluckt ihn geräuschvoll herunter. Er kann nicht anders, denn sonst hätte ihn die ihn umgebende Wand aus Abscheu längst davon abgehalten. Auch er sitzt allein. Als es zur Stunde klingelt und die Schüler neben ihren Schulbänken stehen, reißt sie ihm die Hose herunter, und da steht er, in seiner entsetzlichen Magerkeit, mit einem Zitterpimmel, und sie lacht am lautesten in dem einsetzenden Chor aus Schadenfreude.

Herr Baum schaut sie an, als würde ihn ihr Anblick ermüden, und erklärt mit ernster Stimme, dass er heute noch die Jugendhilfe informieren wird.

Die Mutter versetzt die Ankündigung dieses Besuchs in Aufregung. Sie steht auf dem Flur und lässt ihren Blick schweifen. Die Geschwister müssen den Boden schrubben, die Fenster putzen, die Treppe bohnern. Alex und sie bekommen neue Schuhe, und der Vater drückt ihr zwanzig Mark in die Hand, einfach so.