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Es ist eine ältere Frau, die dann vor der Tür steht. Das Treppensteigen hat sie erschöpft, ihr Atem kommt in kurzen Schüben aus dem Mund. Sie lässt sich von dem gedeckten Abendbrottisch täuschen, von der besorgten Stimme der Mutter und natürlich von der Hauptperson, die ihr glaubhaft versichert, dass sie ein ganz normales, schönes Leben führt.

Am nächsten Tag will der Vater die zwanzig Mark zurück, doch damit hat sie sowieso gerechnet.

Schlaftrunken ruft sie früh morgens ihren Bruder ans Fenster. Schneeflocken schweben durch die Luft, die Dächer glänzen weiß. Sie blinzelt reglos in das helle Gestöber; die Schläfrigkeit weicht, und Freude durchströmt sie. Die Geschwister ziehen sich eilig an und rennen nach draußen. Auf der Straße atmen sie die Schneeluft ein, reißen den Mund auf und lassen die Flocken auf der Zunge schmelzen.

Freude ist etwas Wichtiges in ihrem Leben. Sie freut sich, wenn in der Wohnung alles still ist und sie lesend im Bett liegt; wenn sie Hunger hat, liest sie ihr Lieblingsmärchen, in dem das kluge Gretel zwei Hühner für ihren Herren über dem Feuer braten soll, erst den einen Flügel, dann den anderen kostet und schließlich nicht mehr an sich halten kann und den ganzen wunderbar duftenden Braten aufisst. Immer, wenn sie dieses Märchen liest, malt sie sich genau aus, wie sie später selbst Hühner und Enten in ihrer Küche zubereiten wird, sie stellt sich einen eisernen Herd vor, die Töpfe sind groß und schwer, das Geschirr hat blaue Tupfen.

Sie spielt noch mit Puppen, und es macht ihr Freude, Kleidung für ihre Puppen zu häkeln oder ihnen aus alten Stoffresten etwas zu schneidern. Manchmal kann sie nicht einschlafen, weil sie sich den Kopf zerbricht, was Kerstin, die große Blonde, und die noch namenlose Negerpuppe anziehen sollen. Sie geht Flaschen sammeln und stiehlt Geld für das Leben ihrer Puppen.

Sie freut sich auf Weihnachten. Schon Wochen vorher plant sie genau, wer welche Geschenke bekommt. Unter ihrem Bett befinden sich neben anderem Diebesgut auch drei Blusen, jede so groß wie ein Zelt, die sie für Elviras Mutter im Kaufhaus gestohlen hat. Am Dienstag vor Weihnachten, nach dem alten Film, überreicht sie Elviras Mutter das eingewickelte Geschenk. Schwer atmend sitzt diese auf dem Küchenstuhl, der unter ihren Massen verschwindet, ihr Doppelkinn zittert, als sie versucht, die Schleife zu lösen. Sie packt die Blusen aus, hält sie hoch, eine nach der anderen.

Drei Blusen?

Rot, gelb und grün, sagt sie, ich dachte, das steht Ihnen.

Das ist sehr nett, aber warum drei?

Ich konnte mich nicht entscheiden, sagt sie, ohne zu überlegen, und fühlt ein Pochen hinter ihrer Schläfe.

Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann, sagt Elviras Mutter. Hörbar seufzend packt sie alles wieder ein.

Das Geld hab ich gespart, sagt sie schnell, ich war Flaschen sammeln, doch dann spürt sie, dass etwas falsch ist, sie will Elviras Mutter nicht anlügen. Sie gibt zu, die Blusen gestohlen zu haben.

Damit muss Schluss sein, sagt Elviras Mutter nach einem langen Schweigen.

Sie starrt auf die dunklen Härchen über ihrer Oberlippe und verspricht es.

Ihr Vater schmückt den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, schwungvoll wirft er das Lametta über die Äste. Sie verharrt auf der Türschwelle und beobachtet ihn. Er ist älter als ihr Klassenlehrer, und doch erscheint er ihr jünger, er trägt einen blauen Overall wie ein Handwerker, zu seinen Füßen liegen bunte Kugeln und ein Wust von zerknitterten Papieren. Als er sie bemerkt, hält er kurz inne.

Wusstest du, dass die Rothaarigen langsam aussterben? sagt er gedankenverloren.

Woher weißt du das? sagt sie und setzt ein interessiertes Gesicht auf.

Er zuckt die Achseln und blickt in Richtung Fenster. Keine Ahnung, sagt er. Dann greift er zur nächsten Lamettapackung und verteilt die silbernen Fäden auf den Ästen. Der eine weiß das, der andere das, seine Stimme klingt, als müsse er nach Luft schnappen. Ist doch keine große Sache, sagt er, starrt auf die Uhr an seinem Handgelenk, dann sieht er seine Tochter an.

Sie meint diesen Blick zu kennen, doch sie ist sich nicht sicher. Sie weiß nie, was er als Nächstes tun wird. Es gibt keine erkennbaren Gesetze für ihr Zusammenleben, keine gültige Gerechtigkeit; ein Vorfall, der ihr morgens eine Tracht Prügel einbringt, kann abends nur ein müdes Lächeln bei ihm hervorrufen. Er benutzt seine Hände beim Schlagen, anders als ihre Mutter, die den Gürtel bevorzugt, und das kommt ihr irgendwie gerechter vor.

Er atmet aus und hält eine rote Glaskugel ans Licht. Schöne Farbe, sagt er, erinnert mich an was.

Und er kann malen, wie ein wirklicher Künstler, die Frauen auf seinen Bildern haben halb geschlossene Augen und spitze Brüste, doch am liebsten mag sie sein Ölgemälde, das über dem Sofa hängt, es zeigt einen gewaltigen Dreimaster, der gegen den Sturm kämpft, und im Hintergrund Blitze.

Ein Falter umkreist den Lampenschirm, flattert die Decke entlang. Ihr Vater starrt schon wieder auf die Uhr, dann zeigt er auf den Falter. Was macht der denn hier? Es ist doch Winter. Er schüttelt verständnislos den Kopf, kratzt sich unter den Achseln. Sie hat ihren Vater noch nie nackt gesehen. Als er einmal unbekleidet in der Küche stand und in den Ausguss pinkelte, hatte sie sich nicht getraut hinzugucken.

Es ist drei, sagt er, noch viel zu früh.

Der Falter lässt sich kurz auf seiner Hand nieder, dann fliegt er weiter.

Tagsüber hat es geregnet, und die Straßen sind spiegelglatt. Die Geschwister schlittern die abfallenden Wege im Park entlang. Ein eisiger Windhauch geht durch die kahlen Äste der Bäume, Kälte brennt auf ihren Wangen. Es ist Heiligabend.

Meinst du, ich bekomme den Trecker? fragt Alex.

Er ist so aufgeregt, dass er vergisst, Grimassen zu schneiden, sein Gesicht ist ruhig, seine Augen leuchten.

Bestimmt, sie nickt und tritt in das splitternde Eis einer Pfütze. Sie denkt darüber nach, ob sie zu gierig gewesen ist, zu viele Wünsche aufgeschrieben hat und ob sich das ungünstig auf die Erfüllung auswirken könnte. Doch liegt es überhaupt in ihrer Macht, ob ihre Wünsche erfüllt werden? Sie beantwortet die Frage mit einem eindeutigen Nein und fühlt sich erleichtert. Ihr Bruder scheint noch an ein Ja zu glauben, es muss einen Ort in ihm geben, wo Unschuld und Hoffnung sich aufhalten, er glaubt an Dinge — obwohl er doch oft enttäuscht wurde —, die ihr längst unmöglich vorkommen; er glaubt, dass alles normal wird, eines Tages, und allein diesen Gedanken findet sie so unwirklich, als würde sie die Augen schließen und glauben, blind zu sein.

Um acht Uhr abends steigen sie verfroren die Treppen hoch und klopfen an die Tür. Ihr Vater öffnet ihnen im Bademantel, und sie schlüpfen schnell an ihm vorbei ins Kinderzimmer. Sie haben ein kleines Weihnachtsprogramm vorbereitet. Sie hat Alex einen Umhang aus Krepppapier gebastelt, der ihn wie ein zart zerknittertes Zelt umhüllt, und auch eine Kappe, die etwas zu klein geraten ist. Sie malt ihm mit dem Augenbrauenstift ihrer Mutter einen Schnurrbart ins Gesicht, er soll aussehen wie ein Husar; der Vater hat ihnen erzählt, er selbst stamme von einem ungarischen Husaren ab.

Als sie ins Wohnzimmer gerufen werden, starrt Alex auf den leuchtenden, bunt geschmückten Baum und vergisst sich zu drehen, wie sie es vorher geprobt haben. Sie stupst ihren Bruder an, und er breitet entrückt, wie ein Schlafwandler, die Arme aus. Eine Weile lang bleibt es still. Dann ist nur das knisternde Geräusch zu hören, als Alex sich schließlich doch noch zu drehen beginnt und dabei der Umhang aus Krepppapier durch die Luft fliegt. Statt laut zu singen, flüstert er, die Kappe ist ihm längst heruntergefallen, sie räuspert sich, ohne Erfolg, ihr Bruder bewegt sich auf die Stelle unter dem Weihnachtsbaum zu, wo die Geschenke liegen, und setzt sich einfach auf den Boden. Sie hört ihre Eltern lachen und zuckt verlegen die Achseln, das Lachen ihrer Mutter geht in ein Gekicher über. Du bist ja total irre, hört sie ihren Vater laut lachend sagen, und sie begreift, dass sie nicht über sie oder ihren Bruder lachen, sie lachen über sich selbst. Sie überreicht der Mutter die gehäkelten Topflappen, ihrem Vater schenkt sie eine Zeichnung, auf der in bunten Farben ein jonglierender Clown zu sehen ist.