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Danke, sagt die Mutter, und nun schau dir deine Geschenke an.

Sie packt eine rosa gekleidete Babypuppe aus und spürt den erwartungsvollen Blick der Mutter. Doch sie mag keine glatzköpfigen Babypuppen, man kann ihnen nur langweiliges Zeug anziehen, und kämmen lassen sie sich auch nicht. Sie drückt die Puppe an sich und hält die Luft an. Auf dem Fußboden liegen noch weitere Geschenke. Doch bevor sie die auspacken darf, muss sie Freude zeigen, sie muss lächeln und Worte der Dankbarkeit stammeln. Danke, sagt sie und setzt ein großes, breites Lächeln auf, danke, danke, danke. Ihre Mutter scheint keinen der falschen Töne zu hören. Freust du dich, ruft sie, mein gutes Pferdchen, der Weihnachtsmann hat sich Mühe gegeben.

Alex fährt seinen Traktor über den Boden und macht brummende Geräusche. Der Vater hat den Ärmel des Bademantels bis zum Ellbogen hochgekrempelt und bestaunt eine neue goldene Uhr an seinem Handgelenk. Die Kerzen im Baum brennen herunter, ein paar Tannennadeln werden von den Funken getroffen und entzünden sich rötlich knisternd. So riecht Weihnachten, denkt sie, und ihre Mutter springt zum Baum und bläst die letzten noch brennenden Kerzen aus, mustert den Baum von oben bis unten, dann klatscht sie in die Hände und sagt: Und nun ab in euer Zimmer.

Sie nimmt ihre Geschenke und ruft Alex, der völlig versunken mit seinem Traktor spielt und nichts zu vermissen scheint. Er trottet ihr hinterher, seine Arme voller Spielsachen, die er sorgfältig, wie jedes Jahr, vor seinem Bett platziert. So hat er sie noch vor dem Einschlafen im Blick und kann sie gleich sehen, wenn er aufwacht.

Früh morgens betrachtet sie die mit Eisblumen geschmückten Fenster und haucht kreisrunde Flecke an die Scheibe. Draußen schneit es, und sie denkt daran, dass ihr Bruder sich Schnee gewünscht hat. Aber sie wird ihn nicht wecken, denn diese Augenblicke, in denen noch alles still ist, sind ihr kostbar. Sie geht noch einmal ins Bett, nimmt ihr neues Märchenbuch und taucht ein in eine Welt, in der so viel möglich ist, wo ein Tisch sich selbst deckt, der Teufel durch ein Nadelöhr passt, wo die Armen belohnt werden und die Bösen bestraft.

Der erste Weihnachtstag verläuft sorglos, erst am Abend ist sie wieder dran. Sie hat nicht widerstehen können, ist immer wieder zum Backofen gegangen und hat von der knusprigen Gänsehaut gekostet. Die Mutter steht erstarrt vor der Gans, als könne sie nicht fassen, was geschehen ist. Der Ausdruck in ihrem Gesicht verändert sich langsam, von Verblüffung in Wut. Sie sammelt Spucke in ihrem Mund und speit auf das Fleisch. Dann stellt sie die Kasserolle auf den Tisch und setzt sich.

Guten Appetit, sagt die Mutter und schaut sie drohend an, jetzt kannst du alles aufessen.

Sie weiß, dass sie aus dieser Situation nicht rauskommt. Sie fühlt ihre Zunge dick und pelzig im Mund, ein riesiger Berg, unter dem Blick ihrer Mutter beginnt sie zu essen.

12

Von einem Tag auf den anderen ist der Vater wieder verschwunden, diesmal hat er all seine Sachen mitgenommen.

Die letzten Februartage sind frostig. In der Dunkelheit wird sie von der Mutter losgeschickt, um Briketts zu klauen, die in kleinen Bergen festgefroren vor den Mietshäusern liegen. Als die Kohlenhaufen auf den Straßen zur Neige gehen, füllt sie ihre Eimer im Nachbarkeller mit Kohlen. Früh, wenn noch alle schlafen, heizt sie und bringt die Asche in den Hof herunter. Sie mag es, als Erste wach zu sein, mag den Geruch des Morgens, im Mund die Kälte.

Die Mutter ist fast eine Woche nicht zu Hause gewesen, bei ihrer Rückkehr bringt sie ihren Kindern Geschenke mit. Einen großen, blauen Plüschelefanten, Plastikobst und winzige Fläschchen für den Kaufmannsladen. Die Geschenke hält Arno im Arm. Ausgelassen wirbelt er den Plüschelefanten durch die Luft. Arno ist Franzose. Er hat ihrer Mutter eine Parfümflasche geschenkt, die aussieht wie der Eiffelturm. Die Mutter hat ihn in der Mitropa kennengelernt, seine Stimme habe es ihr angetan, verrät sie ihrer Tochter in einem glücklichen Moment. Er zieht aus dem Hotel zu ihnen, doch er kann nur wenige Tage bleiben, dann muss er zurück nach Frankreich. Sie beobachtet, wie ihre Mutter seine Kleidung und die Brieftasche durchsucht. Die Mutter lacht, wenn Arno spricht, gurrend, wie eine Taube, sein Deutsch klingt lustig, als wäre er von der Sprache amüsiert. Nach Arnos Abreise ist die alte Gereiztheit ihrer Mutter wieder da. Sie rechnet den Geschwistern vor, wie teuer sie sind, sie hätte sich ohne Kinder längst ein Auto oder sogar ein Haus kaufen können.

Arno besucht sie noch einmal, doch nach dem ersten heftigen Streit macht er sich schleunigst aus dem Staub. Nach Arno gibt es andere Männer, einen Amerikaner mit Halbglatze, der ihnen Zaubertricks vorführt, einen Österreicher, in dessen kleinem, feuchtem Mund ständig eine Pfeife steckt, und noch einen Franzosen. Die Mutter scheint eine Vorliebe für das kapitalistische Ausland zu haben, zumindest was die Herkunft ihrer Liebhaber betrifft.

Aus irgendeinem Grund beginnt die Mutter, über Körperhygiene zu sprechen, sie will wissen, wie oft sich ihre Tochter untenherum wäscht, ob sie schlechte Gedanken hat. Die Mutter kontrolliert ihre getragenen Schlüpfer, und natürlich kommt sie sich gedemütigt vor, auch deshalb, weil sie so tun muss, als ob sie von nichts eine Ahnung hätte. Was für schlechte Gedanken, fragt sie, und die Mutter spricht es nicht aus, Sex oder Ficken, Wörter, bei denen es ihr heiß wird.

Sie hütet sich, etwas von sich preiszugeben, sie weiß, wie gefährlich das sein kann. Aus einer Laune heraus durfte sie einmal abends mit dem Österreicher und der Mutter einen Film anschauen. Es war ein russischer Kriegsfilm, sie saß auf dem Stuhl neben der Tür und war völlig gebannt von Iwan, einem Jungen, so alt wie sie, der keine Angst kannte. Während die Mutter auf dem Sofa mit neckender Stimme Einwände gegen die Handlung und Schauspieler erhob, wurde sie so mitgerissen, dass sie am Ende des Films leise schluchzte.

Die Mutter stand vor ihr und betrachtete sie voller Abscheu. Ich schäme mich für dich, sagte sie, und dieses Mal traf die Verachtung der Mutter sie ungeschützt.

An einem schon frühlingshaften Abend, als sie das Gebrüll der Mutter über sich ergehen lässt — sie solle endlich abhauen, ihr den Anblick ersparen —, beschließt sie, die Mutter beim Wort zu nehmen. Noch während sie die Treppen herunterspringt, spürt sie Erleichterung und eine fast greifbare Energie. Die erste Nacht verbringt sie bei Elvira im Kleiderschrank, es ist eng, ungemütlich und riecht nach Mottenpulver. Morgens geht sie brav in die Schule, die Lehrer merken nichts, nach der Schule macht sie einen großen Bogen um ihr Haus. In der nächsten Nacht versucht sie, in einem Abrisshaus zu schlafen, doch es ist noch zu kalt, und so streift sie durch die Straßen und wartet darauf, dass im Morgengrauen die Milchkästen vor den Konsum gestellt werden. In der Hofpause spricht sie ein Mädchen aus der Parallelklasse an, Romy, die auch schon einmal von zu Hause ausgerissen ist, und Romy bietet ihr zum Übernachten die Laube ihrer Eltern in einer Kleingartenanlage an.

Mit Proviant versorgt, zieht sie abends in die Laube, der Mond hängt tief, eine helle Scheibe mit Kratern und Rissen, sie versucht sich das Leben dort vorzustellen, ein abenteuerliches Gefühl zu empfinden, doch es gelingt ihr nicht. In der Laube gibt es keinen Strom, und als die Dunkelheit hereinbricht, liegt sie, in Decken gehüllt, auf dem Sofa und wartet darauf einzuschlafen. Am nächsten Tag hat sie keine Lust, in die Schule zu gehen. Sie bleibt einfach liegen, will weder nach draußen noch etwas essen. Als Romy nachmittags mit Freunden vorbeikommt, ist sie schweigsam. Romy besucht sie erst ein paar Tage später wieder, diesmal von zwei Polizisten begleitet. Sie nimmt es Romy nicht übel, dass sie sie verpfiffen hat. Trotzdem beginnt sie zu heulen, sie sieht alles wie durch einen Schleier, der Himmel kommt ihr so niedrig vor, als würde er ihr gleich auf den Kopf fallen. Sie wird aufs Revier gebracht, wo man sie schon erwartet. Da ist ja unsere Ausreißerin, sagt ein Glatzkopf und reicht ihr die Hand. Eine Polizistin fragt, warum sie abgehauen ist, und ihr fällt nichts ein, was sie sagen könnte. Es ist eine Weile still, sie kaut an ihren Fingernägeln, an der Wand hängt ein Bild von Honecker, sie stellt ihn sich kurz ohne sein gleichmütiges Lächeln vor.