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Ich will nicht nach Hause, sagt sie.

Musst du auch nicht, sagt der Glatzkopf, dein Vater wird dich holen.

Sie glaubt, sich verhört zu haben, doch dann erklärt ihr die Frau, dass ihr Vater bald auf dem Revier eintreffen werde, das Jugendamt sei bereits in Kenntnis gesetzt und ihre Mutter einverstanden. Sie versucht zu erkennen, ob die Frau lügt oder einfach falsch informiert ist, doch dann hört sie die Stimme ihres Vaters auf dem Korridor.

Erst später, als sie in dem blauen Wartburg hinter ihrem Vater sitzt, kann sie sich beruhigen. Sie mustert die Frau am Steuer. Eine Freundin ihres Vaters? Ihre künftige Stiefmutter? Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, dreht sich die Frau zu ihr. Ich heiße Ellen, sagt sie, und sobald dein Vater geschieden ist, werden wir heiraten.

Ellen hat rote Haare, und ihr Bauch ist so mächtig, als wäre sie mindestens im sechsten Monat. Sie wirkt friedlich, vielleicht etwas verschlafen, doch auf jeden Fall friedlich.

Sie weiß nicht, wie sie ihrer Freude Ausdruck verleihen soll; sie schwört sich, ihrem Vater das nie zu vergessen. Er zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Wir fahren zuerst nach Prenzlau, sagt er, und dann weiter an die Ostsee. Er zieht eine kleine Flasche Stonsdorfer aus seinem Jackett und trinkt einen Schluck. Sie hat ihren Vater noch nie im Jackett gesehen.

Hast du Arbeit an der Ostsee? sagt sie.

Wir werden dort im Hotel Atlantik sein, sagt er, später bekomme ich mein eigenes kleines Restaurant. Seine Stimme klingt stolz.

Sie schaut aus dem Fenster, sieht den Himmel dunkel werden, Felder und Bäume fliegen vorbei. Dann hält das Auto, und die Scheinwerfer erfassen ein Haus am Straßenrand. Sie werden von Ellens Mutter begrüßt, einer freundlich aussehenden Frau mit grauen Locken und einer Warze am Kinn.

Als sie im Kinderbett von Ellen liegt, versucht sie sich etwas völlig Neues auszudenken, eine Zeit ohne Tag oder Nacht, doch es kommt nur eine Art Dunst heraus, und während sie noch darüber nachdenkt, ob jetzt alles anders wird, schläft sie ein.

Morgens geht sie leise nach draußen in den Garten. Es riecht nach frischer Erde, die ersten Brennnesseln sind von einem zarten Grün. Sie findet eine tote Schwalbe und beginnt, ihr Grab wie eine Wohnung auszubauen. Die Schwalbe bekommt ein gemütliches Lager aus Gras, die Vorratskammer stopft sie voll mit gelben Sumpfdotterblumen, und sie stellt sich vor, dass die Schwalbe gar nicht tot ist, sondern langsam erwacht, ganz wie bei Däumelinchen im Märchen.

Nach dem Mittagessen wird der Badeofen für sie geheizt, und sie bleibt in der Wanne sitzen, bis das Wasser kalt ist. Später geht Ellen mit ihr in die Stadt und kauft ihr ein Sommerkleid und rote Schuhe, sogar ein Hütchen bekommt sie, das sie natürlich nie aufsetzen wird.

Sie braucht Geld und möchte es nicht stehlen. Sie braucht es, um sich fotografieren zu lassen. Es gibt ein Fotogeschäft auf dem Marktplatz, und sie will unbedingt dokumentieren, wie sie aussieht mit dem neuen Sommerkleid, gleichzeitig schämt sie sich für so einen albernen Wunsch. Schließlich zwingt sie sich, ihren Vater um das Geld zu bitten, und er gibt es ihr, will nicht einmal wissen, wofür sie es möchte.

Von den Fotos ist sie enttäuscht, sie weiß nicht, wer sie da anblickt, das Lächeln scheint jemand anderem zu gehören.

Am liebsten würde sie für immer hierbleiben, doch dann fahren sie weiter. Inzwischen hat sie erfahren, was es mit dem großen Bauch von Ellen auf sich hat: Sie ist scheinschwanger, das heißt, in ihrem Bauch ist nur Luft und kein Kind.

13

Das Hotel Atlantik sieht aus wie ein Schloss, ein Dornröschenschloss, und sie versucht sich die Mauern rosenüberwuchert im Sonnenlicht vorzustellen, doch noch weht ein kühler Wind vom Meer her. In dem großen Zimmer steht ihr Bett direkt neben dem Ehebett, zu nah, findet sie und zieht es vor, auf dem Sofa zu schlafen.

Ihr Vater besteht darauf, dass sie jeden Morgen, bevor sie zur Schule geht, eine Tasse Milch trinkt. Sie ist nicht besonders aufgeregt, als sie zum ersten Mal in ihre neue Schule geht. Spätestens im Herbst wird sie woanders sein, weil Saisonkellner im Winter nie an der Ostsee arbeiten. Andererseits hätte sie hier eine Chance, sich neu zu erfinden; niemand kennt sie, sie hat neue Kleider, einen neuen Haarschnitt, eine neue Schultasche, warum sollte nicht auch sie selbst völlig neu sein können? Sie könnte sich als tolle Sportlerin zeigen, als vorbildliche Schülerin. Doch noch während die Lehrerin sie begrüßt und ihr den Platz zuweist, weiß sie, dass es sinnlos wäre, sich anzustrengen; sie wird neben ein Pummelchen gesetzt, das sie auf den ersten Blick als Außenseiterin erkennt, die anderen Mädchen stecken die Köpfe zusammen und kichern.

Nach Schulschluss läuft sie durch den Kiefernwald, die Dünen hinunter zum Meer, geht am Strand entlang, sucht nach Bernsteinen und vom Sand stumpf geschliffenen Glasscherben. Sie hat schon ein ganzes Glas voll gesammelt, sie sucht auch Muscheln, die sie auf Zigarrenkisten klebt, in die Zwischenräume streut sie winzige Glitzerkörner. Das sind Geschenke für Ellen und ihren Vater. Sie malt auch Bilder, häkelt Topflappen, ihre Blumensträuße sind sorgfältig zusammengestellt: Margerite, Kornblume, Mohn, von Sauerampfer und Gräsern umrandet; sie versucht Ellen und ihren Vater jeden Tag zu beschenken.

Oft sitzt sie nahe den Bahngleisen, lässt sich von dem Geruch nach Rauch, Sommerluft und Kräutern betören, dreimal am Tag kommt die schwarze Molli vorbei, eine langsam fahrende Dampflokomotive. Das Pfeifen des Zugs weht zu ihr herüber, als wäre dies ein Gruß, nur an sie gerichtet. Überall blühen gelbe, weiße, bläuliche Kräuter, wilde Gräser und goldfarbene Büsche, ein Farbenmeer bis zum Horizont, dahinter das richtige Meer, und noch weiter dahinter soll der Westen sein. Der Westen steht für alles, was für sie niemals erreichbar sein wird. Manchmal versucht sie sich vorzustellen, wie der Westen aussieht, ihre Fantasie reicht von einer Kraterlandschaft bis zum Schlaraffenland, eigentlich aber beunruhigt er sie in seiner Unwirklichkeit. Lieber bleibt sie bei dem, was ihr vertraut ist; sie denkt an ihren Bruder, auch an die Mutter, sie vermisst ihre Puppen, doch sie beschließt, dass sie sie nicht mehr braucht.

Im Hotel wohnen auch Ausländer, der lange Flur ist eine Geräuschkulisse aus verschiedenen Sprachen; es gibt zärtliche Laute, die geschmeidig wie fliegende Fische durch die Luft gleiten, es gibt Radau, Lachen, ersticktes Weinen, und manchmal rutscht eine Klage durch die Türritzen und verharrt dort wie ein Geist. Sie klopft an die Türen und bittet um Briefmarken; bald hat sie so viele Briefmarken gesammelt, dass sie ein Album damit füllen kann. Auf ihrer Lieblingsmarke ist ein tanzendes goldenes Nilpferd zu sehen.

Sie hat sich mit einem polnischen Jungen angefreundet, sein Vater ist Sänger in der Combo, die abends im Hotelsaal spielt, seine Mutter streicht ihr oft übers Haar und sagt in gebrochenem Deutsch, wie schön sie sei, dunkles Haar und blaue Augen, sie prophezeit ihr viele Verehrer. Wodek zeigt ihr, wie man auf zwei Fingern pfeift. Sie laufen den Kutschen hinterher, in denen Touristen durch die Gegend gefahren werden, und setzen sich hinten auf die Ersatzreifen, manchmal knallt der Kutscher mit der Pferdepeitsche nach ihnen. An einem Abend, während sein Vater spanische Schnulzen singt, küsst Wodek sie. Noch stundenlang scheint ihr Mund zu brennen. So hat sie sich einen Kuss nicht vorgestellt, sie hat zwar gewusst, dass die Zunge mit im Spiel ist, aber nicht, dass es sich so eklig anfühlt, darauf kann sie verzichten. Doch sie schafft es nicht, ihm ihren Mund am nächsten Abend zu verweigern.