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Wodek hat eine Idee, er will den Urlaubern am Strand billig eingekaufte Limonade teuer verkaufen, dafür aber braucht er erst einmal Geld.

Bist du dabei? sagt er und zieht einen Grashalm durch die Zähne. Sie ahnt, was kommen wird, dennoch ist sie sofort einverstanden.

Fünf Mark würden fürs Erste genügen, sagt er, und das Geld zu beschaffen ist natürlich ihre Aufgabe.

Sie nimmt einen Schein aus der Brieftasche des Vaters, unglücklicherweise hat ihr Vater die Scheine gezählt. Niemals könnte sie zugeben, ihren Vater bestohlen zu haben — den Vater, der so heroisch seine Tochter zu sich geholt hat. Sie lügt verzweifelt, lügt sich in ihre Wahrheit hinein, die einzige Möglichkeit, aus der Sache wieder herauszukommen.

Ihr Vater schließt sie im Zimmer ein und geht. Sie schlingt die Arme um ihren Oberkörper, läuft laut weinend, ihre Unschuld beteuernd, durch den Raum, doch die Stunden vergehen, und ihr Vater kommt nicht zurück. Sie ist müde, ihre Stimme heiser, das Blut rauscht in ihren Ohren. Sie will nur noch weg von hier. Sie packt ihre Sachen in einen Beutel, klettert aus dem Fenster den Blitzableiter herunter und landet auf einem flachen Teerdach. Von dem Teerdach sind es mindestens noch fünf Meter bis auf den Boden. Sie wirft zuerst den Beutel herunter, dann setzt sie sich auf den Rand des Daches und schaut nach unten, versucht abzuschätzen, ob sie da heil ankommen kann, und ist am Abend immer noch nicht gesprungen. Erst als oben im Zimmer das Licht angeht, springt sie in die Tiefe, und der Aufprall auf dem Boden ist genauso schlimm, wie sie befürchtet hat.

Es hätte besser enden können, sagt der Arzt, als er sich die Röntgenbilder ansieht; sie muss für eine Weile im Krankenhaus bleiben. Ellen besucht sie mit verweintem Gesicht, und ihr Vater zwinkert ihr am Bett stehend zu, sie sieht sofort, dass er getrunken hat. Niemand spricht mehr von dem Diebstahl. Sie nimmt sich vor, Flaschen zu sammeln und die fünf Mark zu ersetzen, doch sie verwirft den Gedanken wieder — hat sie nicht mit dem Sprung in die Tiefe bewiesen, dass sie keine Diebin ist?

Es hat sich einiges verändert, als sie aus dem Krankenhaus kommt. Wodek ist weg, die Combo seines Vaters in ein anderes Ostseebad weitergezogen. Ihr Vater ist nun Gaststättenleiter in einem kleinen Tanzlokal, und sie haben eine eigene Wohnung. Stolz führt er sie durch die Gaststätte. An den Fenstern hängen orangefarbene Gardinen, die Tanzfläche glänzt, als wäre sie mit Speck poliert, die Köchin trägt eine weiße Schürze, die über ihrem mächtigen Busen spannt, durch die Küchenfenster fällt helles Mittagslicht auf Geschirr und Töpfe, alles erscheint ihr friedlich.

Ellen erinnert sie an einen Kugelfisch. Die Fische können Luft und Wasser in ihrem elastischen Magen aufnehmen und so den Körper zu einer Kugel aufblähen. Dann steigen sie an die Oberfläche und schwimmen wie Bälle auf dem Wasser. Sie stellt sich vor, Ellens Bauch wäre ein Wasserball, aus dem sie zischend die Luft entweichen lässt.

Ellen wünscht sich, dass sie Mutti zu ihr sagt. Als Ellen diese Bitte mit leiser Stimme vorträgt, erkennt sie darin eine Angst, die ihr vertraut ist, die Angst, abgewiesen zu werden.

Sie sitzt vor einem Teller Milchreis, den Ellen gekocht hat, doch sie rührt das Essen nicht an, es schmeckt ihr nicht.

Wie kannst du das wissen? sagt Ellen. Du hast doch noch gar nicht gekostet.

Wohl zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie keinen Hunger. Sie hat das Gefühl, ihr Magen sitzt in der Brust, schwer wie ein Stein. Sie sehnt sich nach dem Essen ihrer Mutter. Ellens Geduld reizt sie, sie erlaubt sich sogar, schlechte Laune zu haben. Sie redet mit nörgelnder Stimme, knallt die Türen, schweigt verbockt. Wenn sie allein ist und niemand sie sehen kann, weint sie und weiß nicht, warum.

Die großen Ferien beginnen, und ihr Zeugnis ist überraschend gut ausgefallen. Als Belohnung hat Ellen ihr eine weiße Stola gestrickt.

Sie ist erleichtert, als ihre Stiefmutter ins Krankenhaus muss, die Ärzte werden versuchen, ihren Bauch schrumpfen zu lassen. Am ersten Tag bemüht sich ihr Vater noch um seine Tochter, doch ohne Ellen wirkt er angestrengt in seiner Vaterrolle, und als sie ihm versichert, dass sie in der Gaststätte essen wird und auch allein zurechtkommt, hält er dies für eine sehr gute Idee. Dabei ist das Essen dort ein Fraß, die geschälten Kartoffeln werden in großen Tonnen geliefert, in denen es vor Maden nur so wimmelt, das Fleisch ist schwarz von Fliegen, das Gemüse angegammelt; selbst der beste Koch könnte nichts aus diesen Zutaten machen. Sie hat sich in der Küche genau umgesehen und zieht es vor, im Konsum einzukaufen. Das Geld nimmt sie aus einer dunkelgrünen Kassette, den Schlüssel für die Kassette verwahrt ihr Vater in seiner Hosentasche. Anfangs erschien es ihr schwierig, den Schlüssel geräuschlos aus der Tasche zu ziehen, doch dann bemerkte sie, wie tief und fest ihr Vater morgens schläft.

Nachts dringt laute Tanzmusik aus dem Lokal über den Hof in ihr Zimmer, sie kann nicht schlafen und muss an die Mutter denken, an Alex, und sie stellt sich vor, wie sie gemeinsam am Tisch sitzen und Milchreis essen, sie meint den Geschmack von Zimt auf ihrer Zunge zu spüren.

Ihren Vater sieht sie nur noch selten nüchtern. Eines Tages zieht er ein kleines, graues Zottelvieh hinter sich her. Als er den Hund von der Leine lässt, kriecht der sofort unter den Schrank.

Er ist schüchtern, sagt ihr Vater und legt sich vor den Schrank auf den Boden, macht lächerlich schmatzende Geräusche. Ich würde ihn Hugo nennen, sagt er. Nach einer Weile hat er genug, lässt sie mit dem Hund allein. Sie stellt eine Schüssel mit Wasser auf den Boden und setzt sich daneben. Langsam schiebt sich die Hundeschnauze unter dem Schrank hervor, nach einem kurzen Innehalten folgt das ganze Tier. Der Hund kläfft leise, winselt, und während er das Wasser trinkt, schlägt sein haariger Schwanz auf den Fußboden.

Hugo weicht nicht mehr von ihrer Seite, er schläft in ihrem Bett, und sie vertraut ihm ihren Kummer an. Wenn sie ihn ruft, kommt er sofort, er ist ihr ganz und gar ergeben. Sie bringt ihm Kunststücke bei: Er hüpft auf zwei Beinen im Kreis, springt übers Stöckchen, kann auf ihren Befehl wie ein Wolf losheulen. Sie führen das Programm gemeinsam vor den Urlaubern am Strand auf, nach dem Applaus sammelt sie in einem Hut die gespendeten Gaben ein: Münzen, Geldscheine, Bonbons, Schokolade. Doch schon bald langweilt sie das.

Sie räumt täglich die kleine Wohnung auf, putzt die Fenster, fegt, wischt, und zum krönenden Abschluss geht sie in die Gärtnerei, um einen Strauß Blumen zu kaufen. Seit ein paar Tagen sind die Ferienzimmer dort an neue Sommergäste vermietet; zwei Mädchen in ihrem Alter spielen Ball, sie sieht ihnen eine Weile zu, und als es zu dämmern beginnt, spielen sie zu dritt.

Sie zeigt Gudrun und Steffidie geheime Abkürzung zum Strand. Steffibesitzt ein Kofferradio. In der Heide, wo die wilden Gräser und Blumen längst von der Sonne verbrannt sind, hören sie Die großen Acht von Radio Luxemburg. Steffiund Gudrun tanzen eng umschlungen, mit geschlossenen Augen. Gudrun ist ziemlich dünn, doch Steffihat schon Brüste, ihr Mund glänzt in der Farbe von roten Beeren. Dann tanzt Steffiauch mit ihr. Von Steffiim Arm gehalten, fühlt sie sich seltsam kraftlos, sie drehen sich, pressen den Unterleib aneinander, und als der Tanz zu Ende ist, weiß sie nicht mehr, wo sie sich befindet.

Die beiden anderen setzen sich auf den Boden, ihre Hände verschwinden zwischen ihren Beinen, bewegen sich dort, wirbeln umher. Was macht ihr da? will sie wissen, doch die beiden starren nur konzentriert in die Luft, ihr Atem wird schneller, heftiger, und schließlich stößt Steffieinen Seufzer aus, Gudrun folgt mit einem kurzen Schrei, und danach wollen die beiden nichts mehr vom Tanzen wissen. Am nächsten Tag zeigt ihr Steffi, wie man an sich selbst herummachen kann, um dieses unaussprechliche Gefühl zu bekommen. Sie probiert es aus, doch nichts passiert, nur ihre Finger ermüden.