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Ihr Vater hat sich angewöhnt, Hugo zu baden. Wenn er nachts von der Arbeit kommt, kaum noch gerade stehen kann, schleppt er den größten Topf aus der Küche herüber, den sie mit Wasser füllen muss. Er steht schwankend in der Mitte des Zimmers und sagt: Ich bitte um Ruhe. Dann murmelt er etwas von Pflicht, Ordnung und Hygiene, torkelt zurück in die Küche und besorgt ausreichend Bestechungsmaterial. Immer ist Hugos Gier größer als seine Angst, nie kann er den Würsten widerstehen. Sitzt er erst einmal im Topf, ist er ohnehin verloren; der Vater shamponiert und wäscht ihn, während sie ihn festhalten muss. Sie ist wütend auf Hugo, weil er sich stets aufs Neue hereinlegen lässt. Er muss es doch kapieren, denkt sie und drückt ihn lange unters Wasser. Wenn sie ihn endlich loslässt, springt Hugo nach Luft japsend hoch. Doch er kapiert nichts, schon in der nächsten Nacht sitzt er wieder im Topf, den Bauch voller Würste und eine lächerliche Schaumkrone auf dem Kopf. In ihr wächst ein übermächtiger Zorn auf Hugo, sie hat das Gefühl, als befänden sich kleine, spitze Messer unter ihrer Haut, und hielte der Zorn noch länger an, würden diese Messer ihre Haut durchstoßen. Dann wäre sie ein messerscharfer Igel in Menschengestalt, und jeder, der ihr näher käme, würde sich an ihr verletzen. Wenn die Zornesanfälle verebben, fühlt sie sich schuldig; voller Reue schmiegt sie sich an Hugo, lässt sich von ihm die Hände lecken, spürt sein Herz unter dem Fell und möchte am liebsten sterben.

Seit Hugo täglich gewaschen wird, ist ihr ganzer Körper von blutig gekratzten Flohstichen übersät. Die Flöhe sitzen in der Bettwäsche und in den Kleidern, hinterlassen Kackspuren in ihren Hemden und Hosen. In einer großen Aktion wäscht sie alles, doch die Flöhe verschwinden erst, als ihr Vater die Lust daran verliert, Hugo zu baden. Auch für seine Tochter scheint er sich nicht mehr zu interessieren, ich als Mensch habe meine Rechte, sagt er, bevor sie auch nur eine Frage stellen kann. Mit beduseltem Blick schaut er in den Spiegel, ich als Mensch, wiederholt er, seine Stimme klingt durstig. Sie hält immer einen Schritt Abstand, man kann nie wissen, sagt sie sich.

Steffiund Gudrun sind längst abgereist. Es kommt ihr so vor, als wäre es immer derselbe Tag, dieselbe Stunde, um die Mittagszeit herum. Unter der Julisonne verharrt das Leben regungslos, selbst die Vögel scheinen das Atmen zu vergessen. Sie liegt mit Hugo in der Heide, sehnt sich nach Menschen, die ihr vertraut sind, nach Bruder und Mutter, und dort, wo sie sich sehnt, sitzt ein schmerzender Fleck in ihrer Brust und nimmt ihr die Luft. Sie schreibt der Mutter einen Brief.

Von da an wartet sie und bereitet sich vor, sie kauft Geschenke für Alex, häkelt Topflappen für die Mutter. Ihrem Vater zeigt sie sich als folgsame Tochter, bügelt freiwillig seine Hemden, sieht großzügig darüber hinweg, wenn er volltrunken die Köchin begrapscht. Er scheint ihre Wandlung nicht zu bemerken, nach wie vor starrt er mittags nach dem Erwachen schlaftrunken seine Tochter an, und bevor sein Blick in alle Richtungen zuckt, murmelt er: Werd bloß nicht frech, mein Fräulein. Sie verzieht das Gesicht zu einem Lächeln, fast tut er ihr leid, doch dann kommt sie zu dem Schluss, dass er sie ohnehin nicht braucht, er braucht nur seinen Schnaps. Er hat kein Recht, verärgert zu sein, wenn sie geht.

Mit dem Wissen, dass sie bald weg sein wird, lassen sich die Stunden besser überstehen, Erwartung liegt in der Luft.

Sie kauft sich eine rote Plastikhandtasche, die sie seit Tagen im Schaufenster bewundert hat. Das Geld hat sie sich aus der Kassette ihres Vaters besorgt, er scheint die Scheine und Münzen schon lange nicht mehr zu zählen. Sie hängt sich die Tasche über die Schulter und läuft durch die Straßen. Es ist gleißend hell, sie schwitzt, fühlt sich von einem Augenblick auf den anderen krank. Sie sucht nach Schatten, Blasmusik weht von der Promenade herüber, die Töne legen sich mit dem Gewicht von Steinen auf ihre Haut. Sie kauert sich mit dem Rücken an eine Wand, den Kopf auf die angezogenen Knie, dämmert weg. Die Hitze kommt in Wellen, ergreift ihren ganzen Körper.

Sie kann sich nicht erinnern, wie sie in das fremde Bett gekommen ist, die Krankenschwester erklärt es ihr. Sie lag mit vierzig Grad Fieber auf der Straße, irgendjemand hat den Krankenwagen gerufen. Sie hat Scharlach. Die Stimme der Krankenschwester erreicht sie von weit her, sie will etwas antworten, doch ihre Zunge lässt sich nicht bewegen, hat sich in ein Stück rostiges Metall verwandelt.

Als sie wieder erwacht, erblickt sie zwei Gestalten, die sie zuerst für Traumbilder hält. Ellen sitzt strickend auf einem Stuhl, die Mutter steht am Fenster und blättert in einer Illustrierten. Sie schließt schnell die Augen. Vorsichtig blinzelnd stellt sie fest, dass Ellen keinen Bauch mehr hat und ihr Haar grau geworden ist — während die Mutter erblondet und schwanger zu sein scheint. Als sie sich aufsetzt, weil dies nur ein Traum sein kann, stürzt die Mutter auf sie zu und umarmt sie. Ein solcher Schreck fährt ihr in die Glieder, dass sie völlig erstarrt dasitzt, sie lässt die Umarmungen über sich ergehen, unfähig, sich zu rühren.

Was hast du denn? sagt die Mutter. Freust du dich gar nicht?

Ich freue mich, versichert sie, und weil ihr sonst nichts einfällt, zeigt sie auf den Bauch. Bist du schwanger? sagt sie.

Was für eine Begrüßung, sagt die Mutter und lässt von ihr ab. Natürlich bin ich schwanger, das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Sie presst die Lippen aufeinander und streicht über ihren Bauch.

Als Ellen an das Bett tritt und ihre Hand nimmt, weiß sie nicht, was sie sagen soll. Sie wirft der Mutter einen verschwörerischen Blick zu, als wäre ihr diese Frau peinlich. Sie kann Ellen nicht ansehen, möchte sie gern fragen, ob sie wieder richtig gesund ist, doch sie traut sich nicht. Stattdessen grinst sie und spürt, wie ein dumpfer Druck sich über ihr Herz legt. Als Ellen sich von ihr verabschiedet, schnürt ihr der Druck die Luft ab, doch sie grinst einfach weiter.

Die Mutter besteht darauf, noch heute nach Hause zu fahren. Als sie mit dem Arzt diskutiert, meint ihre Tochter ein Zittern in ihrer Stimme wahrzunehmen, ein ungeduldiges Zittern, hinter dem ein Beben lauert, das, jederzeit, in einen Sturm übergehen kann.

Während die Landschaft im Zug an ihnen vorbeifliegt und die Mutter von zu Hause erzählt, bedauert sie, dass sie sich nicht von Hugo verabschieden konnte.

Inzwischen ist die Mutter dabei, ihr die Stunden vorzurechnen, die sie ihretwegen schlaflos verbracht hat. Ein vages Gefühl der Unruhe steigt in ihr auf, die Mutter hat einen neuen Mann, und das Baby ist ein Wunschkind.

Alex wartet schon hinter der Tür. Sie umschleichen einander wie fremde Wesen, können es nicht fassen, wieder zusammen zu sein. Die Wohnung hat sich nicht verändert, nur ihr Bruder kommt ihr anders vor, noch seltsamer. Beim Sprechen rollt er die Zunge im Mund, als wolle er Murmeln spielen, reibt sich ständig die Hände am Stoff seiner Hose, springt auf, setzt sich, springt wieder auf, schaut unruhig umher, ein kleiner, überdrehter Kobold.

Dann holt die Schwäche sie ein, haut sie geradezu von den Füßen. Die nächsten Tage liegt sie im Bett, träumt wirres Zeug — sie hat keine Füße mehr, die Beine enden an den Knien, sie springt wütend auf Kniestümpfen durch die Gegend, die Kniestümpfe sind blutig, und sie rammt sie tief und tiefer in den Boden. In den Träumen schießen auch Bilder von Hugo in ihr hoch, und noch im Schlaf durchrollt sie eine Woge aus schlechtem Gewissen.

Als sie sich besser fühlt, kann sie es kaum erwarten, durch ihre vertrauten Straßen zu gehen. Sie besucht Elvira, die ihre längeren Haare bestaunt. Du siehst aus wie ein Mädchen, sagt Elvira so verwundert, als wäre sie früher ein Junge gewesen.

14

Der neue Mann ist bei ihnen eingezogen. Henry arbeitet mit ihrer Mutter in der Mitropa. Stolz zeigt er ihr seine Schallplattensammlung, die im Wohnzimmer lagert; es sind Hunderte von Platten, die meisten aus dem Westen. Sie betrachtet ein Foto auf der Plattenhülle, es ist ihr peinlich, dass sie sich über den Mann mit der Ponyfrisur äußern soll.