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Keine Ahnung, sagt sie, hab nie was von ihm gehört.

Er kann es nicht fassen, dass sie Cliff Richard nicht kennt. Danach scheint sie für Henry ein hoffnungsloser Fall zu sein, er spricht mit ihr nie wieder über seine Platten, und sie ist nicht traurig darüber.

Sie freut sich auf den ersten Schultag, kämmt sich mit besonderer Sorgfalt die Haare, benutzt sogar einen Lippenstift, wischt ihn aber vor der Schule wieder ab.

Die anderen Mädchen müssen sich vor den Sommerferien abgesprochen haben, Brüste zu bekommen, denn sie ist die Einzige, die noch flach wie ein Brett ist. Sie hat kein Gramm Fett an den richtigen Stellen vorzuweisen, beunruhigt fragt sie sich, ob das so bleiben wird. Beim Umziehen vor dem Sportunterricht mustert sie die Mädchen genauer, einige tragen schon einen BH, und Elvira zeigt ihr stolz die winzigen Brüste in der Toilettenkabine und fragt sie: Hast du auch schon welche? Sie zeigt nichts, zuckt nur unbestimmt die Schultern, was alles bedeuten kann, vor allem, dass es sie gar nicht interessiert.

Die Jungs in der Klasse kommen ihr vor, als seien sie lauter geworden, gefährlicher, sie machen sich über alles lustig, brüllen widerliche Ausdrücke durch die Gegend, nennen die Mädchen Schlampen und Nutten, niemand entgeht ihrem Spott. Da ist das Schneewittchen, rufen die Jungs ihr nach, kein Arsch und kein Tittchen!

Die Herbstfarben explodieren in den Hinterhöfen, Weinreben ranken die Hauswände hoch, sie klettert mit ihrem Bruder über Mauern, sie liebt diese Kletterei, liebt es auch abzuhauen, auf der Flucht zu sein, wenn die Hausbewohner ihnen hinterherschreien, weil sie um ihre Weintrauben fürchten, sie versteht es sogar, sie wäre genauso zornig, wären es ihre Weintrauben, diese Einsicht hält sie aber nicht davon ab, händevoll die noch halb sauren Früchte zu verschlingen.

Dann ist der erste Stubenarrest fällig. Die Mutter hat ein erschöpftes Gesicht, als sie die Strafe verkündet, und weil ihre Tochter so aussieht, als mache ihr der Stubenarrest nichts aus, bekommt sie gleich noch einen zusätzlichen Monat aufgebrummt.

Sie geht täglich in die Kneipe und holt den Nachschub an Bierflaschen. Der neue Mann sitzt abends mit der Mutter vor dem Fernseher, öffnet eine Flasche nach der anderen. Henry verträgt viel, und auch die Mutter versteht es zu trinken, ihre Augen glänzen, sie lacht, als würde sie gekitzelt, und sie stolpert nicht mal, wenn sie mit Henry tanzt. Seitdem er bei ihnen wohnt, ist Musik angesagt, allabendlich spielt er seine Platten ab, und ihre Mutter stimmt in die Schlager mit ein, singt aus voller Kehle, als wäre sie glücklich.

Ihr schwangerer Bauch scheint sie nicht zu stören. Richtig wütend ist sie nur noch, wenn Henry nicht da ist; dann kann es allerdings heftig zur Sache gehen, wie ein aufgestautes Jaulen brechen die Töne aus ihrer Kehle hervor.

Sie begreift nicht, warum der Zorn mit solcher Wucht der Mutter in die Glieder fährt, dass sie nur noch röchelt oder schreit, mit böser Stimme, als wolle sie alle vernichten. Sie glaubt nicht wie Alex an einen Dämon, der von ihrer Mutter Besitz ergreift — warum schreit sie dann die Bäckersfrau nicht an, hält sie ihrem Bruder entgegen, oder verprügelt den Postboten?

Darauf weiß er keine Antwort. Er ist dieses Jahr eingeschult worden, übt mit Begeisterung Schönschrift und Pionierlieder, kann es kaum erwarten, bald sein blaues Halstuch zu tragen.

Sie stiehlt der Mutter fünfzig Pfennig aus der Jackentasche, und das stellt sich als fataler Fehler heraus: Das Geld war abgezählt. Die Geschwister werden von ihr verhört, sie zieht alle Register, lockt mit falschem Mitleid, droht ihnen lebenslänglichen Stubenarrest an. Warum ist der Mutter ein Geständnis so wichtig, fragt sie sich, und warum kann sie ihr nicht einfach die Wahrheit sagen? Je heftiger die Mutter in sie dringt, desto mehr hat sie das Gefühl, nur lügen zu können; sie ist angeklagt und muss ihre Unschuld beweisen, nur darum geht es.

Am nächsten Morgen präsentiert die Mutter den Dieb. Sie stößt Alex durch die Wohnung und ruft: Er hat es zugegeben! Ihr Bruder wird ins Bett geschickt, er darf nicht einmal zur Schule gehen. Dann berichtet ihr die Mutter triumphierend, wie sie es angestellt hat, ihm die Wahrheit zu entlocken. Nachts habe sie, als Gespenst verkleidet, mit verstellter Stimme auf ihn eingeredet, sie habe ihn mit einer Stecknadel gepiekst, und er habe sich nicht einmal getraut zu weinen, so große Angst habe er vor dem Gespenst gehabt. Die Mutter findet das lustig, ungeheuer lustig. Noch während die Mutter ihr das lachend erzählt, schwappt eine Welle von Müdigkeit über sie hinweg, sie kann Alex nicht in die Augen schauen, bringt es nicht fertig, ihm die Wahrheit zu sagen, sich bei ihm zu entschuldigen. Abends feiert die Mutter ausgelassen, sie hat Bohnensalat und Buletten zubereitet und tanzt zu lauter Musik mit Henry durch die Wohnung.

Sie ist noch wach, als die beiden kichernd das Kinderzimmer betreten. Obwohl sie weiß, dass das flachnasige Monster mit dem Strumpf über dem Kopf ihre Mutter ist, erschrickt sie — die Mutter und Henry schütteln sich vor Lachen. Dann wacht Alex auf. Er will einen Schrei ausstoßen, doch der Schrei kommt nicht durch, er schlägt die Hände vor seinen geöffneten Mund, und als die Mutter den Strumpf vom Gesicht zieht, winselt er und verkriecht sich unter der Bettdecke. Als es längst still in der Wohnung ist, gibt er immer noch dieses Winseln von sich, sie muss an ihren Hund Hugo denken und macht sich Vorwürfe, ihn alleingelassen zu haben.

Während sie am nächsten Morgen die Bierlachen vom Wohnzimmertisch wischt, isst sie die Reste aus der Schüssel, isst den ganzen Bohnensalat, der noch übrig ist, trinkt die saure Sauce bis zum letzten Tropfen aus. Als die Mutter sie wütend zur Rede stellt, geht Henry dazwischen, wir haben doch alle als Kinder genascht, sagt er, die Mutter legt den Kopf schief, schiebt schmollend die Unterlippe vor und entlässt ihre Tochter mit einem Achselzucken.

15

Sie schreckt hoch, als sie das Schreien hört, springt sofort auf, läuft leise über den Flur, beugt sich über das Körbchen, in dem das Baby liegt, und nimmt es hoch.

Die Mutter hat vor einer Woche ihren Bruder Elvis geboren. Seitdem braucht sie Ruhe, sehr viel Ruhe. Sie klagt, sie sei derart erschöpft, dass sie keine Milch in ihren Brüsten habe, klagt über Rückenschmerzen, Übelkeit, ein Sausen im Ohr, und so kümmert sich ihre Tochter um den Kleinen.

Obwohl sie immer wieder beschließt, nicht müde zu sein, fällt es ihr schwer, nicht überall und auf der Stelle einzuschlafen. Sie muss bereit sein und beim ersten Laut reagieren, bevor ihn die Mutter hört, die sonst wie der Zorn Gottes im Flur erscheint und alles nur noch schlimmer macht. Mit ruckartigen Bewegungen trägt die Mutter dann den Säugling durch die Wohnung, der sofort noch lauter schreit, brüllt wie am Spieß und sich nur beruhigt, wenn seine Schwester ihn in die Arme nimmt. Es ist der Einfall der Mutter gewesen, sich den Zorn Gottes zu nennen, irgendwo hat sie aufgeschnappt, niemand auf Erden sei sicher vor diesem Zorn, und diese Vorstellung scheint der Mutter zu gefallen.

Sie gewöhnt sich schnell daran, ihrem Bruder die Flasche zu geben und die Windeln zu wechseln, sie trägt ihn durch die Wohnung, spricht leise auf ihn ein. Sein erstes Lächeln gilt ihr. Es erfüllt sie mit Stolz, dass Elvis nur bei ihr friedlich ist, kaum nimmt die Mutter ihn hoch, wölbt er den Rücken, sträubt sich und schreit. Wenn sie aus der Schule kommt, wartet die Mutter schon entnervt auf sie; doch nach einigen schlaflosen Nächten hat sie das Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen, in dem ihre Arme und Beine mit Gummibändern am Boden befestigt sind. Sie ist so erschöpft, dass sie im Unterricht einschläft oder gar nicht erst in die Schule geht.