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Seine Mutter, sagt Henry, könne helfen; ein paar Tage später steht, energisch klingelnd, eine kleine, ältere Frau vor der Tür. Tante Margot, so will sie genannt werden, ist der Überzeugung, dass Babys so lange schreien müssen, bis sie müde sind und einschlafen. Sie fragt sich, ob die Tante wusste, was sie damit anrichtet, denn ihr winziger Bruder scheint eine Art Wettstreit mit Tante Margot zu führen, er schreit und schreit, als wolle er mit seinem gellenden Wehgeheul die Luft zum Bersten bringen. Wenn Tante Margot dann ihre Ohren mit Watte verstopft und in einen tiefen Schlaf fällt, holt sie ihren Bruder zu sich ins Bett. Er ist sofort still und braucht nicht einmal einen Nuckel, um einzuschlafen. Elvis, Elvis, sie flüstert seinen Namen — anfangs hat sie ihn abscheulich gefunden, war wütend auf Henry mit seiner Elvis-Presley-Leidenschaft —, doch inzwischen liebt sie alles an ihrem Bruder.

Kaum beginnt Elvis zu brüllen, hat die Mutter in der Regel dringende Dinge zu erledigen und verlässt die Wohnung. Einmal geht sie sogar mit Alex in den Zoo, doch sein Gesicht ist alles andere als fröhlich, als er zurückkommt. Sie hat die ganze Zeit in der Kneipe gesessen, berichtet er seiner Schwester, und er durfte den Platz neben ihr nicht verlassen.

Tante Margot braucht eine Weile, um zu bemerken, dass sie nicht erwünscht ist. Die Mutter arbeitet wieder in der Mitropa, und eines Abends ist es so weit. Schlecht gelaunt und auf Streit aus betritt sie die Küche, und dann fliegen die Fetzen. In dem Gesicht von Tante Margot wechselt der Ausdruck von Überraschung zu ungläubigem Entsetzen, langsam scheint sie zu begreifen, mit wem ihr Sohn sein Leben verbringt. Während die Mutter wie eine Furie herumschreit, weicht die kleine Frau Schritt für Schritt zurück, versucht die Fassung zu bewahren, indem sie sich schweigend die Stirn mit einem Tuch abtupft. Es ist ein gestreiftes Geschirrtuch, doch es hätte genauso gut das rote Tuch eines Stierkämpfers sein können, denn die Mutter reißt ihr das Tuch mit einem Ruck aus der Hand, wirft es auf den Boden und trampelt wütend darauf herum.

Eine Stunde später verlässt Tante Margot die Wohnung. Zwei Tage darauf hat die Mutter den ersten großen Streit mit Henry. Er stellt die Musik lauter, trotzdem kann sie jedes Wort verstehen, ihre Mutter ist eifersüchtig auf eine andere Frau, und er kann noch so sehr seine Unschuld beteuern, sie glaubt ihm nicht, brüllt und heult, und ihre Tochter weiß, dass die Mutter das Spektakel noch lange durchhalten kann. Doch da geht Henry, geht einfach raus aus der Tür, ist auch nach Stunden noch nicht wieder zurück.

Während sie im Morgengrauen die Milchflasche für Elvis aufwärmt, sitzt die Mutter noch immer am Küchentisch, unbeweglich, wie versteinert.

Am Abend ist Henry wieder da, doch nach dem nächsten Streit packt er seine Koffer, und in der Wohnung kehrt so etwas wie Ruhe vor dem Sturm ein. Die Mutter liegt zusammengerollt im Bett, starrt in die Luft, beachtet niemanden. Als sie wieder zu sprechen beginnt, lässt die Mutter die Sätze unbeendet, und ihre Worte klingen kalt und wie losgelöst von ihr. Sie hat gelernt, was das bedeutet, und versucht besonders leise zu sein. Doch das Gehör der Mutter ist wieder intakt; während draußen der Wind in den Bäumen wütet, die Fenster klappern, schreit sie beim geringsten Geräusch in der Wohnung nach Ruhe.

Betrunken findet die Mutter zu ihren alten Zerstreuungen zurück; Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine.

Sie weiß längst um die Nutzlosigkeit, tapfer durchzuhalten, es ist Sinn und Zweck dieser Veranstaltung, irgendwann schwach zu werden, und das wiederum ist ein Vorwand für ihre Mutter, losprügeln zu dürfen. Alex bemüht sich trotzdem, mit aufgerissenen Augen steht er da, die Arme zittern, und sie möchte ihm am liebsten die Kissen aus den Händen reißen und rufen: Bring es hinter dich.

Wenn sie Elvis frühmorgens in die Krippe bringt, träumt sie davon, allein mit ihm das Haus im Wald zu bewohnen, sie stellt sich vor, er wäre ihr Kind. Die Mutter scheint Elvis nur wahrzunehmen, wenn sie ihn abends von ihrer Tochter zum Gutenachtsagen überreicht bekommt, dann tätschelt sie seinen Kopf und bewundert seine Babytolle.

Als sie ein Päckchen von Ellen bekommt, beobachtet die Mutter sie beim Auspacken. Obwohl sie ihre Blicke spürt, schafft sie es nicht, einen kurzen Jauchzer zu unterdrücken, als sie ihr Briefmarkenalbum entdeckt. Sie versucht, das Album beiläufig in ihr Zimmer zu bringen, und als sie zurück in die Küche kommt, lächelt die Mutter und fragt nichts. Sie weiß, dass ein Lächeln der Mutter vieles bedeuten kann, doch sie ist müde und nicht so vorsichtig, wie sie sein sollte. Sie ist so müde, dass sie am späten Abend, während sie die Briefmarken sorgfältig auf dem Bettlaken vor sich aufreiht, einschläft. Als sie erwacht, sind alle Briefmarken zerrissen, auch die mit dem tanzenden goldenen Nilpferd.

Am nächsten Morgen ist die Mutter in besonders boshafter Stimmung, nennt ihre Tochter eine Missgeburt und erzählt ihr, dass sie leider vergeblich versucht habe, sie abzutreiben. Ausführlich schildert die Mutter die blutigen Details, und sie glaubt ihr sofort.

Auf dem Weg zur Schule summt es hinter ihrer Stirn, als befände sich dort ein Bienenschwarm. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll, hat das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. In der Pause bleibt sie neben einer Gruppe von Jungs stehen, zerbricht einen Kopierstift, steckt sich, für alle gut sichtbar, die Mine in den Mund. Sie will, dass man sie sieht, sie will nicht wirklich sterben. Sie verschluckt die Mine und wartet auf den Schrecken in den Augen ihrer Mitschüler, aber die beachten sie nicht weiter. Sie gibt ein ersticktes Gewinsel von sich, doch es klingt nicht echt, deshalb hört sie auf. Mittags berichtet sie Elvira von ihren Bauchschmerzen, und endlich kommt Bewegung in die Sache, ein Lehrer fährt sie ins Krankenhaus.

Sie wird gezwungen, becherweise Salzwasser zu trinken; sie erbricht sich, bis sie das Gefühl hat, ihre Eingeweide würden ihr zum Mund herauskommen.

Unter keinen Umständen will sie ihre Adresse nennen, sie will nicht nach Hause, nie mehr, das ist die einzige Auskunft, die sie zu geben bereit ist.

Sie bleibt ein paar Tage im Krankenhaus. Niemand besucht sie, außer einer Frau von der Jugendhilfe, die ihr mitteilt, dass sie vom Krankenhaus direkt in ein Heim kommen wird.

16

Sie ist die Neue. Sie sitzt in einem großen Raum und wird von allen gemustert, ständig öffnet sich die Tür, und ein anderes Gesicht gafft sie an. Sie hört Gekicher, schnappt Satzfetzen auf: Hast du die Neue gesehen, ist die dürr, sieht aus wie ein Junge, die Neue heult. Natürlich heult sie nicht, sie ist nur hungrig. Als das nächste Gesicht sie begafft, schaut sie undurchdringlich, verschränkt die Hände hinter dem Nacken und versucht gelangweilt zu wirken. Es dauert eine Weile, bis sie aus dieser Haltung erlöst wird, eine junge Frau kommt auf sie zu und reicht ihr die Hand. Ich bin Fräulein Keulitz, deine Erzieherin, sagt sie. Komm mit, ich zeig dir alles. Ihre Stimme klingt freundlich.

Sie folgt ihr die Treppe hinauf in den zweiten Stock, einen langen Flur entlang, es riecht nach Essen, und sie versucht die Gerüche zu entschlüsseln: Sie kann sich nicht zwischen Braten und Gulasch entscheiden, Kraut ist auf jeden Fall dabei. Als die Erzieherin eine Tür öffnet, verstummen die Stimmen dahinter. Die beiden Mädchen am Tisch sitzen da wie Ölgötzen, schauen bewegungslos in ihre Richtung, und Fräulein Keulitz wedelt mit der Hand durch die Luft, bemüht sich, die Rauchschwaden zu zerteilen. Hab ich euch erwischt, sagt sie, diesmal ist der Ausgang futsch.

Das Mädchen mit dem schwarzen Lockenkopf springt auf, entschuldigt sich, versucht Reue zu zeigen: Das war das letzte Mal, wir rauchen nie wieder, ehrlich, ganz, ganz ehrlich, sagt sie, die Blonde neben ihr lässt nur den Kopf hängen, als wäre es zu anstrengend, ihn aufrecht zu halten.