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Sie scheinen damit durchzukommen, denn Fräulein Keulitz stellt ihr die beiden Mädchen vor, ohne weiter auf das Rauchverbot einzugehen. Andrea hat ein zartes Gesicht, dünnes, blondes Haar und einen großen Busen, Carmen, das Mädchen mit dem Lockenkopf, verdreht vielsagend die Augen, als sie ihr die Hand reicht, an ihrem Kinn prangt ein kreisrunder brauner Fleck, der mit winzigen Härchen bedeckt ist, und obwohl sie nicht hinsehen will, muss sie diesen Fleck anstarren, der ihr wie ein Stück Fell vorkommt.

Die beiden Mädchen schlafen im Doppelstockbett, ihr wird das Einzelbett neben dem Schrank zugewiesen. Bei der Aufnahme in der Kleiderkammer erhält sie eine Nummer, die Vierunddreißig wird in jedes ihrer Kleidungsstücke genäht. Sie probiert Hosen, Pullover, Kleider, alles zu groß, selbst die Blusen schlackern an ihr herum, nur Ärmel und Hosenbeine passen von der Länge her. Die Sachen sind getragen und selbst für sie nicht besonders attraktiv.

Die Erzieherin begleitet sie durch das Haus, erklärt ihr Regeln und Pflichten — eine Menge Dinge sind verboten —, zeigt ihr den Gruppenraum im ersten Stock und die übrigen Räume, führt sie durch das weitläufige Gelände und macht sie mit den anderen Erzieherinnen bekannt. Den Heimleiter lernt sie im Vorübergehen kennen, er ruft ihr zu, sie solle sich die Haare zusammenbinden; er ist ein korpulenter Mann, sein Gesicht von roten Äderchen durchzogen, er gibt ihr nicht einmal die Hand oder stellt sich vor, und seine Stimme klingt ärgerlich.

Beim Abendessen ist ihr Blick vor Müdigkeit verschleiert, sie nimmt die Gesichter um sich herum kaum wahr, registriert nicht, was sie isst, obwohl sich ihr überreizter Hunger mit der Schärfe einer Klinge in den Magen gebohrt hat.

In der ersten Nacht wacht sie ständig auf, in ihrem Kopf wirbeln die Gedanken umher, sie stellt sich ihren Bruder Elvis vor, sein Näschen, die glucksenden Geräusche, wenn sie ihm die Flasche gibt. Sie muss daran denken, wie der Vater ihr erzählt hat, dass die Mutter sie als Säugling ersticken wollte und er dies nur durch seine Wachsamkeit verhindern konnte. Sie will keinen Gedanken mehr an ihre Mutter verschwenden, doch immer wieder schreckt sie atemlos aus dem Schlaf.

Als sie am nächsten Morgen aufwacht, dringt Kuchengeruch durch die Tür. Es ist Sonntag. Sie bleibt im Bett liegen, bis Andrea und Carmen wach werden, ihre Fragen beantwortet sie zögerlich. Wo kommt sie her, warum ist sie hier, hat sie was angestellt? Was soll sie dazu sagen, so richtig weiß sie selbst nicht, warum sie hier ist. Sie spürt, wie sie unter ihren neugierigen Blicken linkischer wird und die Mädchen das Interesse an ihr verlieren. Sie macht einfach das, was sie auch tun, zieht das Laken glatt, faltet die Steppdecke, folgt ihnen in den Waschraum. Sie gibt sich den Anschein von Gelassenheit, als sich die anderen nackt an ein rundes, steingraues Waschbecken stellen, über dem Becken sind in Brusthöhe mehrere Wasserhähne, die Mädchen waschen sich, putzen die Zähne, spucken das Gurgelwasser geräuschvoll aus. Während sie sich des Schlafanzugs entledigt, hat sie das Gefühl, dass alle Augenpaare auf sie gerichtet sind, sie meint, ein Kichern zu hören, und möchte vor Scham im Boden versinken.

Später reiht sie sich in die Schlange vor dem Speisesaal ein, Jungs und Mädchen stehen laut redend hintereinander. Sie steht schweigend da, und als ihr jemand auf den Rücken tippt, dreht sie sich um. Ein rothaariger Junge zeigt ihr grinsend sein Pferdegebiss und sagt: Da hängen zwei Fäden an deiner Schürze herunter.

Sie guckt und guckt, kann keine Fäden an ihrer nagelneuen Schürze entdecken. Sie erkennt nur an dem einsetzenden Gelächter, dass es sich um einen Scherz handeln muss, und braucht noch eine Weile, bis sie merkt, dass mit den zwei Fäden ihre Beine gemeint sind.

Das Kinderheim liegt an einer Landstraße, der große, mit Birken bewachsene Garten dahinter grenzt an eine Gänsefarm. Das Haus ist ein Bau aus den zwanziger Jahren und steht so vereinzelt in der Landschaft, als wäre es vom Himmel gefallen. Die Eingangstür aus Eichenholz lässt sich nur schwer öffnen, über der Tür steht in roten Buchstaben: Kinderheim Geschwister Scholl.

Im Erdgeschoss sind der Gemeinschaftswaschraum, die Küche, der Speisesaal und hinter einem Flur die Schuhputzkammer. Die Treppe zu den oberen Stockwerken hat einen kleinen Absatz, dort hängt hinter einer Glastafel ein Plakat mit den zehn Geboten der sozialistischen Moral. Das zweite Gebot lautet:»Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.«

Wie soll sie ein ganzes Land lieben, fragt sie sich, wenn sie nicht einmal ihre Familie lieben kann, und warum heißt Vaterland Vaterland, würde ihr Vater ein Land regieren, ginge es dort drunter und drüber. Die anderen neun Gebote erscheinen ihr genauso komisch, das dritte Gebot lautet:»Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. «Wie soll sie das anstellen? Dem Heimleiter seinen Wartburg wegnehmen und einem Ärmeren schenken? Seine privaten Wohnräume befinden sich in einem zweistöckigen Anbau, direkt neben dem Heim, am Wochenende arbeiten dort die Jungs aus der Gruppe der Großen, gerade sind sie dabei, eine Sauna einzubauen. Dafür bekommen sie Vergünstigungen, dürfen rauchen und bis nach Mitternacht in der Diskothek bleiben. Während die Kinder aus der Gruppe der Kleinen und Mittleren alle Anweisungen strikt befolgen müssen, werden die großen Jungs mit Nachsicht behandelt. Herr Nissen, der Heimleiter, steht oft bei ihnen, sie grillen, trinken Bier in der flirrenden Sommerluft, während die anderen Kinder nur von Weitem zusehen dürfen. Mit ihr hat Herr Nissen noch kein persönliches Wort gewechselt, obwohl er ihren Namen in die Liste der positiven Gruppe eingetragen hat. Seine halslose Gestalt erinnert sie an eine Rohrdommel, der Bauch scheint schon am Kinn zu beginnen, und er läuft etwas steifbeinig, als müsse er das Gehen noch üben. Wochentags erklingt seine Stimme pünktlich um sechs Uhr morgens durch den Lautsprecher und ruft zum Frühsport auf. Keines der Mädchen hält sich daran, sie trotten schlaftrunken in den Waschraum, und erst nach dem Frühstück, wenn sie den Schulweg antreten, werden sie langsam wach. Die Strecke vom Heim in den nächsten Ort beträgt drei Kilometer, sie laufen, den Ranzen auf dem Rücken, in Zweierreihen hintereinander, und noch immer hat sie sich mit keinem der Kinder angefreundet, sie bleibt für sich, redet nur, wenn sie angesprochen wird.

In der Schule sitzt sie neben Carmen, deren Spitzname Radatte lautet, sie sind in der Klasse die beiden einzigen Heimkinder. Sie mustert die anderen und wird von ihnen gemustert, von den Jungs wird sie offenbar für nicht tauglich befunden, für nicht schön, etwas in dieser Art müssen ihre Blicke bedeuten, das spürt sie genau, und auch die Mädchen scheinen mit ihr nichts anfangen zu können.

Es gibt eine kleine Bibliothek im Gruppenraum, dort sitzt sie, auch an den schon warmen Sommertagen, hört durch das Fenster die Gänse krakeelen und versinkt in den Märchenwelten, hält sich bei den Feen auf, den Trollen und Derwischen. Sie liebt die Sonntage, frühmorgens blättert sie leise die Buchseiten um, während die anderen noch schlafen und der Kuchengeruch sich im ganzen Haus ausbreitet. Der Kuchen wird von der Bäckerei aus dem Nachbardorf geliefert, Eierschecke mit einer zarten Bienenstichkruste, luftiger Käsekuchen, Streuselschnecken, schokoladenüberzogener Marmorkuchen mit Kirschen, der Schneewittchen heißt, und dieses Paradies auf Blechen verströmt einen Duft, der ihr fast den Atem nimmt.

Ihr Platz im Speisesaal ist an der Stirnseite eines Sechsertisches, ihr gegenüber sitzt ein unglaublich fetter Junge. Dieser August Kreische hat einen ähnlichen Hunger wie sie, Kartoffeln, Fleisch, Wurstbrote verschwinden blitzschnell in seinem Mund, und noch während er sich die glänzenden Lippen leckt, muss der Tischdienst seinen Teller nachfüllen. Niemand wagt, ihm zu widersprechen, er ist der Älteste in der Gruppe der Großen, und dem Anschein nach ist ihm alles egal; mit einem Fingerschnipsen bringt er die anderen Kinder dazu, ihm ihren Nachtisch zu bringen, die Erzieherinnen sehen darüber hinweg; es kümmert ihn auch nicht, wenn ein Speichelfaden in seinem Mundwinkel hängt oder Flecke seinen Pullover zieren, er hat nur Augen für das Essen auf dem Tisch. Als sie sich weigert, ihm ihren Pudding zu überlassen, hievt er sich wortlos von seinem Stuhl, geht zu ihr, gibt ihr eine Kopfnuss und nimmt sich ihren Pudding. Der Schlag dieser Pranke wirft ihren Kopf herum, sie sieht Sterne und schafft es trotzdem, nicht loszuheulen.