Es gibt zwei Köchinnen im Kinderheim, die ihre Arbeit so gut verstehen, dass sie sich wie im Schlaraffenland vorkommt; stehen Hefeklöße auf dem Speiseplan, schafft sie zwölf Stück, und danach steckt sie sich als Vorrat noch zwei große Klöße in ihre Schürzentaschen. Doch zu ihrem Leidwesen nimmt sie kein Gramm zu, schon gar nicht an den richtigen Stellen, sie kommt sich wie eine Stabheuschrecke vor oder ein Stelzvogel; lange, schlaksige Gliedmaßen, zwei Brustwarzen, der Bauch leicht geschwollen und ein nackter Hamster zwischen den Beinen. Samstags ist Duschtag. In dem großen Gemeinschaftswaschraum gibt es einen abgetrennten Teil, in dem die Mädchen nebeneinander unter zehn an der Decke befestigten Duschen stehen, und am liebsten möchte sie sich diesem Reinigungsritual entziehen, denn die Blicke der anderen Mädchen sind unerbittlich. Aber auch die Jungs, die Mittel und Wege finden, sich das Duschspektakel anzusehen, sind nicht zimperlich. Gerippe hat ’nen nackten Hamster, schallt es durch den Raum. Gerippe ist einer ihrer Spitznamen, ansonsten wird sie noch Speiche oder Hungerhaken gerufen.
In der Schule bekommt sie gute Noten, obwohl sie während des Unterrichts heimlich liest. Vor ihr sitzt Constanze, die Klassenschönste, deren langes, blondes Haar manchmal auf ihre Schulbank fällt, und sie muss sich Mühe geben, es nicht zu berühren. Sie weiß nicht, ob sie das schöne Haar und den Menschen, der es besitzt, lieben oder hassen soll; sie möchte diese Haarpracht in ein Tintenfass tauchen, beschmutzen, anspucken, aber dann möchte sie auch darin versinken, ein Teil von so viel Schönheit sein.
Als sie eine Grammatikarbeit schreiben, bemerkt sie, wie Constanze die leeren Heftseiten anstarrt, und sie wirft ihr geschickt einen Spickzettel zu. In der Pause bedankt sich Constanze bei ihr mit dem Anflug eines Lächelns.
Der Schulweg führt an einer Kirschplantage vorbei, an Feldern und Gehöften, die Sonne brennt auf den Asphalt, bei Westwind liegt der strenge Geruch nach Schweinestall in der Luft. Die Insekten lärmen, begleiten jeden ihrer Schritte, sie stellt sich vor, wie Bienen und Ameisen miteinander reden. Manchmal hebt sie einen Stein auf, trägt ihn ein paar Schritte bei sich, doch dann muss sie zurückgehen — in ihrer Vorstellung hat sie den Stein seiner Familie entrissen, deshalb muss sie ihn an genau die Stelle zurücklegen, wo sie ihn gefunden hat.
Sie kann nicht anders, sie muss August Kreische den Nachtisch verweigern, obwohl sie seine Kopfnüsse fürchtet. Als der Tischdienst das Schälchen mit Götterspeise vor ihr abstellt, löffelt sie schnell das rote, süße Glibberzeug in sich hinein.
Gerippe? In dieser Frage liegt ein so ungläubiger Ton, dass es still am Tisch wird.
Sie gibt vor, ihren Spitznamen zu überhören, kratzt mit ihrem Löffel über die leere Schale.
August Kreische beugt sich zu ihr herüber, und seine Augen verwandeln sich in schmale Schlitze. Du kommst nachher zum Rapport, sagt er und lehnt sich wieder zurück.
Sie steht als Erste vom Tisch auf, huscht schnell hinaus, und als sie sich in der Tür noch einmal kurz umdreht, hat der dicke August einen derart verblüfften Ausdruck im Gesicht, als hätte er zum ersten Mal bemerkt, dass es Jungs und Mädchen gibt.
Erst Stunden später schaffen es zwei seiner Hofschranzen, sie zu fassen. August Kreische verzichtet auf seine Kopfnüsse, dafür muss sie sein Zimmer putzen, den Schrank aufräumen und seine Schuhe auf Hochglanz polieren.
Es ist Samstagmittag, und zum Nachtisch gibt es Schokoladeneis. Bisher sind alle ihre Eisportionen im Magen von August gelandet, und diesmal hat er sie besonders im Auge. Kaum steht das Eis auf dem Tisch, winkt er schon einfordernd mit der Hand zu ihr herüber. Sie überlegt nur kurz, dann beugt sie sich über das Eis und bespuckt es schnell mit kleinen Spritzern von allen Seiten. Die Kopfnüsse machen ihr diesmal nichts aus, mit einem erhabenen Gefühl löffelt sie das Schokoladeneis, ganz langsam.
Andrea aus ihrem Zimmer scheint ihre Nähe zu suchen; sie fragt sie nach den Büchern, die sie liest, nach ihrer Familie. Andrea geht auf die EOS und kommt nur am Wochenende ins Heim. Sie hat einen Freund, einen richtigen Freund. Nachdem sie sich im Gruppenraum auf dem Sofa Erlebnisse aus ihrem Leben anvertraut haben, erfährt sie, dass es Andrea schon gemacht hat. Sie will nicht nachfragen, dumm erscheinen, also nickt sie, versucht ein wissendes Nicken hinzubekommen. Andrea ist in ihrem Alter, doch statt Spinnenbeinen hat sie runde Schenkel und einen großen Busen, sie sieht nach Sex aus, und trotzdem hat sie es als Einzige aus dem Heim geschafft, auf die EOS zu gehen, sie wurde für ihr gutes Russisch ausgezeichnet, und seitdem ist ihr Spitzname Mui, das heißt im Russischen: wir. Sie hat schon von Mädchen gehört, die es machen, doch hat sie sich diese immer als verdorben vorgestellt, und Mui entspricht in nichts diesem Bild.
Die Mädchen haben Geheimnisse, die sie einander anvertrauen. Ehe eine die verborgene Welt der anderen betreten darf, werden Schwüre ausgetauscht, flüsternde Stimmen wehen durch die Zimmer, und einmal hingeflüstert, scheinen die Geheimnisse ein Eigenleben zu führen, so als würde jedes Mädchen eine Botschaft vor sich her tragen: Seht her, ich hab den Schwanz meines Vaters ausgehalten, die Fäuste des Liebhabers meiner Mutter; als wäre dies alles noch sichtbar auf ihrer Haut.
Angesichts solcher Erfahrungen erscheint ihr das eigene Schicksal weniger schlimm, die erlebten Demütigungen fast bedeutungslos.
Um Mui zu beeindrucken, erfindet sie für sich einen Freund, einen Freund, der mit ihr geht. Sie weiß nicht, warum sie ihn humpeln lässt und er auf einem Auge blind ist — dafür gibt sie ihm eine beeindruckende Tätigkeit: Er arbeitet auf dem Rummel, bei den Karussells. Mui versteht zuerst nicht, wie er von Wagen zu Wagen springen kann, wenn er doch humpelt — er humpelt nur leicht, ganz leicht, antwortet sie und macht ihr vor, wie er sein Bein nachzieht. Natürlich gab es Küsse, über alles andere weigert sie sich zu sprechen.
17
Sie sitzt auf der Bettkante und beobachtet, wie Mui und Carmen ihre Koffer packen, die Luft ist erfüllt vom Gesumm ihrer erwartungsvollen Stimmen. Sie wird nicht wie die anderen in den großen Ferien nach Hause fahren; die Mutter will sie nicht sehen.
Als der Bus am Horizont verschwindet, steht sie immer noch da und winkt.
Im Heim ist es ungewohnt still, sie geht in den Waschraum, zieht sich aus und dreht die Duschen auf. Keiner sieht sie und kann sich über sie lustig machen, sie springt umher, lässt die kleinen, harten Wassertropfen auf ihre Haut prasseln, bis es wehtut. Sie steht vor dem großen Wandspiegel und kann nicht einschätzen, was der ihr zeigt: nicht mehr Kind, aber auch nichts anderes, ein Nichtkind, Nichtmädchen, ein spindeldürres Ding dazwischen; sie geht ganz nah an den Spiegel heran, quetscht ihre Nase gegen das Glas, macht einen Kussmund.
Sie findet eine Ferienarbeit. Frühmorgens fährt sie mit dem Fahrrad aufs Feld, um Rüben zu verziehen. Während die Sonne aufgeht, lockert sie mit der Hacke die Erde, dann kriecht sie auf allen vieren die Reihen entlang, zieht die schwachen Pflanzen und das Unkraut heraus, lässt nur die starken Rüben stehen. Schon bald schmerzt ihr Rücken, eine Rübenreihe scheint endlos lang, die Sonne brennt bald unbarmherzig, nach einer Woche ist ihre Haut dunkelbraun.
Doch dann stürzt sie auf einer frisch geteerten Straße vom Fahrrad, die kleinen scharfen Asphaltsteinchen schürfen ihr die Haut vom Oberschenkel, sodass unter dem Dreck das rohe Fleisch zu sehen ist.