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Ein Arzt kommt ins Heim, untersucht sie und gibt ihr eine Tetanusspritze. Sie muss für ein paar Tage im Bett bleiben.

Sie liest noch einmal Der Graf von Monte Christo, begleitet Edmond Dantès auf seinen Etappen durchs Leben, kostet mit ihm am Ende den Moment der Rache aus. Sie wünscht sich, mit jemandem über das Buch zu sprechen, einen Menschen, der ihre Begeisterung teilt.

Die Hitze im Zimmer macht sie träge, sie kommt sich wie in einem Backofen vor. Die Wunde an ihrem Bein ist mit einem flüssigen Pflaster übersprüht, fasziniert betrachtet sie, wie winzige Eiterwürmer die zarte Pflasterschicht durchbrechen. Sie denkt an Mui, versucht sich ihren Freund vorzustellen, malt sich aus, wie es beide miteinander machen. Ein Prickeln durchläuft ihren Körper, zieht sich in der Mitte zusammen, sie wünscht sich, jemand würde sie genau dort berühren. Sie erinnert sich an die Sommertage in der Heide, als sie eng mit Steffitanzte. Sie lässt ihre Hände zwischen den Beinen verschwinden, bewegt sie genauso, wie Steffies ihr gezeigt hat; nach einer Weile scheint es, als würde sich eine innerliche Explosion in ihr vorbereiten, und doch kann sie nicht aufhören, es ist schön, heiß, unbekannt.

Schläfrig und gleichzeitig rastlos treibt sie durch die nächsten Tage. In der Ferne das unentwegte Schnattern der Gänse, nachts bleibt sie lange wach. Als das Wetter umschlägt, Sommerstürme durch die Luft toben, beginnt sie von ihrem Bruder Elvis zu träumen. Wenn sie morgens erwacht, meint sie, ihren Bruder zu riechen, als würde er neben ihr liegen. Sie sieht ihn vor sich, sein Babylächeln, seine mit Flaum überwehte Babyglatze, sie stellt sich vor, über seinen kleinen Bauch zu pusten, ihn zu kitzeln, sie hört ihn vor Vergnügen glucksen. Sie bekommt ihren Bruder nicht mehr aus dem Kopf. Auch als sie wieder aufstehen darf, ist ihr, als würde sie ihn wie ein Sehnsuchtspaket mit sich herumtragen; der Geruch von Milch löst einen Brechreiz in ihr aus. Sie wird schon vor Sonnenaufgang wach, liegt da, ohne sich zu bewegen, wünscht sich, sie wäre eingefroren, unter einer eisigen Schneeschicht begraben. Sie muss ihren Bruder sehen, aber sie weiß nicht, wem sie sich anvertrauen kann. Sie versucht sich Fräulein Keulitz mitzuteilen, doch wie soll sie Sehnsucht erklären? Ihr ist zum Knochenkotzen, die Traurigkeit sitzt ihr wie ein bockiges Gefühl in der Brust. Sie hält es nicht aus, kann es nicht aushalten, und so schleicht sie sich früh an einem Wochentag aus dem Heim. Während sich der Himmel rot färbt, läuft sie durch die warme Morgenluft, es sind ungefähr fünfzig Kilometer, die sie von ihrem Bruder trennen. Sie folgt den unebenen Straßen, vorbei an den mit Unkraut überwucherten Wiesen, an Getreidefeldern, Gehöften, grau verputzten Einfamilienhäusern. In der nächsten Kleinstadt steigt sie in den Zug. Sie verschließt die Toilettentür hinter sich, und auf dem Klodeckel sitzend, horcht sie auf die Stimme des Schaffners. Sie verlässt die Toilette erst, als sie am Hauptbahnhof einfahren. Früh abends steht sie vor der Kinderkrippe, doch da ist ihr Bruder längst abgeholt. Erschöpft läuft sie durch die Straßen. Sie übernachtet in einer Laube, träumt schlaflos vor sich hin — noch nie ist ihr eine Nacht so lang erschienen.

Sie traut sich nicht in die Nähe ihres Hauses, und so steht sie viel zu früh vor der Kinderkrippe. Die Fenster in den Häusern sind noch dunkel, die Straßen leer. Als die ersten Erzieherinnen kommen, versteckt sie sich, und es scheinen noch einmal Jahrhunderte zu vergehen, ehe sie Alex mit ihrem Bruder Elvis entdeckt. Sie wartet, bis Alex mit dem Kinderwagen vor ihr stehen bleibt.

Was machst du denn hier? sagt er und entblößt seine Zähne zu einem Schrecklächeln.

Elvis erkennt sie, das sieht sie genau, doch als sie ihn aus dem Wagen nimmt, beginnt er zu weinen. Sie trägt ihn auf dem Arm umher, bedeckt sein Gesicht mit Küssen.

Was ist los? sagt Alex und blinzelt sie an.

Wie soll sie ihm erklären, was er ohnehin nicht begreifen wird, was nicht mal sie versteht, sie kann ihm ja nicht sagen: Ich liebe Elvis wie niemanden sonst auf der Welt, als wäre er mein Kind; sprachlos zuckt sie mit den Schultern.

Elvis weint, er kommt ihr größer vor, schwerer in ihren Armen, aus denen er sich befreien will, er strampelt wild, weint lauter, brüllt; sie versucht ihn zu beruhigen, murmelt tröstende Worte, ich bin’s, du kennst mich doch.

Inzwischen umstehen sie Leute, Mütter werfen ihr komische Blicke zu, eine Erzieherin will ihr Elvis wegnehmen, sie spürt Hitze von allen Seiten auf sich eindringen, die Knie werden ihr weich. Elvis stemmt laut schreiend Hände und Füße gegen sie, sie kann ihn kaum noch halten, alles kommt ihr unwirklich vor, die vielen Gesichter um sie herum wie eine einzige verschwommene Fratze, die Stimmen überschlagen sich, und dann lässt sie sich Elvis aus den Armen nehmen. Sie steht da und versucht sich zu erklären, doch sie weiß nicht, was sie sagen soll.

Die Polizisten führen sie ohne viel Umstände zum Wagen, und als sie einsteigt, erhascht sie einen Blick auf Alex’ Gesicht, eine Grimasse aus Angst und Verwunderung, er hat den Mund aufgerissen, als wolle er den Himmel verschlucken.

Auf dem Revier wird sie verhört. Sie antwortet schnell, abgehackt, bekommt kaum Luft: Sie wollte doch nur ihren Bruder sehen, und sie versteht nicht, was daran strafbar sein soll.

Sie wird mit dem Auto in die Nebelgasse gebracht, in ein Durchgangsheim für jugendliche Straftäter.

Eine dicke Frau nimmt sie in Empfang, gibt dem Polizisten eine Unterschrift, als wäre sie ein Paket, das abgeliefert wird. Die Frau sitzt ihr gegenüber, starrt sie stirnrunzelnd an, ihre Fragen wirken gelangweilt, und sie weiß nichts darauf zu antworten. Sie weiß nicht, was sie verbrochen haben soll, versteht ihre Schuld nicht, ist unfähig, etwas Böses in ihrem Handeln zu entdecken. Abermals versucht sie sich zu erklären, obwohl es ihr peinlich ist, von ihrer Sehnsucht zu sprechen.

Die Frau überfliegt die Unterlagen, die vor ihr auf dem Tisch liegen. Du bist kein unbeschriebenes Blatt, sagt sie, die Republikfahndungen nach dir kosten den Staat allerhand Geld, und dazu noch Diebstahl und Einbruch.

Sie beharrt darauf, dass es diesmal anders ist, und erwähnt, dass sie im Kinderheim auf der Liste der positiven Kinder steht.

Das scheint zu wirken, die Dicke verlässt den Raum, verspricht mit dem Heimleiter zu telefonieren.

Sie spürt Erleichterung, betrachtet die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett, das Gesicht von Honecker im Bilderrahmen, seinem allmächtigen Blick kann sie in keinem Winkel des Zimmers entgehen.

Nach einer Weile kommt die Frau zurück, in ihrem Lachen schwingt Verärgerung mit. Man lernt nie aus, sagt sie, du bist doch eine gute Lügnerin.

Sie glaubt, sich verhört zu haben.

Ich zieh mir die Hose doch nicht mit der Kneifzange an, fährt die Dicke fort, dein Heimleiter sagt, ich soll dir kein Wort glauben, du seist ein besonders tückisches Exemplar, ein ausgekochtes Luder, eine Schande für das Heim.

Eine Schande für das Heim? Sie schluckt schwer, versteht gar nichts mehr.

Das muss eine Verwechslung sein, sagt sie.

Ach ja? Die Dicke schaut in die Luft und ist keiner Erklärung mehr zugänglich, sie wedelt mit den Händen, als wolle sie Mücken verscheuchen, steht wie eine Wand vor ihr — eine Wand aus Fett, denkt sie wütend, und die Ungerechtigkeit schnürt ihr die Luft ab.

Die dicke Frau scheint ebenfalls wütend zu sein. Wir werden ja sehen, sagt sie, in einem Ton, als sei sie gekränkt, enttäuscht worden und als habe sie deshalb ein Recht auf ihre Wut.

Sie wird von der Dicken unsanft am Ellbogen die Treppe hochgeführt, an Jugendlichen vorbei, die sie neugierig anstarren. Sie gehen einen Gang entlang, dann schließt die Dicke eine Tür auf und bedeutet ihr einzutreten. Sie hört, wie die Tür hinter ihr zugeschlagen und abgeschlossen wird, als sie sich umdreht, ist sie allein. Die Zelle ist düster, die schmutzige Glasscheibe vergittert, an der Wand steht eine Pritsche, daneben ein Eimer zum Pissen. Sie stellt sich vor das geschlossene Fenster, sieht durch die Gitterstäbe auf ein flaches Dach, an dessen Seiten in der Sonne blinkende Glasscherben befestigt sind. Wieso ist sie hier? Warum darf sie ihren Bruder Elvis nicht sehen? Sie beginnt zu heulen, heult laut und hemmungslos. Was hat sie verbrochen? In ihren Ohren rauscht es. Wofür wird sie bestraft?