Выбрать главу

Sie hört ein Schaben, Wispern, Lachen, das Guckloch wird an der Außentür geöffnet, doch als sie zur Tür geht, kann sie niemanden erkennen. Der Tränenschleier verstellt ihr den Blick, und die Perspektive durch das Glasloch ist verwirrend. Sie setzt sich auf das Bett, spürt einen ekligen Geschmack im Mund und einen nagenden Hunger. Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln liegt in der Luft, sie fühlt sich schwindlig. Sie will hier nicht sein.

18

Als sie ins Kinderheim zurückkommt, steht ihr Name auf der Liste der negativen Kinder. Am ersten Tag nach den Ferien nimmt sich Herr Nissen Zeit, sie vorzuführen, schildert beim Appell ausführlich ihre Vergehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hört sie sich alles an, während sie mit der Zunge die übelsten Schimpfwör-ter an ihren Gaumen schreibt: Arschkrampe, Bazille, Asselarsch.

Ungerecht behandelt zu werden ist ihr vertraut, doch dieser Zorn darüber ist für sie neu. Die Einsicht, dass sie nicht liebenswert ist, erfüllt sie nun mit trotziger Aufsässigkeit.

Als August Kreische das nächste Mal ihren Nachtisch einfordert, ist sie fest entschlossen, sich das nicht gefallen zu lassen. Ruhig sieht sie ihm entgegen, duckt sich weg unter seiner Faust, nutzt seine Überraschung und springt ihn an. Sie reißt an seinen Haaren, kratzt, spuckt, pariert seine Schläge. Ihr Atem geht wild, sie kann gar nicht mehr aufhören, um sich zu schlagen. Sie ist schneller, wendiger als der Fettsack, und sie ist böse.

Ihr Ansehen bei den Mädchen ist gestiegen, und sie entdeckt, dass sie andere zum Lachen bringen kann, sie erfindet ständig neuen Unsinn. Sie parodiert die Schwächen der Erzieherinnen, macht den Heimleiter nach, seine Angewohnheit, die Augen leicht nach oben zu rollen, oder seinen steifbeinigen Watschelgang. Sie beendet seine langsamen Sätze, die manchmal in der Luft hängen bleiben, setzt unter dem Gekicher der Mädchen die irrsinnigsten Satzbrocken in die Lücken. Wir alle haben das Ziel, sagt er beispielsweise, und sie fügt hinzu: eine Gemeinschaft von Idioten aufzubauen.

Die Mädchen wollen ihre Geheimnisse mit ihr teilen; es freut sie, und gleichzeitig ist sie eingeschüchtert durch das Vertrauen, das die Mädchen ihr plötzlich entgegenbringen. Als sie von sich erzählen soll, findet sie zuerst keine Worte, doch dann denkt sie sich Geschichten aus, erzählt vom einem aus dem Irrenhaus entflohenen Verrückten, der sie verschleppt und tagelang in einer Höhle gefangen gehalten hat. Die entsetzten Blicke ihrer Zuhörerinnen empfindet sie wie einen Ritterschlag. Darauf bedacht, das Entsetzen in den Gesichtern zu halten, lässt sie sich bereitwillig ausfragen, schildert furchterregende Details. Als sie sieht, dass die Mädchen ihr glauben, sind die Geschichten auch für sie wahr. Die Jungs beäugen sie misstrauisch, und obwohl sie versucht, so finster auszuschauen, als würde sie ihren Tod planen, wünscht sie sich, die Jungs würden sie anders ansehen.

Sie ist merkwürdigen Stimmungen ausgesetzt, es gibt Stunden, da bringt sie nichts aus der Ruhe, dann wieder lässt der Flügelschlag eines Schmetterlings die Luft um sie herum erzittern, sie weiß nicht, wohin mit ihrer Energie, könnte ausrasten vor Ungeduld, und immer fühlt sie sich hungrig.

Die Speisekammer befindet sich in einem kleinen Anbau, gleich neben der Küche, die Vorräte sind dort in Regalen gelagert. Das vergitterte Fenster steht offen, über die Gitterstäbe ist ein grünes Fliegennetz gespannt. Niemand käme auf die Idee, dass ein Mensch durch die schmalen Zwischenräume passen könnte, doch sie hat gelernt, wenn der Kopf durchkommt, dann schafft es auch der ganze Körper. Mit einem einzigen Schnitt durchtrennt das Messer in ihrer Hand das Fliegennetz. Ihr Kopf passt mühelos durch die Gitterstäbe, ihr Körper schiebt sich schlangengleich hinterher, nur hat sie nicht mit dem Eimer Apfelmus gerechnet, der innen unter dem Fenster steht. Mit einem Fuß landet sie in dem Eimer, und als sie laut flucht, pressen sich Kindergesichter von außen an die Gitterstäbe. Sie verteilt alles, was sie in die Hände bekommt, Schokolade, Bonbons, Kokosflocken, Geleeschnitten, Kekse, dann geht der Zwieback raus und Obst, sie kommt sich vor, als würde sie einen gefährlichen Einsatz leiten. Als sie nach wenigen Minuten wieder nach draußen klettert, empfangen sie die anderen mit Applaus.

Nicht einmal der Heimleiter kann sich vorstellen, dass jemand durch die Gitterstäbe passt, aber woher haben die Diebe den Schlüssel für die Speisekammer? Warum ist das Fliegenfenster zerschnitten und das Apfelmus über den Boden verschmiert? Diese Fragen stellt Herr Nissen beim Montagsappell, und er verlangt die Namen der Täter, doch niemand antwortet ihm. Auch später wird sie nicht verpetzt, und für eine Weile fühlt sie sich unverwundbar.

Aus ihrem Spitznamen Gerippe ist Rippchen geworden, nur ein paar Jungs rufen sie noch Speiche und Hungerhaken, doch es macht ihr inzwischen weniger aus.

Seitdem sie der Klassenschönsten mit ihren Spickzetteln zu guten Deutschnoten verholfen hat, sind sie beinahe befreundet. Während des Unterrichts darf sie ihr mit einer kleinen Schere die ungesunden, gesplissten Haarspitzen abschneiden, sie darf ihr weiterhin Spickzettel zuwerfen, und in den Schulpausen erhält sie dafür von ihr Ratschläge über Frisuren und den richtigen Nagellack. Wenn Constanze mit ihr redet, hat sie das Gefühl, weniger hässlich zu sein, als würde ein Funken ihrer Schönheit auf sie überspringen und den Unterschied zwischen ihnen verwischen.

Vor den Weihnachtsferien erfährt sie, dass sie die Feiertage im Kinderheim verbringen muss. Ihr ist sofort klar, dass sie abhauen wird, sie wird Elvis in der Kinderkrippe besuchen. Diesmal weiht sie Miu und Radatte ein, die ihr beide anbieten, sie könne Heiligabend bei ihnen zu Hause verbringen.

Morgens auf dem Schulweg stemmt sie sich gemeinsam mit den anderen Kindern gegen den kalten, rauen Wind; irgendwann bleibt sie zurück, kramt so lange in ihrem Ranzen, bis die anderen hinter einem Hügel verschwunden sind. Sie läuft querfeldein zur Autobahn, zum ersten Mal trampt sie. Ein LKW hält quietschend neben ihr, und als sie einsteigt, hat sie das Gefühl, erwachsen zu sein. Auf die Frage des Fahrers, wo sie bei diesem Wetter hinwolle, erfindet sie einen Schulausflug und einen verpassten Bus. Der Fahrer scheint ihr zu glauben, er bietet ihr Kaffee aus einer Thermoskanne an, für den Rest der Fahrt starrt er wortlos auf die Straße. Er setzt sie am Hauptbahnhof ab, und als sie vor dem großen Sandsteingebäude steht, durchfährt sie wehmütige Freude; sie begrüßt den Hauptbahnhof, als wäre er ein alter Bekannter. Sie hat sich vorgenommen, ihren Bruder Elvis erst am Tag vor Heiligabend in der Kinderkrippe zu besuchen, dann würde die Polizei nicht mehr mit ihr rechnen.

19

Die erste Nacht will sie bei der Mutter von Radatte schlafen. Als sie an der Tür klingelt, erscheint hinter dem ovalen Fensterchen ein altes Frauengesicht, das stirnrunzelnd irgendetwas Unverständliches nuschelt. Nachdem sie ihr glaubhaft versichern konnte, dass sie die Freundin ihrer Tochter ist, öffnet die Frau die Tür und lässt sie herein. Die Wände in der Wohnung sind vollständig mit Bierdeckeln bedeckt, es riecht ungelüftet und nach Essensresten. Die Frau geht in die Toilette, und als sie wieder herauskommt, sieht sie weniger alt aus. Mein Gebiss, sagt sie, vergess ich immer.

Radattes Mutter setzt sich auf ein zerschlissenes rotes Samtsofa, bietet ihr den Platz neben sich an und beginnt mit flacher, tonloser Stimme zu reden; erzählt von ihrem Mann, der Geburt von Radatte, ihrer eigenen Kindheit, unterbricht sich nur, um einen Schluck aus der Bierflasche zu trinken. Radattes Mutter redet unentwegt, und sie nickt, als wäre sie ein lang erwarteter Gast und nur hierhergekommen, um ihr zuzuhören. Später holt die Frau ein Stück Hackbraten aus der Küche, kannste aufessen, sagt sie, während sie selbst nichts anrührt. Gegen Mitternacht stehen viele leere Bierflaschen auf dem Boden. Radattes Mutter ist völlig betrunken, und obwohl ihr die Worte wegrutschen, redet sie noch immer. Irgendetwas muss sie ihr mitteilen wollen, eine wichtige Botschaft — würde die Frau nicht sonst endlich den Mund halten? Ihr fallen die Augen zu, ihr Kopf sinkt auf die Sofalehne, und noch im Halbschlaf umhüllt sie das lallende Gemurmel.