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Als sie frühmorgens erwacht, leuchtet es hell, sie sieht vor dem Fenster große Schneeflocken durch die Luft taumeln. Sie betrachtet die Bierdeckel an den Wänden, die aus der ganzen Welt stammen, auf einigen der runden Pappdeckel entdeckt sie sogar chinesische Schriftzüge. Auch die Toilette ist mit Bierdeckeln tapeziert; sie versucht die Spülung leise zu ziehen, doch als sie das Wohnzimmer betritt, steht Radattes Mutter vor ihr. Sie sieht immer noch betrunken aus, ihre Augen liegen tief in den Höhlen, ihr Gesicht ist kalkweiß. Doch es scheint nichts mehr zu geben, worüber sie sprechen will, ohne ein Wort verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer. Der Schnee knallt inzwischen als heftiger, weißer Regen an die Fensterscheiben. Sie geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, nimmt sich eine Limo heraus, schlendert durch die Wohnung. Ihr fröstelt, sie berührt die kalten Ofenkacheln, versucht sich Radatte hier vorzustellen. Nach einer Weile zieht sie sich an und geht auf die Straße.

Den Vormittag verbringt sie im Zeitkino, dann streift sie durch den Bahnhof, steht vor der Mitropa und sieht hinter der schweren Glastür ihre Mutter. Die Mutter trägt einen Minirock unter der weißen Schürze, in ihrer hochtoupierten Frisur steckt ein glitzernder Haarreif, und sie lächelt — diese Mutter kommt ihr unwirklich vor. Was würde geschehen, wenn sie ihr winken würde und laut rufen: Hallo, ich bin’s, deine Tochter. Sie will es lieber nicht darauf ankommen lassen.

Es ist Mittagszeit. An einem Kiosk lässt sie Schokolade und Kekse mitgehen, und als sie überlegt, sich noch einmal im Zeitkino aufzuwärmen, steht ein Polizist vor ihr. Sie gibt einen falschen Namen an, bleibt auch auf dem Bahnhofsrevier stur bei ihrer Behauptung, sie sei Mercedes, die Verlobte von Edmond Dantès.

Welche Geschichte hat sie sich denn diesmal ausgedacht, fragt die Dicke bei ihrer Ankunft in der Nebelgasse den Polizisten. Ihr fleischiges Gesicht bleibt ausdruckslos, als er ihr von dem falschen Namen erzählt.

Ich weiß, wie sie heißt, sagt sie und zieht spöttisch die Augenbrauen hoch, sie ist ein ganz schön ausgekochtes Luder.

Ein Luder, wiederholt der Polizist.

Wir sind also wieder einmal abgehauen, sagt die Dicke.

Sie antwortet nicht, nur ihr Magen gibt ein knurrendes Geräusch von sich.

Während die Dicke spricht, zerhackt ihr ausgestreckter Zeigefinger die Luft, als sei die Luft ihr persönlicher Feind.

Sie hat keine Ahnung gehabt, dass sie so viele Vorschriften übertreten hat, dass es überhaupt so viele Vorschriften gibt, sie nickt, als hätte sie verstanden, dabei will sie nur ihre Ruhe. Sie hasst die Dicke, sie spürt den Hass wie einen dumpfen Druck in ihrem Bauch.

Heiligabend sitzt sie auf der Pritsche, allein in einer Zelle, blasses Licht dringt durch das vergitterte Fenster, Weihnachtslieder schallen durch den Flur, sie möchte sich am liebsten die Ohren zuhalten. Das Essen hat sie nicht angerührt, einen Apfel und ein Stück Weihnachtsstollen. Sie hockt sich über den grauen Blecheimer und pinkelt, überhört die gedämpften Stimmen hinter der Tür, genauso versucht sie das Knurren in ihrem Magen zu überhören. Sie nimmt den Apfel vom Teller und wirft ihn an die Wand, betrachtet höhnisch den Fleck, den er auf der grauen Farbschicht hinterlassen hat. Den Weihnachtsstollen zerbröselt sie, verteilt die Krümel über den Boden. Sie spürt einen großen Zorn, stellt sich vor, ihrem Heimleiter ein Messer in den fetten Bauch zu rammen und die Dicke in tausend Teile zu zerhacken.

Als sie nach drei Tagen ihre Zelle verlassen und in den Mädchenschlafraum überwechseln darf, versucht sie gleichmütig zu wirken, doch es nützt ihr nichts, die Dicke zählt ihre Untaten auf, mit einem hämischen Lächeln, das ihr Scheitern schon festgeschrieben sieht, jetzt und in alle Ewigkeit. Dennoch fühlt sie sich der Dicken überlegen, schon deshalb, weil die Frau nichts davon ahnt, dass sie längst zerhackt und blutig auf dem Boden liegt. Laut pfeifend folgt sie ihr über den Flur, als wäre es ein verrückter Traum, in dem sie sich bewegt.

In der Silvesternacht stehen die Mädchen im Schlafraum der Nebelgasse vor den vergitterten Fenstern, von denen aus man nur die gegenüberliegenden Mauern sehen kann. Um Mitternacht stellen sie sich die bunten Lichtblitze am Himmel vor, umarmen sich, stoßen mit eingeschmuggelten kleinen Schnapsflaschen auf die Zukunft an. Später liegen sie nebeneinander im Bett, ein Mädchen bei einem anderen, flüsterndes Gekicher erfüllt den Raum. Ungeschickt erwidert sie die Küsse einer kurzhaarigen Blonden, fühlt deren weiche Brüste unter dem derben Baumwollstoff, hört eingeschüchtert die stöhnenden Laute, als das blonde Mädchen sich an sie presst, und versinkt in einem Gespinst aus Federn und Haken.

20

In den letzten Wintertagen scheint der Schulweg kein Ende zu nehmen, in der Luft liegt eisiger Frost. Den Ranzen auf dem Rücken atmet sie hinter vorgehaltenen Händen. Erst wenn die Schule vor ihnen auftaucht, beginnen die Kinder zu reden. Die Schule ist ein flacher Sechzigerjahrebau, die grau verputzten Wände sind mit weißen Friedenstauben verziert. Im Staatsbürgerkundeunterricht beginnt sie Fragen zu stellen. Warum muss sie auf einem ihr zugewiesenen Territorium leben und darf es nicht verlassen? Was hat sie verbrochen, dass sie nie den Rest der Welt sehen darf? Und warum bringen ihr diese Fragen einen Tadel ein? Die Fragen sind doch in ihrem Kopf und verschwinden nicht einfach, bloß weil sie nicht ausgesprochen werden dürfen. Das versucht sie dem Lehrer zu erklären, der aber sieht sie an, als wäre sie ein Wesen vom Mars.

Ständig bettelt sie ihre Klassenkameraden um Schulbrote an, selbst im Unterricht muss sie essen. Sie hat das Gefühl, dass die Lehrer sie mögen. Die Deutschlehrerin lobt ihre Aufsätze, der Sportlehrer kritisiert ihre Faulheit mit dem Hinweis, dass sie die Beste sein könnte, wenn sie nur wollte. Doch ein kleiner Dämon in ihr scheint verhindern zu wollen, dass sie sich in der Schule anstrengt.

Ihre Konzentration reicht nur für Bücher. Mit einer Begeisterung, die sie sonst für nichts anderes aufbringt, liest sie Hemingway, Zola und Balzac; fast schlafwandlerisch verbringt sie ihre Freizeit auf dem Sofa im Gruppenraum, taucht nur zum Essen und Schlafen aus den Romanen auf. Sie ist erschüttert von den Geschichten, liebt ihre Romanfiguren voller Zärtlichkeit.

In den ersten Frühlingstagen kommt ein neuer Junge ins Heim. Er hat eine athletische Figur, blonde Haare, braune Augen, und er kann zielsicher durch seine Zahnlücke spucken — alle Mädchen sind sofort in ihn verknallt. Andy ist eine Klasse über ihr, ihm eilt der Ruf voraus, Mitglied der Gang vom Knochenplatz zu sein. Sein Haar ist wild und zerzaust, als der Friseur ins Heim kommt, bringt er es fertig, dass es ihm im Nacken nicht ausrasiert wird. Mit Andy beginnt eine neue Ära. Er weiß, wann und wo im Radio die Stones zu hören sind, er besitzt Fotos seiner Lieblingssänger aus Westzeitschriften, Frank Zappa grinst so teuflisch, als würde er direkt aus der Hölle kommen. Selbst Mädchen, die bisher nur Schlager gehört haben, begeistern sich plötzlich für Smokie, Musik aus dem Osten ist fortan verpönt, kein Frank Schöbel mehr, keine Chris Dörk.

Auch in der Schule fällt Andy auf, er schlendert lässig in seinen Nietenhosen durch die Gänge und tut so, als würde er die Blicke der Mädchen nicht bemerken. Vielleicht bemerkt er sie ja wirklich nicht. Constanze kann das Klingeln kaum erwarten, in jeder Pause sucht sie nach ihm und heftet sich an seine Fersen. Natürlich hat sie längst herausgefunden, dass er im Kinderheim lebt. Mit dir zusammen, sagt sie, Rippchen, wie gut du es hast; sie kann es kaum fassen, dass jemand so viel Glück haben kann.