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Obwohl Andy sie bisher noch nicht einmal wahrgenommen hat, nutzt sie die Situation aus und berichtet Constanze, wie sich ihr Auserwählter im Heim benimmt, sie erfindet Eigenarten, macht ihn zu einem romantischen Helden. Sie schafft es sogar, Andy einen Brief von Constanze zuzustecken, dem Brief ist ein Foto beigelegt. Das Foto scheint ihn zu interessieren, auf dem Schulweg fragt er sie, in welche Klasse die hübsche Blonde denn gehe. Trotzdem antwortet er Constanze erst nach zwei weiteren Briefen, seine hingekritzelten Sätze versetzen die Klassenschönste in Euphorie.

Sie darf Constanze zu Hause besuchen, lernt ihre Eltern, den Bruder kennen, den schwarz-weißen Mischlingshund. Aus Constanze wird Conny, und diese Conny wartet schon vor Schulbeginn auf sie. Weil sie Angst hat, diese exklusive Freundschaft zu verlieren, beschreibt sie Conny sehnsuchtsvolle, verliebte Seufzer, zu denen Andy niemals fähig wäre. Geduldig beantwortet sie Connys Fragen, doch ihre neue Freundin ist unersättlich, und so muss sie ihr jede Antwort wie ein Mantra wiederholen. Ja, er hat nach dir gefragt, sagt sie, während sie auf dem Schulhof mit ihr auf und ab geht. Sie will, dass sie mit Conny gesehen wird, sie will, dass alle sehen, wie erwartungsvoll Conny sie ansieht. Sie ist nicht mehr irgendwer, in ihrer Macht liegt es, die Klassenschönste zum Weinen zu bringen.

Als sich Andy dann das erste Mal mit Conny trifft, im Eisladen, ist sie dabei. Sie beobachtet die beiden, kommt sich ausgeschlossen vor, über einen Witz von Andy lacht sie übertrieben laut, obwohl sie den Witz nicht einmal verstanden hat. Später wertet sie mit Conny das Treffen bis ins kleinste Detail aus, und fast ist ihr, als wäre sie selbst von ihm geküsst worden, so genau kann sie sich nach Connys Beschreibung Andys sanfte, unwiderstehliche Lippen vorstellen.

Andy verliebt sich in Conny, und so steigt sie von der Kupplerin zur Vertrauten auf, überbringt Briefe und mündliche Botschaften, nimmt Anteil. Sie kann Conny nun täglich nach Hause begleiten, in ein Reihenhaus mit einem Vorgarten voller Krokusse. Sie essen Spaghetti in der holzgetäfelten Küche, schauen Fernsehen, führen gemeinsam den Hund aus. Connys Eltern arbeiten im Schichtdienst in der LPG, der Bruder ihrer Freundin geht auf die EOS, er ist genauso schön wie seine Schwester, und offenbar freut er sich über ihren Anblick. Wenn Bernd sie begrüßt, klingt Rippchen wie etwas Besonderes. Verlegen lässt sie sich von ihm durchs Haus führen, sein Zimmer erstaunt sie: Die Wände sind fast vollständig mit Indianerplakaten bedeckt, sie kann Winnetou erkennen und Old Shatterhand, im Regal stehen Bände von Karl May. Sie kennt keine Jungs, die Bücher lesen — sie ist beeindruckt.

Die Mädchen im Heim registrieren genau, dass Andy, der total einfetzende Andy, ein Junge vom Knochenplatz, sich mit ihr abgibt. Das scheint ihren Status noch einmal völlig zu verändern. Die Mädchen wollen mit ihr über Jungs reden, sie scheint über Nacht eine Expertin in dieser Hinsicht geworden zu sein. Sie übt mit den anderen Mädchen, wie man richtig lacht; es gibt das raue, fiese Lachen, das nur gelacht wird, wenn keine Jungs in der Nähe sind, es gibt das vornehme Lachen, das nur in Verbindung mit dem ebenfalls geprobten Augenaufschlag gilt, es gibt das Lachen mit einem quietschenden Gluckser am Ende. Die Mäd-chen verteilen Zensuren für Küsse, und sie bekommt eine Drei minus bei der Kussprüfung, sie selbst verteilt großzügig bessere Noten. Sie träumen sich ihre zukünftigen Geliebten herbei, entwerfen Gesichter, die Filmhelden ähneln, den Jungs vom Rummelplatz oder ihren Vätern. Sie selbst würde sich nie eingestehen, dass sie in Andy verliebt ist, und sie hat auch nur eine resignierte Vorstellung von ihrem späteren Mann, die sie den anderen Mädchen nicht erzählt. Ihr späterer Mann ist älter als sie, er ist dick und bettlägerig, er hat einen Hund, mit dem sie Gassi geht. Sie darf dem dicken Mann das Essen bringen, die Bettwäsche wechseln, sie darf ihm vorlesen. Sie reden kaum miteinander, Berührungen sind ausgeschlossen, sie bekommt Geld für ihre Dienste. Diese Vorstellung macht sie natürlich nicht glücklich, doch sie denkt, dass sie nichts Besseres verdient hat.

Weil Andy sie in seiner Nähe duldet, akzeptieren sie auch die anderen Jungs, sie helfen ihr sogar, mit zwei Nähnadeln eine Tätowierung auf ihren Arm zu stechen, einen Totenkopf, der aussieht, als ob er frieren würde. Sie hält den Schmerz aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn Andy gute Laune hat, ist er freigebig mit seiner Zuneigung. Als sie ihn um ein Freundschaftsfoto bittet, begleitet er sie ohne Widerworte zum Fotografen. Es ist kurz vor Ostern, in den Schaufenstern stehen Papphasen herum, bemalte Eier liegen in Körben, und sie muss kurz an zu Hause denken. Mit dem Fotografen besprechen sie das Format, es soll ein Schwarz-Weiß-Foto ohne Schmuckrand werden und so groß wie ein Briefumschlag. Während sie schon erwartungsvoll in die Linse starrt, versucht Andy vor dem Spiegel, die Haare nach hinten zu einem Entenschwanz zu kämmen. Als das Blitzlicht den Raum erhellt, spürt sie seinen Atem im Nacken, dann ist es vorbei. Auf dem Heimweg fühlt sie wie aus dem Nichts Verdrossenheit in sich aufsteigen, sie hat keine Lust zu reden, ihre Freude ist wie weggeblasen, und ihre Wut kommt für sie selbst ganz unerwartet. Am liebsten würde sie sich wie ein Affe durch die Bäume werfen und laute Urwaldschreie ausstoßen.

Als sie frühmorgens das Blut zwischen ihren Beinen entdeckt, ist sie überrascht, obwohl sie natürlich Bescheid weiß. Sie läuft zu der diensthabenden Erzieherin. Ich blute, sagt sie zu Frau Nissen, der Frau des Heimleiters. Sie muss an das Schwein denken, das im vergangenen Herbst im Hof des Heimes geschlachtet wurde, an die Wanne voller Blut. Die Kinder hatten das Schwein vorher wochenlang im Holzschuppen mit Küchenabfällen gefüttert. Sie weiß nicht, wie sie mit dem Geruch klarkommen soll. Frau Nissen gibt ihr Binden und erteilt ihr Hygieneratschläge, die anderen Mädchen schauen komisch, weil sie sich so affig anstellt. Sie hofft, dass sich ihr Körper verändern wird, dass sie Brüste bekommt, ihr nackter Hamster endlich Haare.

Eigentlich ist ihr die Jugendweihe egal, doch ihr gefällt, dass sie fortan von den Lehrern gesiezt werden wird und dass sie einen Personalausweis bekommt. Als sie verschiedene Kleider für den Festakt probiert, versucht sie sich einzureden, dass sie zugenommen hat. Sie entscheidet sich als einziges Mädchen in ihrer Klasse für einen Hosenanzug. Aber auch dieses Oberteil schlackert an ihr herum, die Hose rutscht ihr über die Hüften, obwohl sie die Knöpfe am Bund versetzt. Sie besorgt sich den kleinsten BH, stopft ihn mit Watte aus und zieht eine dicke Trainingshose unter die Hose des Anzugs.

Während der Friseur ihr die Haare auf Lockenwickler dreht, erfährt sie, dass der Waldbrand im vergangenen Jahr ein Anschlag aus dem Westen gewesen ist, auch beim lange zurückliegenden Eisenbahnunglück an der Küste soll der Westen seine Hände im Spiel gehabt haben, vierundvierzig Tote, wiederholt der Friseur voller Abscheu, der Westen ist doch zu allem fähig.

Obwohl sie den Laden mit ganz bestimmten Vorstellungen betreten haben — Radatte zeigt ein Bild von Gina Lollobrigida, sie selbst möchte wie die Geliebte von D’Artagnan aussehen —, verlassen sie das Geschäft mit den gleichen Frisuren; die Haare sind aus der Stirn nach hinten gesteckt, vor ihren Ohren kringeln sich die Korkenzieher. Auf dem Gruppenfoto, das sie später in den Händen hält, haben alle Mädchen diese Frisur.

In der Schulaula sitzen die kostümierten Mädchen, die Jungs tragen Anzug und Krawatte, der Direktor spricht, die Schüler wiederholen das Gelöbnis im Chor, geloben den Frieden zu verteidigen, die feste Freundschaft mit der Sowjetunion weiter zu vertiefen. Die Worte rauschen an ihnen vorbei, abgenutzt und bis zum Überdruss gehört, sind sie nichts weiter als leere Worthülsen, bedeutungslos für ihren Alltag.