Die Frühlingssonne strahlt schräg und warm durch die Fenster, zeigt Risse an den Wänden, Flecke auf Honeckers Lächeln. Als sie nach vorn geht, um sich das Buch Weltall, Erde, Mensch abzuholen, rinnt ihr Schweiß vom Hals den Rücken hinunter, wattige Hitze umgibt sie, die Trainingshose klebt an ihren Beinen. Der Direktor reicht ihr die Hand, sagt etwas, neigt den Kopf zur Seite, sie versteht kein Wort. Sie nimmt alles wie hinter einem Schleier wahr, die neuen Jugendweiheschuhe drücken, mit den lächerlichen vier Zentimeter hohen Absätzen überragt sie den Direktor. Während sie zurück auf ihren Platz geht, die Augen auf das verblichene Muster des Teppichs geheftet, versucht sie das Bild von sich auszublenden, das Bild einer staksenden Missgeburt. In ihrer Stuhlreihe angekommen, prustet sie los, kann nicht mehr aufhören zu lachen.
Conny trägt ein rosafarbenes, mit Perlen besetztes Kleid, ihr Gang ist schwingend, das Haar fällt ihr über die Schultern, leuchtend und dick wie Honig. Doch die Fingernägel ihrer Freundin sind bis auf die Haut abgebissen. Conny denkt an später. Sie sagt, ihre Eltern mögen Andy nicht, und sie wird ihr Leben lang weinen, wenn er sie verlässt. Sie hat nicht geahnt, dass ihre Freundin zu solchen Ausbrüchen fähig ist, ein Leben lang weinen, fast beneidet sie Conny um diese Vorstellung.
Sie hat sich eine Mutprobe ausgedacht. Sie überredet Conny, mit ihr auf den Friedhof zu gehen. Der Schlüssel zu dem kleinen Kabuff neben der Kirche liegt unter einem Blumentopf. Hinter dem Vorhang ist tatsächlich eine Tote aufgebahrt, eine alte Frau mit gefalteten Händen, die Augen geschlossen. Während sie die Frau aus der Nähe betrachtet, versucht sie etwas zu empfinden, berührt die Haut, doch es ist nur ein kühler Widerstand, so hat sie sich den Tod nicht vorgestellt. Der Schreck, der sich noch einstellt, kommt von einem Windstoß, der den Vorhang aufbauscht, und mit einem lauten Kreischen rennt sie nach draußen. Conny folgt ihr, ebenfalls schreiend, sie laufen die schmalen Wege entlang, taumeln über Gräber, das Licht färbt die Grabsteine knochenweiß. Sie steigern sich in ihre Furcht hinein, fallen in eine Art Schüttelfrost, und trotzdem, als sie den Friedhof verlassen, ist ihr leicht und froh zumute — es hat gutgetan, dieses laute Schreien.
Am nächsten Morgen macht sie sich allein auf den Weg; es ist windstill, als sie den Friedhof betritt. Sie bleibt lange vor der Toten stehen, redet mit ihr, doch nach einer Weile gehen ihr die Worte aus. Sie steht da und versucht sich den Totenschädel vorzustellen, die Knochen. Sie legt ihre Hand dahin, wo sie das Herz vermutet, fühlt nur den kalten, feuchten Stoff, spürt keine Angst, nur ein leises Knacken hinter ihrer Stirn. Sie denkt, dass es keinen Unterschied machen würde, läge sie dort, nichts wäre auch nur ein kleines bisschen anders, dieselbe Luft würde sanft die Blätter streifen, genau dieser Staub durch das flimmernde Sonnenlicht tanzen. Sie holt tief Luft, verschiebt den Tod in die Unendlichkeit, die sie noch vor sich hat, so viele Jahre lang.
21
Im Kinderheim benimmt sie sich anders als in der Schule, wilder und aufsässiger. Radatte ist die Zielscheibe ihres Spottes. Sie äfft ihren sächsischen Akzent nach und macht sich lustig über ihre tranige Art, über ihr Muttermal. Ihrem Hohngelächter setzt Radatte ihr übliches verschlafenes Schweigen entgegen, und wenn Radatte doch einmal wütend wird, hat sie sich längst in Sicherheit gebracht. Von Weitem ruft sie: Radatte, Radattengewitter, du bist fett wie ein Zwitter. Dabei mag sie Radatte, doch sie ist wie getrieben, manchmal hört sie ihre Spottrufe, als kämen sie von jemand anderem.
Sie hat sich angewöhnt, nachmittags mit ein paar Mädchen ins nächste Städtchen zu laufen, um dort in den Geschäften klauen zu gehen. Inzwischen ist sie zur Meisterdiebin aufgestiegen, sie schafft es sogar, mit einer Verkäuferin zu reden und gleichzeitig mehrere Schlager-Süßtafeln zu stehlen. Die anderen Mädchen bewundern sie dafür, gleichzeitig fürchten sie auch ihre Wutausbrüche, wenn sie sich wieder einmal unfähig anstellen. Sie zeigt ihnen genau, wie es geht: Sie schlendert durch die Regalreihen, und während sie in der einen Hand eine Tüte Bonbons begutachtet, mit einem Gesicht, als würde sie nachdenken, schiebt die andere Hand das Diebesgut unter den Pullover oder in den Hosenbund. Sie hat schon zehn Tafeln Schokolade auf einmal geklaut und dazu noch eine Packung Präser mitgehen lassen, nur weil sie neben der Kasse lagen. Die sogenannten Gummifuffziger haben sie dann auf der Straße aufgeblasen und durch die Luft wirbeln lassen.
Doch als sie einmal zurück ins Heim kommen, müde, von der Hitze ausgelaugt, erwartet sie Herr Nissen gemeinsam mit seiner Frau bereits vor der Tür. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass sie sich am sozialistischen Eigentum vergriffen hätten, dies sagt er wortwörtlich. Die anderen Mädchen sehen sie an. Vielleicht hätte sie nicht laut loslachen sollen, das passiert ihr in letzter Zeit öfter, und aus irgendeinem Grund hat sie mit der Ohrfeige gerechnet. Sie weicht aus, und so geht die Hand des Heimleiters ins Leere, was ihn sehr verärgert. Er räuspert sich und rotzt auf den Boden. Dann geht er auf sie los, doch seine Schläge sind seltsam kraftlos, weibisch, denkt sie, ihr Dauerlächeln scheint ihn zu reizen, er kann nicht aufhören, sie mit seinen schlaffen Patschhänden zu drangsalieren. Er lacht unangenehm, als er endlich die Hände bei sich behält. Seine Frau steht neben ihm und schaut zu.
Die Mädchen sind schockiert, finden die Sache skandalös, doch sie winkt nur ab, das ist die sozialistische Strafe für Diebstahl, sagt sie, wusstet ihr das nicht?
Sie fragt sich selbst, warum es ihr so wenig ausmacht, eine Antwort findet sie nicht; ein paar Schläge, denkt sie, na und, alles halb so wild, sie hat das Gefühl, als wäre nicht sie gemeint. Natürlich hasst sie den Heimleiter, noch mehr aber hasst sie seine feige Frau.
Als sie einmal keine Lust hat, in die Schule zu gehen, weil sie sich sicher ist, in der Mathearbeit eine Fünf zu schreiben, täuscht sie eine Bauchschmerzattacke so gut vor, dass eine Erzieherin den Krankenwagen ruft. Es überrascht sie, dass selbst die Ärzte darauf hereinfallen und ihren Blinddarm für entzündet erklären. Kurz darauf liegt sie auf dem OP — Tisch und starrt schläfrig in das grelle Licht über sich. Die Stimme der Schwester verhallt, und während sie ein riesiges Schachbrett auf sich zukommen sieht, durchfährt sie ein heftiger Schmerz. Ihr Mund aber bleibt geschlossen, sie kann nicht schreien, nicht einmal mit den Augen zwinkern, das Schachbrett nimmt Geschwindigkeit auf, stürzt hinab und zieht sie mit in die Tiefe.
Als sie aufwacht, ist ihr kotzübel, sie hat großen Durst und verflucht sich für ihre dämliche Ausrede. Sie liegt in einem großen Saal mit zwölf Betten. Sie stöhnt laut, verlangt etwas zu trinken. Sie darf zunächst kaum Flüssigkeit zu sich nehmen, erklärt ihr die Schwester, ehe sie einige Tropfen aus einem nassen Waschlappen in ihren Mund fallen lässt. Die nächsten Tage verträumt sie zwischen Fiebermessen, Hunger, Durst und Langeweile, sie hat nicht einmal ein Buch dabei.
Eine neue Patientin wird frisch aus dem OP in den Saal gerollt. Als sie wach wird, setzt sie sich sofort auf und sagt laut vernehmbar: Grüß Gott, alle miteinander, ich bin die Marianna. Die anderen Frauen tauschen Blicke aus, eine solche Begrüßung sind sie nicht gewohnt. Sie grüßen so leise zurück, als würde Honecker, der natürlich auch hier von den Wänden lächelt, sonst vor Schreck aus dem Bilderrahmen fallen. Marianna ist über dreißig, unter ihrem dunklen Haar schimmert hell die Kopfhaut hervor, sie trägt ein langärmeliges weißes Nachthemd. Als der Arzt sie untersuchen will, ziert sie sich wie ein junges Mädchen, lacht auf eine glucksende, schamhafte Art. Sie geht schon am ersten Tag allein auf die Toilette. Vor der Nachtruhe spricht Marianna laut ein Gebet.