Einmal kommt Marianna zu ihr ans Bett. Die Bibel kann Halt geben, sagt sie, während sich rote Flecke auf ihren Wangen ausbreiten, und der Herr ist für alle gestorben. Als Marianna dann gefühlvoll zu singen beginnt, hofft sie, dass niemand glaubt, ihr würde so etwas gefallen.
Ihr werden die Fäden gezogen, die Narbe auf ihrem Bauch ist groß und hässlich. Sie fährt mit dem Bus ins Kinderheim, eine Bibel und die Adresse von Marianna in der Tasche.
Die Sonne steht hoch und brennt. Oft haben sie ganze Tage hitzefrei. Sie ist dazu übergegangen, den BH mit Socken auszustopfen, unter ihren langen Hosen trägt sie selbst bei der größten Hitze immer noch eine Trainingshose. Sie hat sich daran gewöhnt zu schwitzen.
Im Garten wird ein kleines Schwimmbad gebaut, sechs mal sechs Meter groß, die Patenbrigade aus den Buntgarnwerken hilft dabei. Die Männerstimmen schallen laut durch die Luft, vermischen sich mit dem aufgeregten Geschnatter aus der Gänsefarm. Sie liegt auf dem Sofa im Gruppenraum und kann nicht aufhören, in diesem Buch zu lesen, Geliebte Söhne von Howard Spring, noch nie hat eine Geschichte sie derart erschüttert. Es geht um Liebe, die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn. Als sie den Roman beendet hat, ist sie so überwältigt und ergriffen, dass sie heult. Sie will Howard Spring danken, sie will ihm schreiben. Es gibt also jemanden auf der Welt, der sie versteht, obwohl er sie gar nicht kennt.
Als Mui das Buch ausgelesen hat, geben sie einander das Versprechen, ihre Kinder nach den Romanfiguren zu benennen, Maeve soll die Tochter heißen, Oliver der Sohn. Mui findet heraus, dass Howard Spring schon tot ist, sie trauern um ihn, mit dem Schwur, ihn niemals zu vergessen.
Das Schwimmbad wird eingeweiht, es sind fast vierzig Grad im Schatten, doch sie geht nicht ins Wasser. Sie hat keine Lust, dass die Jungs bei ihrem Anblick vor Lachen brüllen.
Die Tage scheinen wie eingeschlafen, sie sitzt auf einer Bank im Schatten und versucht ein Gedicht für die Schule zu lernen: Und schleppen sie in den dunklen Wald.
Und zwölfmal knallt es und widerhallt.
Da liegen sie mit erloschenem Blick,
jeder drei Nahschüsse im Genick,
John Schehr und Genossen.
Sie mag das Gedicht, es geht ihr leicht über die Lippen,»John Schehr und Genossen«, wenn es nach diesen Zeilen ginge, wäre sie längst Sozialistin geworden. Auch wenn sie am späten Abend mit Radatte aus dem Singeclub kommt und sie Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst in den Sternenhimmel schleudern, ist ihr ganz patriotisch zumute. Es ist einfach, in den Liedern und Gedichten gerecht und ungerecht zu unterscheiden, doch im alltäglichen Leben sieht es anders aus.
Sie hat damit gerechnet, Marianna nicht anzutreffen. Doch als sie an ihrer Tür klingelt, öffnet Marianna ihr und scheint gar nicht verwundert, sie zu sehen. Sie machen einen Spaziergang, den See entlang. Die trockene Hitze knistert in der Luft, und Marianna will mit ihr über Gott sprechen. In der Mitte des Sees fahren Boote, sie hört das Lachen der Kinder und spürt ein Unbehagen in sich aufsteigen, Marianna muss doch wissen, wie es um sie steht. Doch Marianna kann nicht aufhören zu predigen, und sie fragt sich einmal mehr, für wen sie gehalten wird. Beim Abschied hält Marianna lange ihre Hand, umarmt sie mit einem Freudengluckser und sagt ihr, wo die Schlüssel zu ihrer Wohnung liegen.
Als sie Marianna das nächste Mal besuchen will, bleibt es still hinter der Tür. Sie findet den Schlüssel und betritt die Wohnung. Sie entdeckt nur ein Kreuz an der Wand, sonst sieht alles ganz weltlich aus, wie eine ganz normale Wohnung. Was hat sie sich vorgestellt? Ein Lager aus Stroh? Sie geht durch das Wohnzimmer, betrachtet die Bücher im Regal, der Kühlschrank in der Küche ist fast leer, sie trinkt einen Schluck Waldmeisterlimonade. Sie öffnet die Schubladen, entdeckt zwischen der Wäsche zwei Stück Lux-Seife und im Badschrank eine Flasche 4711. Sie setzt sich in einen Sessel, wartete eine Weile, Sonnenlicht glitzert auf den blank gebohnerten Dielen. Als sie die Wohnung verlässt, sind die Taschen ihrer Trainingshose ausgebeult, es ist anders als sonst, wenn sie etwas geklaut hat. Sie hat ihre Eltern bestohlen, sonst fällt ihr niemand ein; Kaufhallen und Geschäfte zählen nicht. Auf dem Rückweg beeilt sie sich. Im Heim wäscht sie den Westgeruch aus ihren Sachen. Die Seife und das Kölnischwasser schickt sie ihrer Mutter.
Die nächsten Tage verbringt sie wie im Fieber, immer in der Erwartung, dass Marianna auftaucht und sie zur Rede stellt. Als sie das Ganze schon fast vergessen hat, ruft Herr Nissen sie zu sich ins Heimleiterzimmer.
Ich hatte heute Besuch, sagt er.
Sie antwortet nicht.
Komischer Besuch, murmelt er. Nennt sich Seelsorgerin.
Sie schweigt noch immer, starrt die Wand an.
Du siehst aus, als hättest du Zahnschmerzen, sagt er.
Nein, sagt sie, hab ich nicht.
Ich hoffe, du fängst nicht an zu beten.
Seine Stimme kommt ihr merkwürdig vor, sie sieht ihn an, seine Mundwinkel zucken.
Du hast ’ne Seele bestohlen, sagt er, und dann lacht er los, sein ganzer Körper bebt. Eine Seele, lacht er, ist dir das klar?
Sie nickt, schämt sich für sein Lachen.
Na gut, sagt er und scheint plötzlich müde. Ich will dieses christliche Gesocks hier nicht noch einmal sehen. Er nimmt eine Zeitung vom Tisch. Du kannst gehen, sagt er.
Sie schließt die Tür leise hinter sich. Aus irgendeinem Grund ist sie enttäuscht. In Gedanken nennt sie Marianna jetzt auch nur noch die Seele. Sie schafft es sogar, ihr Schuld zuzuweisen. Hat die Seele sie nicht hinterrücks beim Heimleiter verpetzt? Warum ist sie nicht zu ihr gekommen? Sie hätte sich entschuldigen können. Die Seele hat sie verraten.
22
In den Sommerferien darf sie nach Hause fahren. Die Mutter hat ihr geschrieben und sich für die schöne Seife bedankt. In den Nächten vor der Abreise hat sie versucht, sich das Wiedersehen auszumalen, doch die Bilder von der Mutter, den Brüdern blieben seltsam unvertraut. Sie nimmt sich vor, gehorsam zu sein, aber sich trotzdem nichts gefallen zu lassen, es soll alles gut werden, denkt sie.
Alex erwartet sie bereits hinter der spaltbreit geöffneten Tür. Die Mutter liegt im Bett und schläft. Elvis nuckelt am Schnorchel seines Bruders. Sie sitzt wie ein Gast in der Küche. Alex flüstert, obwohl ihn zwei geschlossene Türen von der schlafenden Mutter trennen. Alles ist so wie immer, sagt er und fragt ihr Löcher in den Bauch, ob im Heim Schläge verteilt werden oder Stubenarrest. Elvis erscheint ihr klein für sein Alter, und sie sucht vergebens nach etwas Vertrautem in seinem Gesicht.
Gegen Abend wird Alex unruhig, sie kann sehen, wie er angestrengt über den Flur lauscht, und als die Mutter in der Küche erscheint, wird sein Gesicht leer und ausdruckslos. Laut gähnend betrachtet die Mutter ihre Tochter. Bist du dünn, sagt sie, dünn wie ein Stock. Doch dann scheint sie sich zu besinnen, nimmt sie in die Arme, sagt, mein gutes Pferdchen.
Die Mutter wird schon am nächsten Morgen zu einer Urlaubsreise an den Balaton aufbrechen und erst am letzten Tag der Schulferien wieder da sein. Ich bezahle dich, du bekommst jeden Tag zehn Mark. Die Mutter entkorkt eine Weinflasche, zündet sich eine Zigarette an. Du kannst Mama spielen und wirst bezahlt dafür. Sie starrt abwesend dem Rauchfaden hinterher. Das hätte mir mal jemand bieten sollen.
Später im Bett hört sie die Mutter herumhantieren, singen und leise Flüche ausstoßen. Sie hat geglaubt, sie wäre stärker geworden, doch kein einziges Widerwort hat sie sich zu sagen, nicht eine einzige Frage zu stellen gewagt. Sie ist froh, dass die Mutter verreist.