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In den nächsten Tagen geht sie mit ihren Brüdern einkaufen, füllt den Kühlschrank auf, brät Buletten, probiert einen Kuchen, der ihr gründlich misslingt. Sie stellt die Möbel im Kinderzimmer um, klebt bunte Bilder an die Wände. Anfangs nimmt sie ihre Aufgaben ernst, widmet sich Elvis und versucht ihm wieder näherzukommen. Sie liest ihm Märchen vor, macht verschiedene Tierstimmen nach, denkt sich kleine Theaterstücke aus, die sie ihm vorführt. Alex will sich nichts mehr von ihr sagen lassen, und einmal verpasst sie ihm eine Ohrfeige, über die sie selbst erschrickt. Er schlägt mit dem Kopf an die Wand, seine rechte Augenbraue platzt auf.

Die Sommertage ziehen sich, die Langeweile umgibt sie wie ein wabernder Dunst, sie hat keine Lust mehr zu kochen oder mit den Brüdern spazieren zu gehen, auch ins Schwimmbad will sie nicht. Oft hat sie Kopfschmerzen, fühlt sich nicht gut. Am liebsten möchte sie nur schlafen. Doch dann hält sie es im Bett nicht mehr aus und verlässt mit einer Ausrede die Wohnung, geht allein durch die Straßen oder ins Kino. Die Nachmittagsvorstellung zeigt eine Woche lang Die Csárdásfürstin, ein Film aus den fünfziger Jahren mit Johannes Heesters, und sie sitzt jeden Tag dort, neben seufzenden älteren Damen, die verzückt mitsummen.

Sie bleibt im Bett, liest in ihren alten Märchenbüchern, hört Radio — das Wohnzimmer mit dem Fernseher hat die Mutter natürlich verschlossen —, oder sie beobachtet die Arbeiter gegenüber in der Werkzeugfabrik.

Manchmal streitet sie mit Alex, will ihn dazu bringen, ihr zu gehorchen. Doch es gibt auch Augenblicke, in denen sie sich von ihm bezwingen lässt, dann liegt sie auf dem Bett, er kitzelt sie, bis ihr das Herz in den Ohren dröhnt, und während er ihr Nachgeben ausnutzt, sie verspottet, übermütig an ihr herumzerrt, spürt sie einen tiefen Frieden, sich nicht wehren zu müssen.

Als ihnen in den letzten Ferientagen das Geld ausgeht, zeigt sie Alex, wie gut sie sich aufs Klauen versteht. Sie schlagen sich den Bauch voll mit Schokolade, Bonbons und Lakritze; sie rätseln, ob Lakritze wirklich aus Pferdeblut besteht. Das dreckige Geschirr türmt sich, der Mülleimer quillt über, sie waschen sich kaum, es gefällt ihr, schmutzig zu sein.

Sie haben nicht damit gerechnet, dass die Mutter schon in der Nacht vor dem letzten Ferientag zurückkommt. Sie sind noch wach, von der Hitze entkräftet, können nicht schlafen. Als sich der Schlüssel im Türschloss dreht, denken sie zuerst an Einbrecher. Sie hören eine Männerstimme, dann die Stimme der Mutter, sie klingt aufgekratzt, beide Stimmen werden leiser, verschwinden im Schlafzimmer. Sie wagen kaum zu atmen, können es nicht fassen, so glimpflich davongekommen zu sein.

Obwohl Alex und sie frühmorgens gemeinsam versuchen, ihre Schmutzspuren zu beseitigen, ahnt sie bereits die Nutzlosigkeit ihres Unterfangens. Deshalb hat sie ihre Sachen schon gepackt. Als die Mutter den Mann verabschiedet hat und sie allein mit ihr in der Wohnung sind, scheint sich die Raumtemperatur zu verändern. Während Alex und Elvis angststeif in der Küche sitzen, sich unter den scharfen Tönen der Mutter wegducken, wirft sie trotzig den Kopf zurück und schnappt sich ihre Tasche. Sie will noch etwas Treffendes sagen, doch das Geschrei ist ohrenbetäubend geworden, übertönt sogar das Knallen der Wohnungstür.

Draußen vibriert die Luft vor Hitze, sie hat noch ein paar Stunden, bis der Bus abfährt, und läuft durch die Straßen. Sie entdeckt die alte, blinde Frau mit ihrem Stock, stellt sich vor, wie sie die Frau am Arm nimmt und sie mitten auf der Fahrbahn stehen lässt. Sie malt sich aus, wie die Autos nicht mehr bremsen können, eine Massenkarambolage entsteht und die blinde Frau tot auf der Straße liegt. Eine Weile läuft sie der Blinden hinterher, doch dann sieht sie ihr Gesicht, das ihr uralt und einsam erscheint, und sie verspürt Mitleid mit ihr. Sie geht in die Kaufhalle und schlendert dort durch die Gänge, lässt ihre Hand lässig über die Schokolade im Regal gleiten, während ihr Blick ganz woanders weilt, und als sie das Geschäft verlässt, hat sie reichlich Proviant in ihrer Tasche. Bis zum Abend streift sie ziellos umher, geht ins Kaufhaus und probiert Kleider an, doch alle hängen viel zu groß an ihr herum, sie zieht den Reißverschluss an einem der Kleider so heftig zu, dass er kaputtgeht.

Am Busbahnhof begrüßt sie Mui, Radatte, die anderen Kinder. Anders als auf der Hinfahrt sitzen sie diesmal verhalten im Bus, keine Freude in den Gesichtern, dafür blaue Flecke und der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. Es wird ihr nie wieder passieren, nimmt sie sich vor, hoffnungsvoll irgendwohin zu fahren.

23

Manchmal muss sie einfach so lachen, über nichts, genauso abrupt kann ihre Stimmung in Zorn umschlagen. Ihr Strichkörper hat winzige Hügel bekommen, zwei geschwollene Brustwarzen, die sie misstrauisch beäugt, ihr Hamster ist mit dunklem Flaum bedeckt, ihre Füße erscheinen ihr riesig. Sie hat das Gefühl, anders zu riechen als sonst. Als sie einmal nach der Schule bei Conny im Garten sitzt, glaubt sie zu bemerken, dass Bernd sie anstarrt. Er fragt sie, ob sie noch einmal seine Indianerposter sehen will. Sie folgt ihm die Treppe hinauf, betrachtet Winnetou und Old Shatterhand an den Wänden, spürt ihn hinter sich stehen und atmen. Er legt sacht seine Hände auf ihre Schultern, dann zieht er sie auf sein Bett und küsst sie.

Auf dem Weg zurück ins Kinderheim fühlt sie sich verstört, sie kann es nicht glauben, dass der schönste Junge im Ort sie gemeint hat mit seinen Küssen. Warum hat er sie geküsst? Ist er in sie verliebt? Sie beschließt, verliebt zu sein. Abends bittet sie Radatte, ihr noch einmal die Kussprüfung abzunehmen. Eigentlich findet sie Küssen langweilig, nach einiger Übung bekommt sie eine Zwei minus.

Das nächste Mal beginnt Bernd nach ihrer Brust zu tasten, sie wehrt sich, von Scham überwältigt, dass er die Socken in ihrem BH fühlen könnte. Er darf alles, nur ihrer Brust darf er nicht zu nahe kommen. Er geht behutsam vor, küsst sie vorsichtig auf Schultern und Hals, seine Hand ist vor allem an einem Punkt interessiert, und der sitzt zwischen ihren Beinen. Diese Berührungen scheinen ihm besondere Freude zu bereiten, und wird sie nicht wenigstens dort wie alle anderen Mädchen beschaffen sein?

Sie ist nun wirklich verliebt, hat alle Symptome, von denen Mui und Conny ihr berichtet haben: Sie bekommt kaum Luft, und sie lässt die letzte Begegnung wie einen Film immer wieder in ihrem Kopf ablaufen. Aber sie fühlt noch etwas anderes, Angst, dass sich alles als ein Irrtum herausstellt, als ein böser Scherz, denn es bleibt ihr nach wie vor ein Rätsel, warum sich Bernd ausgerechnet mit ihr abgibt.

Er geht mit ihr im Wald spazieren, und sie spürt weder die warme Luft, noch nimmt sie etwas anderes wahr, sie ist nur darauf bedacht, alles richtig zu machen. Sie ist noch nie mit einem Jungen spazieren gegangen. Sie bemüht sich, ihm nicht ihr Profil zu zeigen, sie findet ihre Nase zu groß. Deshalb sieht sie ihn dauernd an, und bald schmerzt ihr der Nacken. Bernd hat eine Decke dabei, auf einer Lichtung breitet er sie aus. Er küsst sie sofort, diesmal anders als sonst, kräftiger, nicht so zärtlich. Aus der Ferne ertönt das Geschnatter der Gänse, doch eigentlich ist sie viel zu weit von der Farm entfernt, um es hören zu können, der Wind muss von Südwest kommen, denkt sie, obwohl sie doch gar nichts von Windrichtungen versteht. Sie zieht sich selbst die Hosen aus, damit er die Trainingshose darunter nicht bemerkt. Dann liegt sie regungslos da, blinzelt in den Himmel, sie kann Federwolken erkennen, eine Wolke ähnelt einem Schaf, einem Schafsbock mit schneckenförmig gedrehten Hörnern, vielleicht ist es eher ein Mufflon, denkt sie, oder ein Steppenschaf, und sie glaubt sich zu erinnern, dass die Weibchen nur kurze Hörner besitzen, wenn überhaupt.

Als sie aufstehen, fliegen Vögel mit lauten Rufen durch die Abendluft. Wir haben Fortschritte gemacht, sagt Bernd, das nächste Mal klappt es bestimmt. Sie hat keine Ahnung, ob sie überhaupt will, dass irgendetwas klappt, doch sie nickt, versucht ein Lächeln. Auf ihrer Haut glüht ein unbehaglicher Funkenregen, sie schämt sich, einerseits möchte sie ihm alle seine Wünsche erfüllen, doch will sie auch keine von denen sein, die es gleich machen.