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Sie befreundet sich mit Sputnik, einem Mädchen aus der Parallelklasse. Sputnik ist die Schnellste im Langlauf, ein schmales, drahtiges Mädchen, nur Sputnik kann sich im Laufen mit ihr messen. Sie wohnt mit ihren sieben Geschwistern und ihrer verwitweten Mutter in einem windschiefen Haus an einem Bach. Dort treffen sich die größeren Jungs aus der Umgebung. Die meisten der Jungs machen ihre Lehre in der LPG, Sputniks ältester Bruder beendet gerade seine Lehre in einer Gärtnerei und will später Friedhofsgärtner werden.

Nach der Schule sitzt sie mit ihrer neuen Freundin am Ufer des Baches, nach und nach trudeln die Jungs ein. Das erste Frühlingslicht fällt auf ihre bleichen Wintergesichter, die sie hungrig in die Sonne halten, und dabei paffen sie Zigaretten, schnipsen die Kippen ins Wasser und beobachten, wie sie langsam davontreiben. Auch Mädchen sind dabei, sie kann sich ihre Namen schlecht merken, weil sie oft wechseln: Nicole aus dem Friseurladen, deren Arsch aus dem Rock platzt, Christa mit der fleckigen Haut, Regina, dreißig, also steinalt, noch eine Nicole, die nur zweimal kurz auftaucht.

Harry, einer der Jungs, nennt sie Heimkind. Na, du Heimkind, sagt er und meint es überhaupt nicht böse, er lächelt dabei, als wären sie vom selben Schlag. Jeden Freitag schmeißen die Jungs eine Party am Bach, egal, ob sie am nächsten Tag zur Schicht müssen oder nicht. Sie trinkt mit ihnen Bier, das in einer Blechwanne mit Eis lagert, und Bergarbeiterschnaps, der ihr beim ersten Schluck den Boden unter den Füßen wegreißt. Ihre Freundin Sputnik ist trinkfester, sie muss sich auch nicht ihre Schüchternheit wegtrinken, sie trägt Die Glocke von Schiller auf Sächsisch vor, und die Jungs lachen sich halb schlapp.

Sie kommt an diesen Freitagen immer viel zu spät ins Heim zurück, kreuzt erst gegen Mitternacht auf, von der übermüdeten Nachtwache erwartet, die sie wortlos in ihr Zimmer führt. Nach mehreren Verweisen bemüht sie sich, pünktlich zu sein. Harry bringt sie mit dem Moped, und sie lässt sich zum Abschied von ihm eine Kette machen, eine Kette aus Knutschflecken, die sie stolz am Hals trägt. Mehr lässt sie nicht zu, er darf sie nur küssen, nicht anfassen. Er schenkt ihr einen ausgekochten Hühnerknochen, ein Rippchen; für dich, du Heimkind, sagt er, und sie fragt sich, ob sie ihm vielleicht gefällt. Harry macht eine Fleischerlehre, seine Hände ähneln Riesenpranken, sie würde glatt in eine seiner Hände passen, er könnte sie damit umhertragen, einfach so.

Die Schulstunden verschläft sie oder albert herum, gibt im ernsten Ton Blödsinn von sich, und ihre Lehrer betrachten sie mit einem müden Staunen. Nur die Deutschlehrerin hält an ihrer Schülerin fest, sie sagt ihr eine große Karriere als Schauspielerin voraus. Diese Vorstellung schmeichelt ihr, doch sie fühlt, dass sie nichts mit ihr zu tun hat. Seit sie den Sportlehrer hat sagen hören, sie als Lady Milford sei eine Bohnenstange im Reifrock, hat sie keine Lust mehr mitzuspielen.

Im Frühsommer wird Ludi zwanzig Kilo leichter aus dem Krankenhaus entlassen. Sie ist erschrocken über seinen Anblick. Sie muss an den Gevatter Tod aus den Märchen denken, und wie der Ludi für zu leicht befinden würde, zu leicht, um am Leben zu bleiben. Als er zwei Wochen später stirbt, fühlt sie nur eine dunkle Beklommenheit, keine Trauer, und als sie versucht zu weinen, kommt sie sich unecht vor, wie eine schlechte Schauspielerin, die auf eine Zwiebel starrt, um loszuheulen.

Am letzten Schultag haben sich ihre Klassenkameraden eine Überraschung für sie ausgedacht: Auf ihrer Bank liegen eingewickelte Pausenbrote, Kuchen, Äpfel, eine Tüte voller Kirschen, Kekse, Bonbons, Schokolade — jeder hat ihr etwas mitgebracht, und sie beginnt langsam und gerührt unter den Blicken der anderen zu essen. Sie schafft alles, verschmäht nur die Schachtel mit den lebendigen Weinbergschnecken.

Die Schulprüfungen hat sie gerade so bestanden, außer der Deutschnote sind ihre Zensuren ziemlich mies. Sie wird eine Lehre als Rinderzüchterin beginnen, und die in ihrem Vertrag stehende Berufsbezeichnung Zootechniker/Mechanisator macht es auch nicht glanzvoller. Rinderzüchter wird nur, wer nichts Besseres bekommen hat.

Sie wird aus dem Heim entlassen. Tagelang haben sie über nichts anderes geredet. Sie sitzt mit den anderen im Bus, der sie in die Sommerferien und zu den Eltern bringen soll, und sie versichern einander, sich nie zu vergessen. Radatte will Schneiderin werden, und Mui geht weiter auf die EOS. Als sie am Hauptbahnhof aus dem Bus steigen, verabschieden sich die anderen eilig von ihr. Sie steht blinzelnd da, versucht ihre Tränen wegzulächeln. Was hat sie denn erwartet? Dass Radatte traurig ist, sie nicht mehr zu sehen, nicht mehr von ihr verspottet zu werden?

Sie hat nicht vor, nach Hause zu gehen. Sie lässt ihr Gepäck in einem Schließfach, geht durch die Straßen und sucht nach einem Nachtquartier. Sie entscheidet sich für ein Abrisshaus, die zerbrochenen Fensterscheiben sind mit Holzbrettern vernagelt, Tapeten hängen in Fetzen herunter, überall Schimmel, doch es liegt ruhig, zurückgesetzt am Ende einer Straße. Es erscheint ihr wie eine Zufluchtsstätte, zumindest für diese Nacht.

25

Sputnik hat auf Usedom eine Ferienarbeit für sie organisiert. Als sie am späten Abend eintrifft, zeigt Sputnik ihr das Restaurant, wo sie in der Küche arbeiten werden. Das Restaurant ähnelt dem ihres Vaters, vor dem Fenster hängen sogar orangefarbene Gardinen. Dann gehen sie ans Meer, laufen aufgeregt am Strand entlang, der Sternenhimmel hängt tief, zum Greifen nah.

Am nächsten Morgen erwacht sie in einem erbärmlich stinkenden Zimmer. Sie sieht eine alte Frau breitbeinig mit erhobenem Rock auf dem Teppichläufer stehen und pissen. Das macht sie jeden Morgen, erzählt Sputnik, sie wird die Seche genannt, niemand kann sie abhalten, auf den Teppich zu pissen. Seche kommt von Sechen, klärt Sputnik sie auf, Pissen auf Sächsisch.

Nach dem Frühstück sieht sie die alte Frau auf dem Hof sitzen, auf dem Tisch vor ihr liegt ein Berg toter Fische. Sie wirft einen Fisch nach dem anderen, gereinigt und ausgenommen, in eine blaue Plastiktonne, silberne Schuppen segeln durch die Luft.

Der Koch ist Sachse. Er spricht im breiten Dialekt, sein Lachen klingt wie ein Knurren und hallt den ganzen Tag durch die Küche. Er scheint sie zu mögen, denn während Sputnik abwaschen muss, darf sie kalte Platten anrichten. Sie gibt sich Mühe, möchte ihn nicht enttäuschen, verzichtet sogar auf die Zigarettenpause, abends fällt sie müde ins Bett, vom scharfen Uringeruch der Seche eingehüllt.

Es gibt einen Kellner, der sie auch zu mögen scheint, doch anders als der Koch. Die Zigarettenkippe hängt ihm im Mundwinkel, wie bei ihrem Vater, nachlässig, als wäre ihm alles egal. Er schnalzt mit den Fingern, als sie an seiner offenen Tür vorbei über den Hof geht. Er fragt sie, ob sie ihm helfen kann, sein Jackett auszubürsten. Während sie mit der Kleiderbürste über den Stoff streift, dreht er sich vor ihr mit ausgebreiteten Armen. Seinem Körper haftet ein süßlich strenger Geruch an, Rasierwasser, Schweiß, oder riecht der Fischkadaver vom Hof ins Zimmer hinein? Er schließt die Tür, nimmt ihr die Bürste aus der Hand, dann beugt er sich zu ihr, öffnet ihren Mund mit seiner Zunge. Seine Küsse schmecken scheußlich, nach vergorenem Atem, und doch spürt sie eine Erregung, als sie sich von ihm losmacht. Geht sie in den nächsten Tagen an seiner Tür vorbei, lacht sie laut und wild, fühlt sich erhitzt, größer und weicher.

Als der Koch sie einmal in die Speisekammer schickt, entdeckt sie in einem Regal Büchsen mit Ölsardinen und Thunfisch, Pfirsichhälften in Gläsern, lauter rare Delikatessen. Sie ist fasziniert von den Ölsardinenbüchsen, die mit ihren zarten blassgrünen und blaugrauen Schriftzügen wie kleine Kunstwerke wirken, sie steckt sich eine Büchse in die Kittelschürze. Sie macht sich nichts aus Fisch, und doch hat sie schon bald unter ihrem Bett ein ganzes Lager von Ölsardinenbüchsen. Dann aber erwischt der Koch sie beim Klauen einer Büchse und stellt sie so wütend zur Rede, dass sie zuerst glaubt, es wäre ein Scherz. Es ist nur eine Fischbüchse, versucht sie sich zu verteidigen, doch der Koch nennt sie eine hinterhältige Diebin, seine Stimme bebt, er nimmt ein Tablett mit schmutzigem Besteck und wirft es laut krachend in das Spülbecken. Von weit her hört sie die Stimme ihres Vaters, ich als Mensch, würde er sagen, und er würde diesen Satz auch irgendwie zu Ende bringen.