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Nachts schleppt sie ihre mit dem Diebesgut gefüllte Reisetasche in den Wald und vergräbt alle Büchsen in der Erde. Sie hatte vor, die Fischbüchsen ihrer Mutter zu schenken, doch wie es aussieht, werden die Ölsardinen nun im Wald verrotten.

An ihrem letzten Abend schwimmt sie im Meer dem Horizont entgegen. Es ist warm und windstill, sie dreht sich auf den Rücken und lässt sich treiben, sieht die Sterne weit oben am dunklen Himmel. Sie stellt sich vor, sie würde auf den Meeresgrund sinken, sich dort mit aller Kraft abstoßen, durch das Wasser schwungvoll nach oben schnellen, und dann würde sie wieder auftauchen, wie neu, als wäre ihr nie etwas passiert.

26

Verschlafen stapft sie frühmorgens mit den anderen Lehrlingen in Gummistiefeln über die Seuchenmatte. Es ist vier Uhr dreißig, draußen ist es stockfinster. Sie schnallt sich den Melkschemel mit einem Gürtel um die Hüften, setzt sich vor eine Kuh, massiert das Euter mit einem Lappen, bis die Milch einschießt; sie hat den Dreh beim Melken schnell herausgefunden. Sie mag die Kühe, ihr leises Schnauben beim Wiederkäuen, die Wärme ihrer Körper.

Die vierhundert Kühe der LPG sind auf sechs Ställe verteilt, es gibt zwei Scheunen und ein Gebäude für die Kälberaufzucht. Das Lehrlingswohnheim liegt gleich neben den Ställen. In ihrem Zimmer sind zehn Mädchen untergebracht, sie schläft oben in einem Doppelstockbett. Sie freundet sich mit Babsy an, die eine Lederjacke trägt, Illustrierte aus dem Westen besitzt, Kette raucht und über Politik redet. Babsy will später unbedingt in den Westen, erzählt ihr viel von falschen Pässen, unterirdischen Gängen und der Flucht mit einem Heißluftballon. Sie selbst hat keinen Plan für ihr Leben, manchmal träumt sie davon, Veterinärmedizin zu studieren, dann wieder sieht sie sich als Schäferin durch die Felder ziehen, vielleicht wird sie Kriminalgeschichten schreiben wie ihr Vater oder mit ihren Brüdern das Haus im Wald bewohnen.

Einmal wird sie Zeugin, wie eine Kuh zu Tode geprügelt wird. Die Kuh ist auf den feuchten Fliesen ausgerutscht, und ein Arbeiter tritt dem Tier, das sich nicht schnell genug erheben kann, mit seinen Gummistiefeln in die Flanken, laut ruft er nach seinen Kollegen. Gemeinsam versuchen sie die Kuh hochzuhieven, doch sie rutscht noch einmal aus, diesmal grätschen ihre Hinterbeine auseinander. Es scheint kein Hochkommen mehr möglich, das Tier gibt verzweifelt klingende Laute von sich. Der Arbeiter nimmt eine Eisenstange und schlägt auf die Kuh ein, er schlägt, als wolle er nie wieder aufhören, die anderen feuern ihn lautstark an. Als sie Babsy davon berichtet, zuckt die nur mit den Achseln, reg dich ab, sagt sie, es ist nur ein Tier.

Sie besteht die Melkprüfung als Beste, doch die Arbeit beginnt sie zu langweilen. Schon bald gewöhnt sie sich an, die erste Stunde der Frühschicht im Stroh zu verschlafen, und sie sträubt sich, die schweren Strohballen vom Wagen in die Mistgänge zu werfen oder die vollen Melkkübel in den Kühlraum zu schleppen. Ihre Fehltage häufen sich.

Sie trampt mit Babsy von einem Ort zum anderen. Sie übernachten irgendwo, erwachen früh auf Parkbänken, in Heuschobern oder auch in fremden Wohnungen. Während Babsy sich mit anderen unterhält, steht sie abseits, nur wenn sie etwas getrunken hat, verliert sie ihre Schüchternheit und ergreift das Wort. Dann redet sie kühn drauflos, als hätte sie mehr zu sagen als jeder andere Mensch. Wenn sie dann morgens erwacht, ist es ihr nur noch peinlich.

Oft ist sie auch allein unterwegs. Dann ist ihre Reisegeschwindigkeit eine andere, sie verweilt länger an den Orten, geht in kleine Backsteinkirchen oder sitzt stundenlang am Ufer eines Flusses, manchmal stellt sie sich vor, ihre Brüder wären bei ihr. Sie mag es, in der Dämmerung über die Autobahn zu fahren und nicht zu wissen, wo sie ein paar Stunden später übernachten wird.

Als sie wieder einmal einen Tag nicht zur Arbeit erschienen ist, schluckt sie den ganzen Inhalt einer Tube Zahnpasta herunter, um einem Verweis zu entgehen. Babsy hat ihr erzählt, dadurch würde sich hohes Fieber einstellen. Doch sie muss sich nicht einmal erbrechen.

Als Babsy ihr eine andere Lösung vorschlägt, die ihr eine lange Krankschreibung einbringen wird, hält sie die Idee zuerst für einen Scherz.

Ich soll was tun?

Hab nur meine Hilfe angeboten, Babsy zuckt mit den Schultern, ist deine Entscheidung.

Du willst mir den Arm brechen? Mit einer Eisenstange?

Warum nicht? Das bringt mindestens zwei Monate, es dauert, bis ein Bruch verheilt.

Ihre Gedanken rasen. Sie will es nicht, und doch, sie muss verrückt sein, sie hält es für eine Möglichkeit.

Wir nehmen den linken Unterarm, Babsy lacht leise vor sich hin und schiebt zwei Stühle bis auf einen Abstand von ungefähr 15 Zentimetern zusammen, über diese Lücke soll sie ihren Arm legen. Sie folgt der Anweisung, schließt die Augen, hört die Eisenstange, zieht den Arm weg.

Es ist dein Problem, sagt Babsy, nicht meins.

Ein Zittern durchläuft ihren Körper. Babsy nennt sich ihre Freundin, doch was weiß sie schon von ihr? — dies zu denken erscheint ihr anstrengend, laut ihre Zweifel auszusprechen hält sie für unausführbar. Sie spürt eine Müdigkeit im Nacken, als solle sie die Eisenstange dort treffen. Sonnenlicht dringt durch ihre geschlossenen Lider. Sie zieht den Arm nicht zurück.

Im Nachhinein bildet sie sich ein, gehört zu haben, wie ihre Knochen splittern. Doch das kann nicht sein, denn der Arzt konstatiert nach dem Röntgen einen sauberen Bruch.

Wegen ihres Gipsarms wird sie dazu eingeteilt, die Kühe auf die Weide zu bringen. Mit einem Stock in der rechten beweglichen Hand treibt sie die Tiere die Feldwege entlang. In der Luft liegt der Geruch nach Mist und Silage. Sie schließt das Gatter hinter den Tieren und legt sich ins Gras.

Sie hat heute Geburtstag, ihren siebzehnten. Eigentlich wollte sie ihn feiern, doch dann wusste sie nicht, wie. Sie hat noch immer nicht zugelegt, kein Gramm Fett für schlechte Zeiten auf den Rippen. Kleiderstange hat sie kürzlich der Nachtwächter genannt, Kleiderstange, du musst mehr essen, hat er ihr mit besorgtem Spott hinterhergerufen. Dabei isst sie in der Kantine mehr als die Männer, im Kühlhaus trinkt sie den Rahm von der Milch, nur um endlich zuzunehmen. Sie hat wieder zu lesen begonnen, auf Schritt und Tritt trägt sie ein Buch bei sich. Sie glaubt, immer noch Jungfrau zu sein, die Jungs halten sie für verklemmt. Ihre Lehre wird sie wahrscheinlich abbrechen, sie kann sich nicht vorstellen, hierzubleiben. Sie hat der Mutter geschrieben. In einem Brief macht sie ihr wütende Vorwürfe, in einem anderen schreibt sie, alles sei in Ordnung. Sie hat keinen der Briefe abgeschickt.

Sie hört einen Vogelschwarm, bevor sie ihn sieht, Wildenten, die Richtung Süden ziehen. Sie stellt sich vor, mit ihnen zu fliegen, egal wohin. Sie steigt schwerelos empor, betrachtet die Welt von oben, sieht sich selbst im Gras liegen, die Arme ausgebreitet, alles ist nah und doch so unendlich weit entfernt, sie fliegt höher und höher, bis sie ganz verschwunden ist.

Das Buch Die berührende Geschichte einer Selbstbehauptung

Angelika Klüssendorf erzählt von einem jungen starken Mädchen, das sich herausarbeitet aus allem, was sie umgibt und niederhält: die tyrannische Mutter, die autoritären Lehrer, der bürokratische Staatsapparat. Am Anfang scheint alles schon zu Ende zu sein: Der Vater trinkt und taucht nur sporadisch auf, die Mutter lässt ihre Wut an den Kindern aus, die Klassenkameraden meiden das Mädchen, der jüngere Bruder kapselt sich völlig ab. Und doch gibt es eine Kraft, die das Mädchen trägt. Die Bilder aus» Brehms Tierleben«, die sie bewundert, der Traum vom kleinen Haus mit Garten auf dem Lande, Grimms Märchen. Und immer wieder Menschen, die ihr etwas bedeuten und die sie halten. Eines hat sie gelernt: Man muss sich holen, was man braucht. Auch wenn sie mehrfach beim Ladendiebstahl erwischt und schließlich ins Heim gesteckt wird, kann sie sich auch dort auf die neue Lage einstellen. Und das Kinderheim wird auf überraschende Weise zu einem Refugium, wo Kindheit erstmals gelebt werden kann. Mit ihrer klaren, knappen, präzisen Prosa, großer Lakonie und trockenem Humor versetzt Angelika Klüssendorf den Leser in eine Welt, die das Kindsein kaum zulässt. Atemlos folgt man einer Heranwachsenden, die nichts hat, worauf sie sich verlassen kann, und trotzdem den Lebenswillen nicht verliert — kein bemitleidenswertes Opfer, sondern ein starker, abgründiger Charakter. Ein literarisches Meisterwerk!