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Sie will der Mutter von Elvira etwas schenken, möchte sich bedanken für die Freundlichkeit, mit der sie behandelt wird. Noch nie ist sie zielgerichtet losgegangen, um etwas zu stehlen. Sie streift durch das Kaufhaus, betrachtet Blusen, Kleider, Mäntel. Keine der Verkäuferinnen fragt sie nach ihren Wünschen. Sie entscheidet sich für eine knallrote Kittelschürze aus Dederon, alle anderen Kleidungsstücke findet sie noch hässlicher.

Als Elvira die Tür öffnet, legt sie den Finger auf den Mund, bedeutet ihr leise zu sein. Ihre Mutter ist krank. Im Wohnzimmer sitzt Elviras Vater im Sessel, das Radio läuft. Er bietet ihr eine Tasse Kaffee an. Sie trinkt sonst nur Malzkaffee und ist überrascht vom bitteren Geschmack. Sie deutet auf das Foto an der Wand, das einen Mann mit nacktem, schmutzigem Oberkörper und schwarz verschmiertem Gesicht zeigt.

Wer ist das, fragt sie.

Elviras Vater nimmt die Brille ab und beginnt, einen Vortrag über Adolf Hennecke zu halten, Aktivist der ersten Stunde, der seine Arbeitsnorm selbst überboten hat. Es verwundert sie, wie ernsthaft er ihre Frage beantwortet, und weil sie spürt, dass ihm ihre Neugierde gefällt, stellt sie weitere Fragen. Doch dann wird sie das Gefühl nicht los, dass er redet, als müsse er sich selbst von seinen Worten überzeugen, seine Stimme klingt wie die eines Politikers im Radio. Mitten im Satz hält er inne, macht eine Handbewegung, als wolle er etwas vom Tisch wischen, und setzt die Brille wieder auf. Natürlich kennt sie den Namen Adolf Hennecke. Von wegen Vorbild für alle, über ihn werden Witze gerissen, weil er die Norm gebrochen und die Kumpels verraten hat; wenn es einen kräftigen Regen gibt, sagen die Erwachsenen, es gießt wie Hennecke.

Die knallrote Schürze nimmt sie wieder mit nach Hause und schneidert daraus Kleider für ihre Puppen.

Die Mutter erlaubt ihr nur selten, nach der Schule auf die Straße zu gehen, und noch nie durfte sie Besuch bei sich zu Hause empfangen. Ihre Mutter arbeitet im Schichtdienst als Kellnerin in der Mitropa-Gaststätte im Hauptbahnhof und liegt oft noch im Bett, wenn sie aus der Schule zurückkommt. Obwohl sie leise durch den Flur schleicht, ertönen sofort Rufe, die ihr gelten. Seit einigen Wochen ist die Mutter ständig außer sich, ihr Bauch sieht eindeutig größer aus. Die Mutter spricht mit ihr kein Wort darüber, und sie wagt nicht zu fragen. In den Augen der Mutter kann sie nichts richtig machen, blindlings schlägt sie auf ihre Tochter ein. Ihr Stubenarrest wird immer länger, zuerst waren es Tage und Wochen, doch dann hat die Mutter den Überblick verloren und gesagt, bis zum Herbst, bis der erste Schnee fällt, das ganze nächste Jahr muss sie drinnen bleiben.

Sie bittet Elvira, nach der Schule eine Weile vor ihrer Wohnungstür zu warten, bis sich die Mutter wieder beruhigt hat. Sie fühlt sich stärker, weniger allein, und die Schläge schmerzen nicht so, wenn die Freundin ihre Schreie hört.

5

Sie hört ein Lachen, als sie die Wohnungstür öffnet, ein dunkles Männerlachen, und bevor sie die Küche betritt, fragt sie sich, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Am Tisch sitzt ein Mann neben der Mutter, schwarzhaarig, mit dunklen Brauen, seine Schultern sind schmal, ein wenig nach vorn gezogen. Die Füße ihrer Mutter liegen auf seinem Schoß, er hat eine Hand um ihre nackten Knöchel gelegt. Vor ihnen stehen eine Weinflasche und zwei Gläser.

Der Mann starrt sie an. Ist sie das, fragt er.

Das ist deine Tochter, antwortet die Mutter mit gepresster Stimme und nimmt die Füße von seinem Schoß.

Komm her, sagt der Mann, der ihr Vater sein soll.

Er hat eine Fahne, denkt sie, als er sie umarmt, und da ist noch ein anderer, fremder Geruch.

Sie beantwortet seine Fragen. An seinem Mittelfinger glänzen zwei Ringe, der Nagel an seinem linken kleinen Finger ist rot lackiert, Brusthaar kräuselt sich aus seinem weit geöffneten Hemd. Das soll ihr Vater sein? Er hat sich wieder der Mutter zugewandt, und es sieht so aus, als lausche sie seinen Worten mit Bewunderung.

Später holt sie ihren Bruder vom Kindergarten ab. Er regt sich auf, als sie ihm von dem Mann in der Küche erzählt, der vielleicht auch sein Vater ist. Doch das erweist sich als Irrtum.

Die Mutter stellt Alex vor, sie sagt: Es ist zwar nicht deiner, dafür hat er schöne Locken.

Der Mann sieht ihn kaum an.

Richtiges Engelshaar, sagt die Mutter. Alex steht stumm, nervös blinzelnd, vor ihm und scheint dem Heulen nah zu sein.

Der Mann lacht laut und zeigt seine gelben Zähne. Wir wollen feiern, sagt er, ich bin in Feierlaune.

Die Mutter gibt ihr Geld und schickt sie zu» Jahns Ruhe«. Der Wirt trägt ihr die Netze mit den Bierflaschen bis vor die Tür. Es wird schon dunkel, sie versucht sich vorzustellen, wie die Menschen hinter den erleuchteten Fenstern leben, doch heute gelingt es ihr nicht, zu viele Fragen gehen ihr durch den Kopf. Wird dieser Mann, der ihr Vater sein soll, bei ihnen wohnen? Werden sie eine Familie sein, zusammen an einem Tisch essen?

Der Vater hat Durst, großen Durst. Er hat das Bier schnell ausgetrunken. Sie geht an diesem Abend noch oft zu» Jahns Ruhe«, die Kneipe schließt erst lange nach Mitternacht. Bevor sie ins Bett darf, umarmt der Vater sie, will seine Tochter gar nicht mehr loslassen, doch ihr sind diese Zärtlichkeiten peinlich.

Seit der Vater bei ihnen wohnt, ist einiges anders geworden. Wenn sich die Mutter mit dem Vater streitet, was täglich geschieht, hat sie danach kaum noch die Kraft, um laut herumzuschreien oder ihre Kinder zu verprügeln. Es gibt Tage, da essen sie gemeinsam Abendbrot, sitzen wie eine Familie am Tisch. Wohl fühlt sie sich dabei nicht. Ständig nörgelt die Mutter herum. Sitzt gerade, sagt sie zu den Geschwistern, Hände auf den Tisch, nicht schmatzen, haltet den Mund.

Aus irgendeinem Grund nennt der Vater ihren Bruder Thusnelda Morgenröte. Sich selbst bezeichnet er als Mensch: Der Mensch ist heute nicht zum Scherzen aufgelegt, sagt er beispielsweise, oder: Habe ich als Mensch etwa nicht meine Ruhe verdient?

Dir hat es wohl die Sprache verschlagen, faucht die Mutter Alex an. Er hockt vor dem Bett, atmet durch einen alten Schnorchel und bewegt dabei den Oberkörper hin und her. Nimm das Ding aus dem Mund, sagt die Mutter und schlägt mit der Faust gegen die Wand. Ihr Bruder presst die Augen zusammen. Sie kennt dieses Gefühclass="underline" Er möchte unsichtbar sein. Sie betrachtet die Szene wie von weit weg, und obwohl sie Mitleid mit ihm hat, überwiegt doch die Erleichterung, dass diesmal das Zorngewitter nicht sie trifft.

Als sie in der Nacht aufwacht, sieht sie Alex am Fenster stehen. Sie ruft ihn, doch er reagiert nicht. Er starrt aus dem Fenster, ohne sie zu beachten. Als sie ihn am Ellbogen packt, stößt er einen Schrei aus. Sie hält ihm den Mund zu. Sei still, sagt sie, sonst wacht die Alte auf. Sei still, wiederholt sie und zieht ihren Bruder hinter sich her. Er folgt ihr, setzt sich auf die Bettkante, sein Gesicht ist bleich. Nachdem sie eine Weile auf ihn eingeredet hat, legt er sich hin. Sie schmiegt sich an ihn und horcht auf seine Atemzüge.

Die Mutter lacht, als sie ihr davon erzählt. Das hätte ich gern gesehen, sagt sie, so was Komisches. Sie betrachtet ihren Sohn erstaunt. Ein Mondsüchtiger, sagt die Mutter, ein echter Mondsüchtiger, und fährt ihm durch die Locken.

Sie hat sich für Mitternacht den Wecker gestellt. Aber diesmal steht Alex nicht am Fenster, er schläft tief und fest in seinem Bett. Sie setzt sich zu ihm, streicht über seinen Rücken. Sie erwartet etwas von dieser Nacht, spürt Unruhe in ihren Gliedern. Sie versucht ihren Bruder wachzurütteln.

Steh auf, sagt sie, du musst aufstehen. Als er endlich die Augen öffnet, sagt sie mit verstellter Stimme: Der Mond wartet auf dich. Du sollst zu ihm kommen.