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Aber Alex versteht gar nichts. Er reibt sich die Augen, was ist denn, murmelt er, lass mich in Ruhe. Sie zwickt ihn leicht in den Arm. Du träumst, sagt sie, du bist in einem Traum. Sie streicht ihm eine Locke aus der Stirn und flüstert: Erhebe dich. Alex verschluckt sich beim Luftholen und schüttelt den Kopf.

Aufstehen, sagt sie und schnalzt mit der Zunge gegen den Gaumen.

Als er vor ihr steht, weiß sie selbst nicht, was sie von ihm will. Geh zum Fenster, sagt sie.

Alex stellt sich ans Fenster.

Sie betrachtet den Himmel. Kein Mond da heute, sagt sie. Von draußen ist das Quietschen der Straßenbahn zu hören. Sie fröstelt, und dann fällt ihr Blick auf den Nachttopf des Bruders. Sie denkt kurz nach. Dein Unterhemd ist schmutzig, sagt sie.

Er weigert sich, das Hemd in dem halb vollen Nachttopf zu waschen. Das ist Pisse, sagt er und schaut sie voller Ekel an.

Es passiert nicht in echt, ist nur ein Traum, sagt sie und versucht überzeugend zu klingen.

Er wendet seinen Kopf ab und hustet laut, während er das Unterhemd in den Nachttopf taucht. Zwischen zwei Atemstößen wringt er das Hemd aus und legt es ausgebreitet auf den Boden.

Es sieht sauberer aus, sagt sie anerkennend.

Alex taumelt müde ins Bett. Sie wartet, bis er eingeschlafen ist. Dann nimmt sie seinen Arm, der über die Bettkante hängt, und legt ihn aufs Laken.

Am nächsten Tag kann sie es kaum erwarten, der Mutter davon zu berichten. Die tut zuerst so, als habe sie nicht verstanden. Er hat was?

Sie erzählt die Geschichte noch einmal, erfindet verrückte Details. Er ist wieder schlafgewandelt, sagt sie, er hat die Arme ausgebreitet wie ein Vogel seine Flügel.

Die Mutter schnippt einen Krümel von ihrer Bluse. Dann ruft sie laut nach Alex. Du verdammter Bettnässer, sagt sie zu ihm, komm mir nicht mehr unter die Augen.

6

Sie hat sich schon lange in der Bücherei angemeldet; atemlos verschlingt sie Der Graf von Monte Christo. Sie möchte dieses Buch selbst besitzen, deshalb schreibt sie Kapitel für Kapitel in ein Heft ab. Sie schwört Rache für ihren Helden Edmond Dantès, der so schmählich um Liebe und Jugend betrogen wurde. Wäre sie Mercedes, die Braut des jungen Mannes, gewesen, niemals hätte sie sich von den heimtückischen Schurken täuschen lassen.

Aber noch kann sie ihre Bereitschaft zur Liebe nicht unter Beweis stellen. Kein Junge beachtet sie, und in der Klasse gibt es nur einen, der ihr gefällt. Uwe hat lange, dunkle Wimpern, seine Nase steht etwas schräg, in seiner Freizeit, so heißt es, macht er Judo. Er erscheint ihr auf eine kühne Art attraktiv. Doch Uwe ist längst an eine langhaarige Blonde vergeben. Einmal legt sie ihm heimlich ein Bonbon auf seinen Platz und beobachtet, wie er sich zuerst fragend umsieht, dann das Bonbon auswickelt und in den Mund steckt. Von da an versteckt sie Süßigkeiten in seinem Ranzen oder unter seiner Bank, und wenn er sie isst, fühlt sie sich mit ihm verbunden. Ich bin es, möchte sie ihm zurufen, doch nie schaut er in ihre Richtung.

Uwe hat einen Bruder, er ist eine Klasse unter ihr, und auch ihn findet sie schön. Als sie ihm einmal auf der Straße entgegenkommt, Alex an der Hand, erwidert er tatsächlich ihr schiefes Lächeln und bleibt stehen.

Du gehst mit meinem Bruder in eine Klasse, sagt er und fährt sich durch seinen Igelschnitt.

Sie nickt nur, atmet flach. Sie hört ihn weitersprechen, er scheint ihr eine Frage zu stellen, seine Nasenflügel blähen sich, sie sieht jede Sommersprosse auf seinem Gesicht. Schließlich begreift sie seine Frage. Wer ist das? hat er gesagt und auf ihren Bruder gezeigt.

Thusnelda Morgenröte, antwortet sie übermütig und ist einem Glücksgefühl so nah wie nie.

Komischer Name, sagt er.

Sie kann ihm nur zustimmen und nickt, als wolle sie Sieger im Wettnicken werden.

In der Hofpause am nächsten Tag springt sie beim Gummitwist unkonzentriert und lässt das Gummi schnipsen. Doch als sie Uwes Bruder entdeckt, springt sie hoch und höher und verliert ihn dabei nicht aus den Augen. Auch beim Schulappell starrt sie ihn an, doch er scheint sie nicht zu bemerken.

Abends im Bett denkt sie sich Sätze aus, die sie ihm sagen wird. Sie schleicht sich ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. Wenn sie ihrer Mutter glaubte, dann müsste sie der hässlichste Bastard unter der Sonne sein. Sie vergleicht sich mit anderen Mädchen, versucht sich vorzustellen, wie sie mit längeren Haaren aussähe, mit weniger abstehenden Ohren, doch das bringt nichts, sie hat einfach keine Ahnung, ob sie wirklich hässlich ist oder nicht.

Sie besitzt nur ein einziges Kleid, ein blaues Strickkleid, das vom vielen Tragen schon ganz ausgeleiert ist. Mit der Schere schneidet sie ein Loch in die Wolle und zieht an den Fäden, bis das Kleid sich unter ihren Händen auflöst. Sie hat vorausgesehen, was geschehen wird, und als die Mutter endlich von ihr ablässt, zwingt sie sich, unter Tränen zu lächeln. Denn als sie am Tag darauf in die Schule geht, trägt sie ein neues Kleid, und obwohl es ihr zu groß ist, betritt sie mit einem gewissen Stolz die Klasse.

Inzwischen hat sie den Namen von Uwes Bruder herausfinden können: Armin kommt von Arminius, das war ein Fürst und berühmter Krieger, sie hat es im Lexikon nachgeschlagen.

Eines Abends überrascht die Mutter Alex und sie mit einem Geschenk. In der Mitropa hat jemand eine Kasperpuppe vergessen. So ein Spielzeug haben sie noch nie gesehen, vielleicht kommt es sogar aus dem Westen. Der Kasperkopf sitzt an einem Holzstab in einer bunten, nach unten spitz zulaufenden Papptüte und kann heraus- und wieder hineingeschoben werden. Die halbe Nacht sitzt sie bei ihrem Bruder am Bett und versucht ihm das Spielzeug abzuschwatzen. Der Kasper kann nur einem gehören, sagt sie immer wieder, doch Alex beharrt auf seinem Vorschlag: Die Hälfte der Woche soll sie ihn haben, die andere Hälfte er. Drohungen helfen nicht, also gibt sie sich zum Schein zufrieden damit, aber nur unter der Bedingung, dass sie den Kasper zuerst bekommt.

Aufgeregt erwartet sie am nächsten Tag die Hofpause. Als sie Armin im Treppenhaus entdeckt, ruft sie ihn winkend zur Seite. Sie hält ihm den Kasper hin und sagt: Der ist für dich.

Er betrachtet die Kasperpuppe. Die ist lustig, sagt er und schiebt den Holzstab hoch und runter. Doch als er mit dem Geschenk einfach so verschwinden will, hält sie ihn am Arm fest. Können wir uns treffen? sagt sie und fürchtet, dass er sie auslachen wird.

Morgen Nachmittag vor dem Kino, ruft er, während er die Treppen hinunterspringt, und bring deine Thusnelda mit.

Wann beginnt ein Nachmittag? fragt sie sich. Sie steht seit zwölf Uhr mittags mit ihrem Bruder vor dem Kino. Die Hitze hat ihre Vorfreude gedämpft, sie starrt durch die schmutzblinde Scheibe, der Geruch von Fäulnis steigt ihr in die Nase. Sie erinnert sich an einen Film, den sie im Kino gesehen hat: Chingachgook, die große Schlange, mit Gojko Miti´c als Indianer, und wie sie am Ende des Films einen Hass auf alle Weißen hatte. Sie überlegt kurz, ob sie es Armin erzählen soll. Worüber werden sie überhaupt miteinander reden? Der Platz vor dem Kino ist schattenlos, Fliegen und Wespen schwirren um eine überquellende Mülltonne, Unkraut wuchert aus dem brüchigen Asphalt, die Straßenbahn bewegt sich wie im Traum. Alex bläst die Samen einer Pusteblume in alle Richtungen. Schweiß prickelt auf ihrer Haut. Noch immer ist Armin nicht aufgetaucht. Sie kaut an den Nägeln und spürt, wie die Hoffnung sie verlässt. Ihr Bruder hat Durst und will in den Schatten. Während sie wortlos vor dem Kino ausharren, ist ihr, als wäre sie von tausend Schichten heißem Staub überzogen. Doch als Armin in seinen ausgebeulten kurzen Hosen auf sie zukommt, stört sie die Hitze nicht mehr, und sie lächelt ihm entgegen.

Wahnsinnshitze, murmelt er und reicht ihr die Hand, auf seiner Stirn stehen Schweißperlen, die sie berühren könnte, so nah ist sie ihm. Alex sitzt auf einer niedrigen Mauer und fächelt sich mit der Hand Luft zu. Armin hebt einen kleinen Stein auf, wirft ihn ihrem Bruder vor die Füße und ruft: He, schöne Thusnelda.