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Plötzlich hört sie sich losplappern und kann nicht mehr aufhören. Sie erzählt Armin von Edmond Dantès, dem Grafen von Monte Christo, und sie übertreibt, als wäre der Graf ein guter alter Freund, der seine Geheimnisse mit ihr teilt. Armin reibt sich den Nacken, hört ihr zu, lacht sogar, das fetzt ein, sagt er, und sie fühlt sich, als würde sie ein paar Zentimeter vom Boden abheben.

Zuerst verfolgt Alex das Geschehen aus der Ferne, doch dann sieht sie aus den Augenwinkeln, wie er aufsteht und langsam näher kommt. Er stellt sich zwischen sie und Armin, zupft an ihrem Kleid und sagt: Ich habe Durst. Sie tut so, als wäre er Luft, doch Armin legt sogleich seine Hand auf Alex’ Schultern und sagt: Na, kleine Prinzessin.

Selbst als sie es schließlich begreift, sagt sie Armin nicht, dass die blond gelockte Prinzessin ihr Bruder und somit ein Junge ist. Sie sieht genau, wie es sein kann, wenn jemand einem anderen gefällt.

Kleine Thusnelda, kleine Prinzessin, sagt Armin immer wieder, streicht eine Locke aus Alex’ Stirn und kringelt sie um seinen Finger. Thusnelda, Thusnelda, lustiger Name, sagt er mit flirrender Stimme, als würde er gleich zu singen beginnen. Ihr Bruder schweigt verwundert, doch sie merkt, dass es ihm nicht unrecht ist. Er starrt Armin mit einem scheuen Lächeln an und hält ganz still, als dieser ihn zum Abschied umarmt. Ich will euch bald wiedersehen, sagt Armin, ohne den Blick von Alex zu lassen. Ihr Herz hämmert, obwohl sie nichts weiter als die Kupplerin ihres Bruders ist. Doch dann spürt sie ihren Durst und die Müdigkeit in den Gliedern, sie fühlt sich schwach, die Luft riecht anders als sonst.

Alex aber möchte noch nicht nach Hause, er scheint hellwach, seine Augen leuchten. Er will noch ein Abenteuer erleben. Er bettelt, geht ihr auf die Nerven, und als sie endlich ihrem Lieblingsspiel zustimmt, ist sie erst nur halb bei der Sache. Doch schon bald lässt sie sich mitreißen, zwischen Auspuffgasen, Hupen und quietschenden Bremsen rast sie knapp vor den Autos über die Straße. Sie hört Alex übermütig kreischen, auch er bringt die Autofahrer in Rage, sie sind ein gutes Team, der eine läuft von der linken, der andere von der rechten Straßenseite los, manchmal berühren sich ihre Hände in der Mitte. Doch dann quietschen Bremsen, und sie hört ein Heulen, das ihr vertraut und gleichzeitig fremd erscheint. Alex liegt vor einem gelben Trabant, und von überall kommen Menschen angelaufen. Der Fahrer steigt aus und schreit, dass ihm der Junge direkt ins Auto gerannt sei. Sie steht vor ihrem Bruder, ihre Füße sind wie festgewachsen, sie kann sich nicht rühren. Er liegt mit dem Gesicht nach unten, den Körper verdreht, einen Arm ausgestreckt und wimmert, sie sieht Blut in seinem Engelshaar.

7

Es sind Sommerferien. Alex sitzt mit seinem Schnorchel in der Ecke und atmet laut. Nach dem Unfall war er für kurze Zeit im Krankenhaus. Wegen seines gebrochenen Schlüsselbeins hat er einen Verband, der ihn verwachsen aussehen lässt. Sie betrachtet eine Fliege, die über ihren Arm spaziert. Sei still, sagt sie zu ihrem Bruder, psst. Sie hat das Gefühl, mit Alex stimmt überhaupt nichts mehr. Die Fliege schwirrt durchs Zimmer, macht einen kurzen Halt an der Fensterscheibe und landet abermals auf ihrem Arm. Ob Insekten sich dressieren lassen? Wenn sie sich langweilt, fallen ihr oft solche Fragen ein. Frieren Bäume im Winter? Können Ameisen traurig sein? Die Mückenstiche an ihren Beinen jucken, sie kratzt sich einen nach dem anderen blutig. Hör auf, faucht sie ihren Bruder an, sei endlich still. Am liebsten würde sie seinen Schnorchel aus dem Fenster werfen, doch dann würde er nur blöd herumheulen. Sie öffnet die Tür, auf dem Flur ist alles ruhig. Die Mutter liegt noch im Bett, seit einigen Tagen führt sie sich wie eine Rasende auf, trommelt mit den Fäusten auf ihren dicken Bauch, schreit, dass sie diesen Bastard nicht haben will. Sie schlägt ihre Kinder, wenn ihr danach ist, gibt sich keine Mühe mehr, einen Grund zu erfinden, ihre Schwerfälligkeit macht sie noch zorniger. Der Vater kommt selten nach Hause, auch sein Gesichtsausdruck ist finster, er lacht nur, wenn er richtig betrunken ist, und sein Jähzorn hält stets Überraschungen bereit. Bei ihrem letzten gemeinsamen Abendessen hat er, eine Zigarette im Mundwinkel, aus heiterem Himmel eine ganze Leberwurst an die Wand geworfen.

Sie steht abwartend vor dem Bett der Mutter und horcht, um an den Atemzügen zu erkennen, ob sie aufbrausend oder ruhig reagieren wird, wenn sie sie anspricht. Leise fragt sie, ob sie runter dürfen. Sie wiederholt die Frage, diesmal lauter. Die Mutter rührt sich nicht. Sie probiert es noch lauter. Dürfen wir raus? ruft sie. Als die Mutter kurz die Augen aufschlägt, murmelt sie nur: Verschwinde, lass mich in Ruhe. Das sagt sie fast immer, doch diesmal beschließt ihre Tochter, dass in diesen Worten eine gewisse Freiheit liegt.

Hinter dem Schwimmbad klettert sie mit Alex durch ein Loch im Zaun. Seit die Mutter nicht mehr arbeitet, kann sie ihr auch kein Geld mehr aus der Kellnertasche stehlen. Sie zieht sich um, rennt zum Becken und springt vom Dreimeterbrett. Ihr Bruder bleibt missmutig am Rand der Wiese unter einem Baum zurück, wegen seines Verbands darf er nicht ins Wasser. Ab und an sieht sie von Weitem nach ihm, darauf bedacht, dass er sie nicht bemerkt. Den Schnorchel im Mund, starrt er abwesend in die Luft. Sie springt immer wieder vom Dreimeterbrett, springt so lange, bis es in ihren Ohren klingelt. Als sie taucht, versucht sie eine Weile auf dem gefliesten Grund zu bleiben und sich flach mit dem Rücken an die Kacheln zu schmiegen. Sie beobachtet die Körper, die im Wasser über sie hinwegschwimmen, und stellt sich vor, sie würde oben schwimmen und sich unten liegen sehen.

Am Nachmittag steht sie mit blauen Lippen vor ihrem Bruder, hüpft auf und ab. Alex hat immer noch seinen Schnorchel im Mund, reagiert nicht auf ihre Fragen. Vielleicht ist er krank, ernsthaft krank. Sein linkes Augenlid zuckt, er reibt ständig die Finger aneinander, und er hat sich angewöhnt, ruckartig seinen Mund aufzureißen, bevor er spricht, als ob er die ganze Welt verschlucken wollte. Sie spürt Mitleid, wenn er seine Ticks abzieht, neuerdings schlägt er auch noch mit den Füßen aus, einem Esel ähnlich oder, wie ihre Mutter meint, einem kranken Stück Scheiße.

Er hat Angst, nach Hause zu gehen. Doch diesmal konzentriert sich der Zorn der Mutter ganz auf die Tochter. Nachdem sie ihre Abreibung erhalten hat, muss Alex sie in den Keller bringen. Sie atmet auf, als er hinter ihr abschließt, nimmt den vertrauten Geruch nach Kohlenstaub und feuchten Mauern wahr. Hier muss sie niemandem zuliebe etwas tun, was sie nicht will.

Ein Lichtstrahl fällt durch den Spalt der Fensterluke, sie steigt auf den Kohlehaufen, um nach draußen zu sehen. Der Spalt zeigt immer denselben Ausschnitt, den Bürgersteig, vom Wurzelgeflecht einer mächtigen Platane durchzogen, manchmal Schuhe mit halben Beinen, bis ans Knie. Sie geht durch den Raum, liest die von ihr in die Mauern geritzten Inschriften, kann sich schon nicht mehr entsinnen, was sie bedeuten, 7x34 zum Beispiel, eine Geheimzahl? Unter den Regalen mit dem Eingemachten steht ein alter Lederkoffer ihres Vaters, den Inhalt kennt sie beinahe auswendig: beschriebene Blätter, alte Magazine und Zeichnungen. Auf den Zeichnungen sind nackte Frauen in verschiedenen Posen zu sehen, durchaus gekonnt dargestellt, findet sie, aber mehr noch interessieren sie die Kriminalgeschichten, die ihr Vater mit grüner Tinte aufgeschrieben hat. Ein Inspektor Bachulke deckt im Alleingang einen Bankraub auf, und an den markigen Sprüchen erkennt sie ihren Vater wieder. Es rührt sie, dass er davon träumt, ein Held zu sein, doch sie ahnt auch, dass er niemals ein richtiges Buch schreiben wird. Sie kann die Gründe dafür nicht genau benennen, aber sie ist sich sicher, er wird niemals etwas zu Ende bringen. Neben dem Koffer befindet sich ein großer Bücherstapel, ihr liebster Schatz in diesem Keller. Es sind alte Bände von Brehms Tierleben, mit bunten, wunderschönen Abbildungen von Insekten, Säugetieren, Fischen, Vögeln und Kriechtieren. Sie nimmt den Band über die Vielfüßler, Insekten und Spinnenkerfe, hockt sich vor den Lichtstrahl und blättert vorsichtig die Seiten um. Sie bestaunt die Baukunst der Termiten, steile, hügelförmige Erdbauten, die drei Meter Höhe erreichen können; widerwillig und doch fasziniert betrachtet sie die schwarz glänzenden Aaskäfer bei der Arbeit, begleitet die Skorpionsfliege auf ihrem ersten Flug. Wenn sie die Augen zusammenkneift und lange genug ein Bild anschaut, dann lösen sich die Tiere aus den Buchseiten. Eine Feldgrille springt unter ihrem Fuß hervor, ein Wasserspringschwänzchen trifft den lichtscheuen Japyx, mit lautem Gesumme erhebt sich der mächtige Goliathkäfer in die Luft, seine Flügel leuchten goldgrün, er gilt bei Sammlern als große Seltenheit. Seidenspinner bedecken die Kellerwand, eine Eintagsfliege sucht nach Wasser, während mehrere Kornmotten nach Getreide ausschwärmen. Die Familie der Spinnentiere überblättert sie vorsichtshalber, sie fürchtet sich nicht vor Mäusen, Ratten oder Schlangen, doch schon der Gedanke an eine Spinne erfüllt sie mit Ekel.