Im vergangenen Winter verharrte eine Ratte Ewigkeiten vor ihren Füßen, und sie konnte in Ruhe überprüfen, was sie vorher gelesen hatte. Das Fell der Ratte ist am ganzen Körper dunkel, fast schwarz gefärbt, das Tier erreicht eine Gesamtlänge von fünfunddreißig Zentimetern, der Schwanz zählt bis zu zweihundertsiebzig Schuppenringe — das allerdings konnte sie nicht erkennen, denn als sie laut zu zählen begann, huschte die Ratte davon.
Das Licht im Keller wird blasser. Sie sieht kaum noch die Blumen auf ihrer blauen Dederonschürze. Regentropfen treffen auf die spaltbreit geöffnete Luke. Der Geruch des Regens nach einem heißen Sommertag löst in ihr ein Gefühl von Freude und Traurigkeit zugleich aus. Sie stellt sich vor, wie es wäre, tot zu sein. Es ist ihr wichtig, dass jemand um sie trauert. Außer ihrer Freundin Elvira und ihrem Bruder fällt ihr niemand ein, der um sie trauern würde. Es gelingt ihr nicht, sich vorzustellen, dass sie sich einfach auflösen wird, denn sie ist überzeugt davon, dass alles, was auf dieser Welt geschieht, etwas mit ihr zu tun hat; die Luft, die sie atmet und die sie umgibt, ist nur da, weil es sie gibt, würde sie nicht atmen, gäbe es auch keine Luft. Früher hat sie jeden Abend vor dem Einschlafen gebetet, inzwischen aber ist ihr der Glaube an Gott genauso fern wie der Tod.
Der Regen hat sich auf ein Nieseln eingependelt, es muss früh morgens sein, denn die Milch wird ausgeliefert. Sie hört die scheppernden Geräusche und die Stimmen der Männer, sie rollt sich auf dem Schlitten zusammen und denkt an ihr Lieblingsmärchen, in dem das kluge Gretel zwei gebratene Hühner verspeist.
Der Tag ist längst angebrochen, als Alex die Tür aufschließt. Sie hat gute Laune, sagt er und reibt sich mit der Hand über den Mund.
Die Mutter sitzt rauchend am Küchentisch, das ungewaschene Haar hängt ihr in die Stirn. Obwohl sie mürrisch aussieht, scheint sie guter Dinge zu sein. Ihre Tochter darf sich Brote schmieren und Verdünnungssaft trinken, doch sie weiß, dieser Zustand ist zerbrechlich wie Glas, also bleibt sie auf der Hut. Ihr Bruder aber ist eifrig bemüht, der Mutter zu gefallen, er versucht sie linkisch zu umarmen, trinkt aus ihrem Weinglas, schüttelt sich prustend und schneidet Grimassen. Sie spürt genau, wie es der Mutter langsam zu viel wird. Sie möchte Alex warnen, doch sie ist gebannt von seinem blinden, zitternden Eifer, sie fragt sich, wie dieser Anfall von guter Laune bei ihrer Mutter enden wird, denn schon sacken deren Mundwinkel herunter. Doch dann huscht ein Lächeln über das Gesicht der Mutter.
Wir spielen ein Spiel, sagt die Mutter, und Alex bricht sofort in übertriebene Heiterkeit aus, klatscht in die Hände. Er soll eine Peperoni essen und dafür fünfzig Pfennig bekommen. Sie hat noch nie eine so kleine, rot glänzende Schote gesehen. Vor der Mutter liegt eine ganze Tüte, die sie wahrscheinlich aus der Mitropa mitgebracht hat.
Fünfzig Pfennig, wiederholt die Mutter, und etwas in der Stimme macht sie stutzig, doch da hat ihr Bruder schon in die Schote gebissen, er kaut, schluckt, beginnt zu schreien und rennt zum Wasserhahn, hüpft durch die Küche, hochrot im Gesicht, wedelt wild mit den Händen, als wolle er einen Schwarm Wespen verscheuchen, streckt ungläubig die Zunge heraus und japst nach Luft. Die Mutter brüllt vor Lachen, und sie stimmt ein, obwohl sie ahnt, dass sie die Nächste sein wird. Nach einer Weile verstummt ihr Bruder, bricht in Tränen aus und verbirgt das Gesicht hinter den vorgehaltenen Händen.
Sie meint zu wissen, was sie erwartet, als sie in die Schote beißt, doch auf diesen Schmerz ist sie nicht vorbereitet. Sie führt den gleichen Tanz wie ihr Bruder auf, und noch lange danach fühlt sich ihre Kehle wund an.
Sie hat das Gefühl, die Stunden wären einzementiert, die Zeiger der Küchenuhr bewegen sich kaum vom Fleck. Die Mutter trinkt, raucht verdrossen eine Zigarette nach der anderen, gibt scharfe Seufzer von sich, ihre Brauen liegen wie zwei schattige Balken über ihrem Gesicht. Meine Augen tun weh, sagt sie mit träger Stimme.
Die Tochter spürt den Blick der Mutter, der durch sie hindurchgleitet, als wäre sie keine Person, sondern ein weit entfernter Ort. Alex steht bewegungslos da, stumm wie ein Fisch, eine Schollenlarve, denkt sie, die noch unfertig in aufrechter Haltung schwimmt, und die Mutter ist ein Zitterwels, der, wenn man ihn berührt, elektrische Schläge austeilt. Sie befürchtet, dass die Stimmung kippt, deshalb schlägt sie ein anderes Spiel vor. Sie erklärt es der Mutter leise, dann schreiben sie gemeinsam einen Einkaufszettel für Alex, auf dem die irrwitzigsten Dinge stehen. Wenn er im Konsum den Zettel vorzeigt, wird die Verkäuferin auf der Wunschliste Sachen lesen, die es nie oder sehr selten zu kaufen gibt: Aal, Ölsardinen, Erdbeeren, Pfirsiche, Gurken, Tomaten.
Inzwischen klingt die Stimme der Mutter verschwommen. Ihre Tochter wartet darauf, dass sie zu lallen beginnt, dann bringt sie die betrunkene Frau ins Bett.
Am nächsten Tag geht die Mutter früh durch die Wohnung, reißt alle Fenster auf und hat eine Menge Aufgaben für die Geschwister parat: Küchenschränke ausräumen, wieder einräumen, den Boden kehren, wischen, die Treppen bohnern. Überall sieht sie Staub, sie selbst sitzt rauchend in der Küche und dirigiert ihre Kinder mit zackigen Sprüchen. Ihre Tochter kennt die Ausweglosigkeit eines solchen Tages, sie wird unweigerlich etwas falsch machen und dafür bestraft werden. Während Alex ängstlich und beflissen versucht, seine Aufgaben zu erfüllen, fordert sie die Mutter heraus. Sie verlangsamt ihre Bewegungen, wischt im Zeitlupentempo über die Schränke, dreht ihren Kopf zum Fenster, starrt scheinbar gleichmütig in die Krone der Kastanie draußen auf dem Hof; und während die Mutter auf sie einschlägt, muss sie an den mächtigen Goliathkäfer denken, sie stellt sich vor, sie hätte seine Flügel und könnte weit weg fliegen. Doch ihr Ziel hat sie erst erreicht, als die Mutter endlich brüllt: Verschwinde aus meiner Wohnung und lass dich nie wieder blicken.
8
Draußen brennt die Sonne gleißend hell. Sie trägt immer noch die blau geblümte Dederonschürze. Sie überlegt, was sie tun könnte. Ihr Büchereiausweis ist in der Wohnung, auch das Schwimmbad kommt ohne Badeanzug nicht in Frage, bei den Ferienspielen ist sie nicht angemeldet. Sie schlendert ziellos durch die Straßen, und als sie den Durst nicht mehr aushält, geht sie in den Konsum, steckt sich blitzschnell die Schürzentaschen voll mit Süßigkeiten, schnappt sich eine Flasche grüner Waldmeisterlimonade und verlässt rasch den Laden. Die Verkäuferin folgt ihr auf die Straße und ruft ihr laut hinterher — doch da rennt sie schon. Sie ist beim Langstreckenlauf die Schnellste in der Klasse, wenn die anderen nicht mehr können und nach Luft schnappen, fängt sie gerade erst richtig an. Ihre Beine bewegen sich wie von selbst, sie läuft über die Eisenbahnbrücke, einen schmalen Lehmweg entlang, der durch verkümmertes Gehölz in eine Kleingartenanlage führt. Dort bleibt sie stehen und schaut sich um. Sie kann nirgendwo einen Menschen entdecken, öffnet den Riegel einer kleinen hölzernen Tür und betritt einen Garten. Sie pflückt einen noch grünen Augustapfel und verspeist ihn samt dem Kerngehäuse. Auf einem anderen Grundstück plündert sie die Stachelbeerbüsche und entdeckt sogar ein Gewächshaus, in dem es allerdings nichts Essbares gibt. Sie findet ein Fahrrad, ein schweres Herrenrad, und als sie versucht, darauf zu fahren, erreicht sie kaum die Pedale. Sie wirft das Fahrrad in einen Graben, schlendert die Wege der Anlage entlang und bleibt an einer alten Wasserpumpe stehen. Sie betätigt den Hebel und trinkt, lässt sich den kalten Wasserstrahl übers Gesicht laufen. Als sie eine Gartentür öffnen will, taucht wie aus dem Nichts ein Hund auf, ein riesiges, dunkles Tier, das mit einem Satz an den Zaun springt. Die Augen des Hundes sind mit einem weißlichen Film überzogen, haben keine Pupillen, sein Knurren kommt tief aus der Kehle. Sie lässt sich von ihm beschnuppern und atmet gleichzeitig seinen Duft ein, nach Tier, Sommer, Unrat. Sie fürchtet sich nicht vor ihm, doch lässt sie ihn nicht aus den Augen, als sie über den Zaun klettert. Der Garten ist groß und verwahrlost, im hinteren Teil befindet sich eine Laube, vor der Hundehütte steht ein von Fliegen umschwirrter Plastiknapf, daneben eine halb volle Wasserschüssel. Sie schleicht durchs Gestrüpp, streift einen Brennnesselbusch und schreit kurz auf. Sie verharrt regungslos, doch alles bleibt still. Der Geruch nach verbranntem Holz liegt in der Luft, die Abendsonne wärmt ihren Nacken. Lautlos ist ihr der Hund gefolgt, sein langer buschiger Schwanz wedelt hin und her, klopft auf den Boden. Sie schließt die Augen, und es kommt ihr so vor, als würde alles ineinanderfließen, die im Licht flirrenden Staubteilchen, das Gesumm der Bienen, der Garten, der gar nicht wie ein Garten aussieht, sondern wie ein funkelnder Teppich, der sich gleich in die Luft erheben wird. Das Fenster der Laube ist verschlossen, doch die Tür lässt sich leicht öffnen. Ein Streifen Sonnenlicht fällt in den Raum, der Rest bleibt dunkel. Sie kann ein zerschlissenes Sofa erkennen, einen Tisch, zwei klapprige Stühle sind aneinandergelehnt, als wollten sie sich stützen. Sie spürt ihren hungrigen Magen und einen leicht schmerzenden Zahn. Als sie die Süßigkeiten aus ihrer Schürzentasche isst, bemüht sie sich, auf der schmerzfreien Seite zu kauen.