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Sie sprechen darüber, wie sich die Schüler im Falle eines Atomkrieges verhalten sollen; die Angaben des Lehrers kommen ihr unklar vor: Sie sollen sich auf der Straße neben die Bordsteinkante legen, die Augen geschlossen halten und sich so lange in den Straßenstaub pressen, bis alles vorbei ist. Wie kommen sie so schnell auf die Straße? Oder wird der Abwurf der Atombombe etwa vorher angekündigt? Der Lehrer zuckt über ihre Fragen die Achseln und räumt ein, dass sie sich zur Not auch unter ihre Schultische legen könnten.

Obwohl sie sich anstrengen wollte, vergisst sie schon bald die Hausaufgaben, stört den Unterricht, erhält den ersten Tadel. Wenn sie morgens zu spät kommt, bleibt sie vor ihrem Klassenzimmer stehen, die Stimme des Lehrers dringt durch die Tür, und sie traut sich nicht hineinzugehen, sie wartet bis zur Pause oder schwänzt die Schule, streift den Rest des Tages durch die Stadt.

Es gibt eine blinde, alte Frau, der sie manchmal über die Straße hilft. Die Frau erkennt sie an ihrer Stimme, ach, du bist es, sagt sie und nimmt vertrauensvoll ihren Arm. Einmal wünscht sich die blinde Frau, dass sie ihr erzählt, was sie sieht. Sie schaut sich um und erblickt nichts, was ihr erzählenswert erscheint. Es ist nicht viel los, sagt sie, die Leute stehen Schlange vor dem Gemüseladen, drei russische Soldaten laufen hintereinander am Bäcker vorbei, vor dem Milchmann putzt ein Junge sein Fahrrad. Wo sind die Tauben? sagt die blinde Frau, und sie führt die Alte in den Clara-Zetkin-Park. Sie setzen sich auf eine Bank. Sie betrachtet die Blinde und spürt Lust, ihr Blödsinn zu erzählen, dass der Himmel grün ist, Kürbisse an den Bäumen wachsen und Hunde vorbeifliegen. Doch sie ist sich nicht sicher, ob die alte Frau seit ihrer Geburt blind ist, und so beschränkt sie sich darauf, das, was sie sieht, auszuschmücken. Die Tauben haben rot lackierte Füße, sagt sie, und sie scheinen zu lachen, und tatsächlich, je länger sie die Tauben anstarrt, desto mehr meint sie, ein Lächeln in ihren Vogelgesichtern zu sehen.

Vielleicht sind es Lachtauben, sagt die blinde Frau verwundert, doch die leben in Afrika, nicht bei uns. Sie bewohnen wüstenartige Steppengebiete, das ist doch hier nicht der Fall, oder hat sich so viel verändert?

Sie versichert der Blinden, dass die Stadt immer noch eine Stadt ist, sie beschreibt ihr die Straßen und Häuser, bis sie bemerkt, dass die Frau neben ihr lacht: Aber Kindchen, das weiß ich doch.

Ich muss nach Hause, sagt sie, Abendessen, und außerdem übertragen Tauben Krankheiten. Die Blinde wendet sich ihr zu, und einen bestürzenden Augenblick lang fragt sie sich, ob die alte Frau nicht doch sehen kann. Sie verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, dennoch starrt die Frau unbewegt durch sie hindurch, und ehe sie sich wegdrehen kann, streicht die Blinde ihr übers Haar.

Ich muss jetzt wirklich gehen, sagt sie und bemüht sich, entschlossen zu klingen. Was gibt es denn bei euch zum Abendessen? sagt die alte Frau, und sie erfindet die außergewöhnlichsten Gerichte, und dazu gleich noch eine besorgte, liebende Mutter. Das ist schön für dich, Kindchen, sagt die Blinde, und während des Rückwegs lügt sie weiter das Blaue vom Himmel herab, sie kann gar nicht mehr aufhören. Atemlos berichtet sie von ihren guten Zensuren, ihrer Beliebtheit in der Schule, von den anstrengenden Patenschaften, die sie übernommen hat, und solange sie spricht, glaubt sie selbst daran. Sie weiß zwar, dass sie lügt, und doch gibt es einen Raum für Wahrheit in ihren Lügen. Träume und Wünsche sind nicht unwahr, nur weil sie Träume und Wünsche sind, ohne ihre Träume würde sie niemals das Haus im Wald bewohnen, und sie wüsste wahrhaftig keinen Grund, warum das Leben sonst einen Sinn haben sollte. Sie versucht der Blinden am Gesicht abzulesen, ob sie ihr glaubt, doch sie kann nichts erkennen. Die alte Frau hat kurzes, fettiges Haar, das oben auf dem Kopf absteht wie eine zerdrückte Krone, es könnte auch eine Zauberin sein oder eine Hexe, und vorsichtshalber spricht sie leiser. Beim Abschied nimmt die Blinde ihre Hand, sagt, es wird alles gut, Kindchen, und verschwindet wie eine ihrer zerrupften Tauben im Hauseingang.

Zu Hause erwartet sie eine Abreibung, eine, die sich gewaschen hat, denn ihre Mutter ist vor schlechter Laune außer sich. Sie erzählt ihr von der blinden Frau. Das interessiert mich einen Scheißdreck, schreit die Mutter, du mit deinen Lügen, und dann verteilt sie ihre Schläge wütend und unkontrolliert.

Es macht keinen Unterschied, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt, denn die Mutter ist sowieso entschlossen, die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln. Doch sie beharrt auf ihrer Unschuld, kann sich nicht vorstellen, etwas angestellt zu haben, was solchen Zorn hervorruft, steigert sich in ihre Ausreden hinein, bis sie selbst nicht mehr weiß, was richtig oder falsch ist. Die Mutter sagt, ihre Augen seien überall, alles würde sie bemerken, sogar wenn eine Fliege sich die Füße leckt, doch ihre Tochter hat längst eine Technik entwickelt, sich ihren prüfenden Blicken zu entziehen. Sie verschwindet in der Raserei der Mutter wie in einem Strudel, lässt sich nach unten auf den Grund sinken und ist einfach nicht mehr da, auch wenn es für die Mutter anders aussehen mag.

10

Ihr Vater sieht die Mutter an, als würde sie eine fremde Sprache sprechen. Sie werden es noch einmal miteinander versuchen, ein letztes Mal, wie schon so oft. Er hat seit zwei Tagen nichts getrunken, und seine Tochter merkt, wie schwer ihm das fällt. Er hat Mühe, sich eine Zigarette anzuzünden, so sehr zittern seine Hände. Die Worte scheinen sich ihm zu widersetzen, niemand versteht, was er sagen will, und ihre Mutter benimmt sich, als verschaffe seine Schwäche ihr einen Vorteil. Das ist ein Trick, höhnt sie, will an seinen Gesinnungswandel nicht glauben, nach ihren Worten bleibt ein Säufer immer ein Säufer. Die frühe Herbstsonne fällt hell durch das Fenster und zeigt erbarmungslos das hagere Gesicht ihres Vaters. Seine Augen glänzen wie im Fieber, er gleicht einem ruhelosen, in der Falle sitzenden Wolfsschakal.

Am Abend knallt die Tür ins Schloss. Er ist verschwunden und mit ihm auch die Perlenkette der Mutter. Doch das bemerkt die Mutter erst später und verflucht Gott, der sich doch vorher gnädig gezeigt und das Drecksvieh verjagt hatte. Gott muss für einiges herhalten, die Mutter fleht ihn an, erbittet Schutz vor all den Plagen, die sie heimsuchen, verlangt, dass Gott ihren Mann bestraft, den Drecksparasiten, der sich auf ihre Kosten ein fettes Leben macht. Die größte Strafe aber, die Gott ihr gesandt hat, sind ihre Kinder. Womit hab ich das verdient, o Gott, schreit sie nach Luft ringend. Ihre Tochter hat das Gefühl, gäbe es wirklich einen Gott, würde sie ihn mit diesem keifenden Geschrei in die Flucht treiben.

Am nächsten Morgen läuft ihr Vater wieder laut krakeelend durch die Wohnung; mit dem entrückten Blick eines Betrunkenen bleibt er vor seiner Tochter stehen, sein Zeigefinger kreist wild durch die Luft, und immer wieder sagt er: Ich als Mensch bitte um Ruhe. Irgendwann fällt er aufs Sofa und schläft sofort schnarchend ein.

Als sie aus der Schule kommt, sitzen die Mutter und der Vater fröhlich vor dem Fernseher. Sie muss in die Kneipe laufen, hin und her, und so viele Bierflaschen schleppen, wie sie tragen kann. Doch gegen Mitternacht spürt sie den aufsteigenden Groll im Zimmer. Die Stimmen ihrer Eltern werden mit jedem Wort gereizter, der Atem der Mutter klingt wild, du Versager, schreit sie, Bankrotteur, mieser, dreckiger Wurm, und ihre Tochter kneift schnell das linke Auge zusammen, dann das rechte, und schon liegt die Mutter auf dem Boden, der Vater kniet über ihr und würgt sie, würgt die Mutter so sehr, bis ihre Augen hervortreten. Sie selbst kann sich nicht von der Stelle bewegen, betrachtet alles ganz genau; auch als die Mutter wieder Luft bekommt und um Hilfe ruft, kann sie sich nicht rühren, in ihr ist alles ganz still. Sie hat diese Prügeleien schon oft erlebt, und immer wartet sie, bis nur noch die zerrissenen Schluchzer der Mutter erklingen, die laut ins Schloss fallende Tür, die Schritte des Vaters auf der Treppe. Das Zimmer ist dann voller Schatten, sie sitzt neben der verprügelten Mutter, streichelt sie und hat Schuldgefühle, weil sie kein Mitleid mit ihr empfindet. Sie möchte nicht herzlos sein, doch während sie tröstende Worte murmelt, empfindet sie nichts, nicht einmal Angst.