»Ich möchte mich bei dir bedanken für alles, was du getan hast. Gilon sagt, du warst… unentbehrlich«, sagte Rosamund mit einem Blick auf das rabenhaarige, kleine Mädchen, der sowohl Liebe als auch Unsicherheit ausdrückte.
Kitiara sah auf den Boden, denn ihre eigenen Gefühle, die zugleich dankbar und trotzig waren, verwirrten sie.
Rosamund stand auf und schlang ihre dünnen Arme ungeschickt um ihre Tochter. Kit blieb starr stehen, lief aber im gleichen Moment zur Tür, als sie merkte, daß ihre Mutter sie losließ.
Rosamund sank erschöpft auf ihren Stuhl zurück, während Gilon sprungbereit daneben stand, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Rosamunds Augen füllten sich mit Tränen, während sie ihrer Tochter nachsah, die in die Sommernacht zurückrannte.
»Dein Vater wäre stolz auf dich«, flüsterte Rosamund Kits verschwindender Gestalt nach.
3
Fest des Roten Mondes
Dank Gilon hatten sie immer genug langbrennende Eichenscheite, die sie nachts aufs Feuer legen konnten. Aber gewöhnlich waren die Flammen irgendwann mitten in der Nacht heruntergebrannt, und besonders in den schlimmsten, eisigsten Nächten wollte keiner aufstehen und über den kalten Boden tappen, um das Feuer wieder anzufachen.
Kitiara schlief lieber in ihrem eigenen Kämmerchen, auch wenn das von der Wärme weiter entfernt war. Eine Etage höher und vom Rest der Hütte durch einen dünnen Mousselinvorhang abgetrennt, war der Speicher für sie ihr privates Reich. Der Preis für dieses eigene Reich konnte ziemlich hoch sein. In den langen Wintern wachte sie morgens meist zitternd zu einer Kugel zusammengerollt auf.
Es gab ein Gnomensprichwort über die grundsätzlich harten Winter von Solace: »Drei Schichten reichen nicht, und immer guckt die Nase raus.« Die Winter schienen unendlich lang, aber wenn es wirklich keiner mehr ertragen konnte, brach praktisch über Nacht der Frühling an und überraschte selbst die aufmerksamsten Bewohner von Solace.
An diesem speziellen Morgen schlief die zwölfjährige Kitiara noch. Sie hatte sich nicht zusammengerollt – ein gutes Zeichen für das anrückende Wetter. Statt dessen war sie sogar lang auf ihrem Strohlager ausgestreckt. Die Füße hingen über das Ende hinaus, ein Zeichen, daß sie langsam aus ihrer Nische herauswuchs. Im Schlaf war ihr Gesicht kindlich, fast sanft, und ganz anders als der kühle, angelernte Ausdruck, den sie – wenn auch nicht immer überzeugend – grundsätzlich als Teil ihres Panzers gegen die Welt aufsetzte.
Alle Weichheit war schlagartig verschwunden, als sie unerwartet grob in die Seite gepiekst wurde.
Aus Kits Mund kam ein ziemlich phantasievolles Gemurmel, und ohne die Augen aufzuschlagen, drehte sie sich zur Wand und zog die Steppdecke fest um sich. Nach einer Pause ging das Pieksen wieder los, diesmal ins Kreuz.
»Geh weg, Caramon«, murmelte sie verdrossen.
Pieks, pieks.
Langsam drehte sie sich zu dem zudringlichen Quälgeist um, immer noch halb im Schlaf und mit trüben Augen.
»Oh.« Ihre Augen flogen etwas überrascht auf, als sie erkannte, daß die kleine Gestalt nicht Caramon, sondern Raistlin war. Dünn und blaß stand der Kleine, dessen ovales Gesicht von hellbraunen Haarsträhnen umrahmt war, an ihrem Bettrand. Er lächelte geheimnisvoll. Lächeln war selten bei Raistlin, diesem ausgesprochen in sich gekehrten kleinen Jungen.
»Ich bin früh aufgewacht…«, fing er schrill an.
»Aha.« Inzwischen sperrte Kitiara leider beide Augen auf und wußte, daß es aus war mit dem Schlafen. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete ihren ungewöhnlichen kleinen Bruder, den sie wirklich liebte, obwohl sie ihn mitunter am liebsten erwürgen würde – eigentlich sogar an den meisten Tagen, besonders jetzt.
Ein Blick nach unten verriet ihr, daß der unternehmungslustigere Bruder, Caramon, noch fest schlief. Er lag auf dem Rücken, seine Zehen zeigten in die Luft, und er schnarchte leise. Die kleinen Betten der Zwillinge standen nebeneinander, aber Caramon lag meistens quer über beide Betten ausgestreckt. Kit wußte, daß Caramon am Vorabend lange aufgeblieben war, weil er unter Gilons Anleitung Schnitzen geübt hatte. Mit dieser neuerworbenen Kunst wollte er sich seinen ersten Holzdolch machen.
Raistlin war wie gewöhnlich kurz nach dem Abendbrot ins Bett gegangen, und Kitiara mußte vor dem knisternden Feuer eingeschlafen sein. Der gute, verläßliche Gilon hatte sie wahrscheinlich die Leiter hoch und in ihr Bett getragen.
Kitiara seufzte. Wie spät war es überhaupt? Pieks, pieks.
»Hörst du jetzt auf damit, Raist?«
Er hatte immer noch dieses komische Lächeln auf dem Gesicht. Was machte ihn heute so fröhlich?
»Ich sagte gerade«, meinte er unnötigerweise, nachdem er sich ihrer Aufmerksamkeit wieder sicher war, »daß ein Vogel mit mir geredet hat… «
Kitiara zog mißtrauisch eine Augenbraue hoch. Die Geschichte kam ihr unwahrscheinlich vor – aber bei Raistlin konnte man nie wissen. Das Kind hatte etwas Eigenartiges an sich, etwas Besonderes. Da er nicht viel mit anderen Kindern redete, sprach er vielleicht wirklich mit Vögeln. Aber ob die ihm antworteten? Und was für Vögel gab es überhaupt zu dieser Jahreszeit in Solace?
»Was für ein Vogel?« fragte sie ungeduldig.
»Brauner Vogel«, erwiderte Raistlin achselzuckend, als wäre das völlig nebensächlich. »Weiße Flügelspitzen«, meinte er nach kurzer Pause. »Ist bloß durchgezogen, irgendwo anders hin.«
»Schön. Und was hat der braune Vogel gesagt?« drängte Kitiara, die sich allmählich aufrichtete.
»Hat gesagt, es wird ein ganz besonderer Tag.«
»Ach«, machte sie wenig beeindruckt. »Ganz besonders gut oder ganz besonders schlecht?«
»Hmm«, meinte Raistlin nachdenklich. »Wahrscheinlich gut. Er hörte sich glücklich an.« Seine ältere Schwester fing an, sich die Stiefel anzuziehen. »Allerdings, bei braunen Vögeln«, setzte er dozierend an, »da weiß man nie so recht. Die finden jeden Tag besonders. Sind leicht zu beeinflussen.«
»Optimisten«, sagte Kit trocken.
»Mhm«, stimmte Raistlin zu.
Sie musterte ihn kurz und kritisch. Sein Gesichtsausdruck war eindeutig raffiniert, fast engelhaft. Nun, Raistlin war der phantasievollere Zwilling.
Gähnend griff sie nach ihrer Tunika und zog sie über den Kopf. Caramon – das war der Berechenbare. Wenn der einen braunen Vogel sah, würde er nicht versuchen, mit ihm zu reden. Er würde versuchen, ihn mit einem Netz zu fangen oder mit einem Stein zu treffen. Wenn es irgendwo laut und wild zuging, wußte man, wo Caramon war.
Sie war todmüde, nachdem sie fast fünf Jahre lang hinter den Zwillingen hergerannt war, sich um sie gekümmert und gesorgt und so gut wie möglich erzogen hatte – sie war praktisch ihre Mutter gewesen. Jetzt kam es Kitiara so vor, als brauchte sie einen ganzen Monat Schlaf. Ihr Körper rebellierte, und ihr Geist war oft wie benebelt. Sie haßte den Gedanken daran, wie sie sich nach fünf weiteren Jahren mit solchen Pflichten fühlen würde.
Ihre Mutter hatte sich von der traumatischen Geburt der Zwillinge nie wieder richtig erholt. Rein körperlich schien Rosamund eigentlich nichts zu fehlen, doch sie war mehr im Bett als auf. Seit fünf Jahren aß sie wenig und war nur noch Haut und Knochen. Ihr blaßblondes Haar war gespenstisch weiß geworden. In Rosamunds eingefallenem Gesicht lagen riesige, unheimliche, graue Augen, die in eine unbestimmte Ferne schauten, jenseits dieser Welt.
Nach der Geburt der Zwillinge hatte Yarly Rosamund eine kurze Weile versorgt. Aber Yarly war unerfahrener und noch weniger entgegenkommend als ihre Schwester Minna. Schon bald fand sogar Gilon sie lästig. Sie schuldeten den beiden Hebammenschwestern noch immer eine Stange Geld, und es verging keine Woche, wo Minna nicht vorbeischaute, um das zu erwähnen. Der gutmütige Gilon stotterte die Schuld ganz allmählich ab.
Yarly hatte jedenfalls nicht viel tun können, um Rosamunds geheimnisvolles Leiden zu lindern. Darum behalf sich die Familie jetzt seit langem mit den Mittelchen des Heilers von Solace, einem dicken, vertrauenswürdigen Mann mit stinkendem Atem.