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Dieser Mann, Bigardus, kannte Rosamund schon viele Jahre und schien sie wirklich gern zu haben. Als einfacher – Kit neigte zu der Einschätzung »einfältiger« – Heiler hatte er nichts von Minnas Hochmut oder ihren Ansprüchen, was »unerläßlich« war. Er gab zu, daß er keine Ahnung hatte, was Rosamund fehlte, und prahlte nicht mit Allheilmitteln. Aber er versorgte die Familie Majere mit diversen Beuteln und Gläschen mit exotischen Mittelchen, die auf einem kleinen Regal neben Rosamunds Bett aufgereiht standen. Sie schienen ihre wiederkehrenden Schmerzen zu lindern. Hin und wieder kam Bigardus vorbei, um nach Rosamund zu sehen oder einen ihrer Anfälle zu beobachten. Kit mochte ihn. Sie hätte fast sagen können, daß sie sich auf seine unterhaltsamen Besuche freute.

Rosamund konnte monatelang am Rande des Halbschlafs verbringen. Zeitweise wirkte sie fast heiter, wenn sie mit ihren großen Augen alles so ruhig betrachtete, daß man fast vergaß, daß sie da war. Manchmal überraschte sie alle, indem sie sich plötzlich im Bett aufsetzte und die Zwillinge zu sich rief, um ihnen eine Geschichte zu erzählen. So begannen gewöhnlich die seltenen Abschnitte, in denen Rosamund fast normal erschien. Vielleicht stand sie sogar auf, um ihre Sonnenblumenbrötchen zu backen, die Caramon und Raistlin liebten. Mitunter traute sie sich sogar zum Einkaufen oder zu einem Spaziergang in den Wald, jedoch nur, solange Gilon bei ihr war.

Während dieser scheinbar normalen Zeiten widmete Rosamund den größten Teil ihrer kostbaren Kraft den Zwillingen und Gilon. Selten – Kitiara war sicher, daß sie die Male an einer Hand abzählen konnte – verbrachte Rosamund Zeit mit ihrer Tochter. Es war, als wäre sie unsicher, wie sie sich diesem unabhängigen Mädchen gegenüber verhalten sollte, das die meiste Zeit als Ersatzmutter des Hauses auftrat. Zuerst war Kit wegen der scheinbaren Gleichgültigkeit ihrer Mutter verletzt gewesen, doch das hatte sich inzwischen gelegt.

Rosamunds wache Augenblicke endeten ohne Vorwarnung. Kitiara oder Gilon oder einer der Jungen fanden sie auf dem Boden liegend vor und mußten ihr ins Bett helfen. Dann erlitt Rosamund für kurze Minuten oder endlose Wochen einen ihrer Anfälle, in denen sie qualvolle, entsetzliche Visionen erdulden mußte, die jedermann befremdeten.

Eigentlich gebrauchte nur Bigardus das Wort »Visionen«. Woraus sie bestanden und was ihre Mutter tatsächlich sah, konnte Kit kaum erraten. Die Anfälle kamen aus heiterem Himmel. Ganz plötzlich verzerrte sich Rosamunds Gesicht, und sie fuchtelte mit den Armen herum. Manchmal sprang sie sogar erstaunlich kraftvoll aus dem Bett und rannte im Zimmer herum, wobei sie mit einer unverständlichen Wut Möbel umwarf und Sachen kaputtmachte. Die Worte, die sie hervorbrachte, waren wirr und sinnlos. Warnungen, die sie Gregor, den Zwillingen oder Kitiara zubrüllte. Unsinnige Warnungen.

Einmal hatte die verwirrte Rosamund Kitiara mit ihrem Holzschwert gesehen und die Tochter für deren Vater gehalten. Sie hatte senkrecht im Bett gesessen, die Hände ausgestreckt und mit bemitleidenswerter Freude ausgerufen:

»Gregor, du bist zu mir zurückgekommen!«

Als Kit daran dachte, rümpfte sie die Nase. Gregor war schon vor sechs Wintern ohne ein Wort verschwunden.

Wenn Rosamund zu aufgeregt wurde, mußten sie sie manchmal ans Bett binden. Und wenn ihre Mutter – nach Stunden, Tagen oder Wochen – aus einem ihrer Anfälle aufwachte, konnte sie sich an nichts erinnern. Sie sank völlig kraftlos auf ihr Kissen zurück, und ihr schweißnasses, weißes Haar klebte strähnig um ihr Gesicht. Nach einem solchen Anfall, das wußte Kitiara aus Erfahrung, war ihre Mutter noch nutzloser und noch unwichtiger für das Alltagsleben der Familie.

Kitiara hatte sich alles selbst beigebracht – wie man kochte, wie man nähte und flickte, wie man auf die Jungen achtgab und sie erzog. Abgesehen vom Kochen gelang ihr das alles vielleicht nicht allzu gut, aber – bei den Göttern – sie tat es. Und Kit war stolz auf das, was sie getan hatte, stolz auf ihr Überleben, auch wenn sie die Haushaltspflichten haßte.

Kit erinnerte sich, daß sie ihrer Mutter vor langer Zeit eine Art Liebe entgegengebracht hatte. Es mußte Liebe gewesen sein. Was sollte es sonst gewesen sein? Aber heutzutage fühlte sie ihr gegenüber nichts als Mitleid. Mitleid und wachsende Distanz.

»Ein Vogel!« rief Kitiara aus, die überrascht in die Gegenwart zurückkehrte. Wieder sah sie Raistlin an, der sie von der Leiter aus beobachtete, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Sie griff hin und knuffte ihn liebevoll ans Ohr. »Du hast mit einem Vogel geredet! Das heißt… «

Sie stürzte an ihm vorbei und schwang sich nach unten. Nachdem sie durchs Zimmer gelaufen war, riß Kit einen Fensterladen auf. Sonnenstrahlen strömten durchs Fenster herein.

Frühling! Sonnenschein, blauer Himmel, duftender Wind und wirklich: Vögel, überall Vögel.

»Frühling!« Zufrieden lehnte sie sich auf die schmale Fensterbank.

»Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu sagen«, meinte Raistlin ernsthaft, der ihr gefolgt war. »Was glaubst du denn, wovon ich geredet habe?«

Sie schaute aus dem Fenster. Der Schnee, der gestern nachmittag noch stellenweise gelegen hatte, war praktisch verschwunden. Der Boden war naß, und überall lugten Knospen und Blümchen heraus. Die Welt war hell und bunt. Von etwas weiter entfernt hörte sie Musik und Gelächter, den Auftakt zu einem Fest. Da fiel ihr ein, daß heute der erste Morgen des jährlichen Marktes des Roten Mondes war.

Begeistert machte sie sich daran, Hosen und Stiefel anzuziehen. Sie stellte fest, daß Gilon bereits aufgebrochen war, zweifellos zum Holzfällen. Jeden Morgen stand ihr Stiefvater bei Tagesanbruch auf und ging an die Arbeit, immer in Begleitung der treuen Amber. Gilon war ein Eigenbrötler und Geheimniskrämer, was sein Holzfällen anging – wie ein Fischer, der seine Lieblingsfangplätze hütet. Er hatte Kitiara nie gebeten, ihn zu begleiten. Darüber war sie allerdings froh. Als einziges von den Geschwistern war der kräftige kleine Caramon einmal eingeladen worden, mitzukommen. Als er von dem Tag im Wald zurückkam, sagte er nicht viel. »Menge Arbeit«, vertraute er Kit und Raistlin an. »Langweilig.«

Rasch durchquerte Kit mit Raistlin im Schlepptau den Raum. Sie spähte durch den handgewebten Vorhang, den Gilon im Eingang zu dem Kämmerchen aufgehängt hatte, das ihm und Rosamund als Privatraum diente. Ihre Mutter schlief noch, stellte Kit nach einem forschenden Blick fest. Gut. Soll sie schlafen. Sie wies Raist an, ruhig zu sein.

Dann schlich sie sich zu Caramon, der immer noch friedlich schnarchte. Raist folgte ihr wie immer. Caramon rührte sich nicht einmal, als sie näher kamen. Dieser kleine Kobold könnte sogar einen Bergrutsch verschlafen, dachte Kitiara.

Sie nahm das Kissen fest in die Hände und beugte sich vor, um nah an sein Ohr zu kommen. Als Kit ihrem kleinen Bruder das Kissen unterm Kopf wegzog, stieß sie einen wilden Schrei aus: »Von Feinden umzingelt!«

Caramons Augen flogen auf, als sein Kopf auf das Kopfteil knallte. Im nächsten Moment war er vom Bett gesprungen und hatte eine kindliche Kampfstellung angenommen. Sein benommener Blick nahm einen etwas dümmlichen Ausdruck an, als er Kitiara auf dem Boden liegen sah, wo sie sich den Bauch hielt. Raistlin lächelte immerhin.

»Aua«, sagte Caramon. »Ich war mitten in einem Traum.«

»Vielleicht träumst du zuviel«, sagte Raist kühl.

Caramon warf ihm einen beleidigten Blick zu.

»Erster Frühlingstag!« verkündete Kitiara. »Der Markt geht los.« Sie war bereits aufgestanden und hielt auf die Tür zu, Raistlin hinterher.

»Was ist mit Mutter? Sollten wir nicht auf Vater warten?« fragte Caramon weinerlich.

Aber Kit und Raist waren schon aus der Tür gelaufen, und Caramon, der mit seinen Kleidern kämpfte, mußte sich beeilen, wenn er sie einholen wollte.

Später am Vormittag brannte die Sonne schon heiß vom Himmel, und jede Erinnerung an den Winter war verflogen. Für jemanden, der während der kalten Monate in Solace festsaß, ganz zu schweigen von denen, die dort ihr ganzes Leben festsaßen –, war dieses erste Frühlingsfest die schönste Zeit im Jahr. Es war ein Tag, an dem sich die Tore des Städtchens wirklich öffneten und an dem es so aussah, als würde der ganze Rest der Welt eintreten und sich fröhlich vorstellen.