»Ich werd’ dir schon beibringen, was ehrenhaft ist und was nicht, kleiner Bruder«, schalt Kitiara. »Besonders wenn es um meine Ehre geht.«
Caramon riß sich von dem Gemüsehändler los und klopfte sich würdevoll den Staub ab. Rachsüchtig funkelte er Kitiara an.
»Ich wollte ein Kav… Kav…«
»Kavalier!« flüsterte Raistlin, bevor er sich auf ein Stück Felsen setzte. Er sah mit seinen wäßrigen Augen lange nicht so fasziniert zu wie der Rest der Gruppe.
»Kavalier sein!« rief Caramon mit einem dankbaren Blick zu seinem Bruder. Wild entschlossen baute er sich vor Kitiara auf – die Nase in ihrer Brusthöhe.
»Dann versuch doch, woanders Kavalier zu sein«, schlug Kitiara einlenkend vor. Sie stieß ihn zur Seite.
»Undankbare!« sagte Caramon, der wieder vortrat.
»Hosenscheißer!« gab sie mit blitzenden Augen zurück.
Inzwischen hatten die anderen Bronk vergessen, und der Streithahn hatte sich – etwas erleichtert – in der Menge in Sicherheit gebracht. Alle Augen hingen an Caramon, als dieser den ersten Angriff führte, indem er seinen Stock hochschwang und Kit fest gegen den rechten Arm schlug. Auf diese schnelle Attacke folgte eine zweite, die sie an den Knien traf. Keuchend krümmte sie sich zusammen.
Von den Zuschauern – jetzt genausoviel Erwachsene wie Kinder – kamen anfeuernde Rufe, während sie sich zu einem Halbkreis um die streitenden Geschwister scharten. Caramon gelang es irgendwie, über Kitiaras zusammengekauerte Gestalt zu springen und ihr dabei mit dem Griff seiner Spielwaffe einen Schlag gegen den Rücken zu verpassen. Für ein so kleines Kind zeigte er eine beeindruckende Körperbeherrschung.
Doch noch während Caramon sich umdrehte, um zufrieden in die Menge zu grinsen, richtete Kit sich auf und fuhr auf ihn los, packte den Jungen am Bauch und warf ihn sich über die Schulter wie einen Sack Kartoffeln. Sie wirbelte ihn einmal im Kreis, um ihn dann in hohem Bogen rücklings in das brackige Wasser eines nahen Trogs zu schmeißen.
Die Menge explodierte vor Schadenfreude. Diese Schreie brachen ab, als Caramon aus dem Trog sprang und sich – triefnaß und verschmiert – auf seine Schwester stürzte. Dabei stieß er etwas aus, was er für einen solamnischen Kriegsruf hielt. Caramon erinnerte sich vage daran, mal so etwas gehört zu haben, doch in Wahrheit war es eher der Spottruf eines Kenders.
Zack! Diesmal fing Kitiara seinen Schlag mit dem ausgestreckten Arm ab und den nächsten mit der Hand, so daß Caramon sich einmal im Kreis drehte – wo hat er denn das gelernt? fragte Kit sich beiläufig –, um dann von hinten ihre Schulter zu treffen.
Kitiara rieb sich betreten die Schulter, war aber trotz des Schmerzes amüsiert. Sie hatten schon oft auf diese Weise im Wald gerauft. Gut, daß der Stock nicht besonders dick oder schwer war, fand sie. Caramon hingegen wurde allmählich richtig munter. »Autsch!« schrie sie auf, als sie etwas am Ohr traf. »Das hat jetzt weh getan!«
»Tschuldigung«, sagte Caramon keuchend. Er grinste wie ein betrunkener Kender und amüsierte sich offensichtlich ebenfalls.
Kitiara fuhr herum, duckte sich und erwischte die Beine des Dreikäsehochs. Während Caramon Schlag um Schlag auf ihren Kopf niedersausen ließ, warf Kit ihn auf die Erde. Er ließ den Stock fallen, und sie schaffte es, diesen fortzutreten.
Dabei nagelte sie Caramon an den Boden, schnappte sich eins seiner Beine und bog es nach hinten.
Gleichzeitig allerdings konnte er hinter sich greifen und ihren Kopf festhalten. Sie waren fast miteinander verknotet, grunzten und stöhnten, während sie sein Bein verbog und er an ihrem Hals zog.
»Gib auf!« forderte Kit, die sein Bein so dicht an seinen Rücken drückte, daß die Menge vor Mitleid mit dem Jungen aufstöhnte.
»Niemals!« brüllte Caramon.
Die Zuschauer bestärkten ihn noch in seinem trotzigen Hochmut. Kit bog Caramons Bein weiter zurück, bis sie schon bald die Knochen knacken hörte. Im Gegenzug hielt er ihren Kopf noch fester. Während sein Gesicht gegen den Boden gedrückt wurde, wurde ihres so weit zurückgebogen, bis sie den Himmel sah.
»Los, gib auf!«
»Gib du doch auf!«
»Ich habe gewonnen!«
»Ich hab’ zuerst gewonnen!«
»Soll Raist doch entscheiden!«
Pause. »Na gut.«
»Raist? Raist?«
Kitiara schaffte es, ihren Hals so weit herumzudrehen, bis sie sehen konnte, daß Raistlin verschwunden war. Caramons Zwillingsbruder hatte dieses unterhaltsame Schauspiel in seinem kurzen Leben schon ein paarmal zu oft mitangesehen und langweilte sich schnell dabei. Und so war Raist einfach weitergelaufen.
Kitiara sprang auf. »Raistlin!«
Auch Caramon sprang auf und rieb sich das Gesicht. Seine Tunika war stellenweise zerrissen. An Kitiaras Ohr lief ein dünner Blutstreifen herunter. »Oh, Mann«, maulte Caramon, »wo kann er denn bloß hin sein?« Kitiara fuhr wütend zu ihm herum. »Wie oft muß ich es dir noch sagen? Du bist sein Bruder! Du bist genauso für ihn verantwortlich wie ich!«
Caramons Miene war nicht nur zerschlagen, sondern auch zerknirscht. »Mann, wieso soll ich mich eigentlich immer um ihn kümmern? Du bist doch die große Schwester, oder? Außerdem habe ich – «
Kitiara spie die Worte regelrecht aus. »Du bist sein Zwillingsbruder, sein Zwilling. Ihr seid zwei Hälften vom gleichen Ganzen. Und er ist nicht so stark wie du. Das weißt du. Ich werde nicht den Rest meines Lebens für euch zwei den Babysitter spielen. Also such ihn, und zwar schnell!«
Sie wollte Caramon einen Tritt versetzten, der ging jedoch knapp daneben. Der kleine Bruder hatte sich ihre Worte zu Herzen genommen und fegte bereits los, um seinen verschwundenen Zwilling zu suchen.
Erschöpft sank Kitiara zu Boden. Da sie erkannt hatten, daß der Spaß vorbei war, waren die meisten Zuschauer verschwunden. Anscheinend beachtete sie keiner mehr. Kit betastete ihr Ohr und griff dann nach vorn, um ihren einen Stiefel wieder richtig anzuziehen, den sie irgendwie fast verloren hatte.
»Du hättest dich von ihm besiegen lassen sollen!«
Sie sah hoch, und vor ihr stand ein Mädchen in ihrem Alter mit blauen Augen und rotblonden Haaren, die ihr lockig über die Schultern fielen. Aurelie Damark, die kokette Tochter eines Möbeltischlers aus Solace, war eine der wenigen Freundinnen von Kit. Sie waren eigentlich völlig gegensätzlich, aber Kitiara mußte zugeben, daß Aurelie sie zum Lachen brachte.
»Von Caramon?« schimpfte Kit, während sie ihre Freundin mit einem Lächeln begrüßte.
»Nein, von Flecki!« antwortete Aurelie ernsthaft. »Was glaubst du, warum er immer auf dir herumhackt?«
»Wahrscheinlich aus lauter Bosheit und Dummheit«, erklärte Kit prompt.
Aurelie setzte sich neben Kit und streckte ihre schlaksigen Beine aus. »Ganz und gar nicht«, rügte sie Kit. »Auch wenn ich über seine Dummheit keinen Streit anfangen würde.« Sie kicherte. »Er mag dich!«
Kitiara blickte ihrer Freundin fest in die Augen, weil sie glaubte, daß Aurelie sie aufziehen wollte.
»Flecki?«
»So häßlich ist er doch gar nicht«, sagte Aurelie nachdrücklich, während sie ihr rosaweißes Kleid zurechtzupfte, damit es sich wie eine Korallenmuschel über dem dreckigen Boden ausbreitete. Mit ihren rosigen Wangen und den langen Wimpern war Aurelie der Inbegriff von Weiblichkeit. »Jungen mögen es, wenn Mädchen sich hart zeigen, sagt Vater. Allerdings«, sie hielt inne und dachte einen Augenblick nach, »Mutter sagt, sie ziehen ein weichherziges Mädchen vor. Außen hart, innen weich. Was sagt dein Vater?«
Kitiara seufzte. Sie konnte Aurelies Geplapper nie nachvollziehen. »Hat gesagt… hat gesagt. Ich habe meinen Vater fast sechs Jahre nicht mehr gesehen, Aurelie. Das weißt du doch.«