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Diesmal bewegte der Mann geschickt die Hände und sang ein paar Worte. Er zog Schubladen auf, aus denen Tauben herausflogen, machte Taschen auf, in denen er funkelnde Trinkbecher fand, riß buntes Papier in Fetzen und setzte diese dann wieder zusammen. Irgendwo in seinem Innersten wußte Raistlin, daß das alles nur Hokuspokus war, nichts Schwieriges und auf jeden Fall keine großartige Magie. Aber mit seinen fünf Jahren hatte der Junge noch nie eine so erstaunliche Vorstellung gesehen. Die Menge schaute ehrfürchtig schweigend zu. Raistlin selbst war wie gebannt.

»Da bist du ja, Raist!« Caramon tauchte neben ihm auf und tat furchtbar wichtig. »Kitiara hat gesagt, ich soll dich suchen und sofort zurückbringen.« Er sah sich etwas verloren um. »Obwohl ich nicht so genau weiß, wo ›zurück‹ jetzt eigentlich – «

»Schsch!« Raistlin warf ihm einen strengen Blick zu und beachtete seinen Bruder dann nicht weiter.

Caramon war gerade rechtzeitig zum Höhepunkt der Vorführung des Wanderzauberers aufgetaucht, wahrscheinlich dem Gipfel seiner gesamten Kunst. Soweit Caramon das beurteilen konnte, jonglierte der große, dünne Zauberer mit mehreren Lichtkugeln. ›Na, toll‹, dachte er. Alles in allem interessierten Zauberkunststückchen Caramon etwa ebensosehr wie Raistlin die Ringkämpfe seines Bruders.

Caramon sah sich um, weil er nach Kitiara Ausschau hielt, als ein lautes Hurra aus der Menge aufstieg. Er sah zurück, es war aber schon zu spät. Der Höhepunkt war vorüber, und der Magier packte seine Sachen zusammen. Ein anderer Mann – fast ein Doppelgänger des Zauberers, dachte Caramon stirnrunzelnd – lief bereits mit einem Korb für Spenden herum.

»Was hat er gemacht?« fragte Caramon Raistlin. »Was hat er gemacht?«

Aber Raistlin sagte nichts, und sein Gesichtsausdruck war fast glückselig.

»Da seid ihr zwei ja!« meinte eine kräftige Stimme, und jedem fiel eine Hand auf die Schulter. »Ihr solltet längst zu Hause sein. Und wo ist Kitiara?«

Es war Gilon, und Amber stand an seiner Seite. Er drückte seine beiden Söhne an sich und setzte sich dann Raistlin mühelos auf seine breiten Schultern. »Komm schon!« rief er Caramon zu. »Wo ist Kit?« fragte er wieder, wobei er sich zögernd umsah.

»Äh«, machte Caramon, der nach hinten schaute. »Da hinten. Oder irgendwo da. Wir wurden getrennt, weil Raist – «

Gilon schimpfte liebevoll mit Caramon. »Du hast deine Pflichten, und ihr solltet eure Mutter nicht zu Hause allein lassen. Das wißt ihr.« Er sah sich wieder um. »Nun«, meinte er achselzuckend, »Kit wird schon kommen.«

Gilon schlug ein rasches Tempo an. Caramon mußte rennen, um Schritt zu halten. Raistlin, der auf den Schultern seines Vaters auf und ab hüpfte, verrenkte sich den Kopf, um einen letzten Blick auf den Magier in der ausgeblichenen gelben Robe zu erhaschen. Aber er und sein Doppelgänger waren bereits verschwunden.

Hinter einem Zelt hervorspähend hatten Kitiara und Aurelie ihren Abzug beobachtet. Aurelie dachte nach und kaute dabei auf ihrem Daumennagel herum.

»Ich sollte wirklich gehen«, setzte Kit an.

Aurelie hielt einen ihrer bestickten Beutel hoch und schüttelte ihn, so daß Kitiara die Münzen darin klimpern hörte. »Ich habe genug für uns beide«, sagte sie einladend. »Es gibt Bratwürstchen und Kuchen und…«

Kitiara runzelte die Stirn, denn die häuslichen Pflichten riefen sie.

»Und da drüben«, erklärte Aurelie durchtrieben, »bauen sie gerade alles für die Wettkämpfe auf. Es dürfen auch Mädchen teilnehmen!«

Kit brauchte nicht lange überredet zu werden. »Na gut, nur für ein paar Stunden!« sagte sie.

Mehr als einer der jungen Burschen mußte an diesem Frühlingstag in Solace heftig schlucken, als ein Mädchen, das einige Jahre jünger war als die meisten teilnehmenden Jungen, den ersten Platz im Lianenklettern, Barfußrennen und beim Wildwasserfahren davontrug.

Aurelie versuchte noch einmal, Kitiara zu erklären, daß sie es sich angewöhnen sollte, gelegentlich einen Jungen gewinnen zu lassen, wenn sie später jemals einen für sich erobern und glücklich verheiratet sein wollte.

Aber Kit hatte gute Laune. Aurelie konnte ihr die nicht verderben.

Bronk Wister hing mit seinem kleinen Bruder Dune herum und schaute den Wettkämpfen nur zu. Immer wenn Kits Name angesagt wurde, lachten sie höhnisch. Aurelie, die ja schließlich Kits Verstärkung war, fing mit der Zeit an, ihre Freundin vom Rand her anzufeuern.

Anschließend teilten sie sich ein Täschchen mit Gutscheinen, die Kit für ihre Siege bekommen hatte. Man konnte sie gegen Essen oder Eintrittskarten umtauschen. Die beiden Mädchen stopften sich mit Zuckerzeug voll, bis ihnen der Bauch weh tat. Dann spielten sie ein paar Glücksspiele, die von zwielichtigen Kerlen in Zelten veranstaltet wurden, hatten aber kein Glück. Aurelie vermutete, daß es dabei wahrscheinlich nicht mit rechten Dingen zuging.

Sie sahen sich die Auslagen der Händler an, und Aurelie feilschte um ein blankes Kupferarmband, während Kit einen Beutel Magneten erstand, deren geometrische Formen ihr gefielen.

Nach einigen Stunden streckten sie sich erschöpft in einer Ecke des Platzes im Gras aus. Kit fiel ein Schild an einem kleinen, gestreiften Zelt auf, das sie bisher übersehen hatte: »Die berühmte Madame Dragatsnu sagt die Zukunft voraus!« Ein dicker, wichtig aussehender Mann verließ gerade mit zufriedener Miene das Zelt.

Kit war Feuer und Flamme, aber als sie die Gutscheine in ihrer Hand zählte, wurde ihr klar, daß sie nur noch für einen Blick in die Zukunft reichten.

»Na, geh schon«, sagte Aurelie. Sie hatte Kits Gedanken gelesen. »Meine Zukunft ist im Moment genau hier.«

Als Kit sich unter der Zeltklappe hindurch duckte, landete sie genau vor der alten Madame Dragatsnu, einer kleinen, dunkelhäutigen Frau mit graumeliertem Haar, der am Kinn und aus der Nase Haare wuchsen.

Die Zukunftsdeuterin trug ein einfaches braunes Kleid und saß auf einem Webteppich.

Sie wirkte nicht besonders beeindruckend. Als Kit sich umsah, entdeckte sie keines der geheimnisvollen Hilfsmittel, die man gewöhnlich mit einem Blick in die Zukunft in Verbindung brachte – keine Kristallkugel, keinen Becher mit Knochen, keine Gläser mit Teeblättern oder so.

»Setz dich, Kind«, sagte Madame Dragatsnu, deren belegte Stimme leichte Verärgerung verriet. Kit konnte ihren seltsamen Akzent nicht einordnen.

Kit setzte sich im Schneidersitz der Hellseherin gegenüber. Madame Dragatsnus glitzernde Augen schienen die Entfernung zu ihr zu überwinden und sie zu überwältigen.

»Es geht nicht um mich«, sagte das Mädchen leise und sah plötzlich verlegen nach unten. »Das Schicksal, meine ich.«

»Also deinen Liebsten?«

Kit sah trotzig hoch. »Nein.« Sie legte die Gutscheine hin, die sie fest in der Hand gehalten hatte, und schob sie der alten Frau hin. Die nickte.

»Hast du etwas, das dieser Person gehört?«

Kit griff in ihre Tunika und zog ein Stück Pergament heraus – das solamnische Wappen ihres Vaters. Sie hatte es heute eingesteckt, weil sie gehofft hatte, Leute aus jener Region zu sehen, die ihr vielleicht Auskunft über Gregor oder seine Familie geben konnten, wenn sie ihnen das Wappen zeigte.

»Es ist – «

»Dein Vater«, schnitt Madame Dragatsnu ihr das Wort ab.

Kit sah die Wahrsagerin hoffnungsvoll an. Madame Dragatsnu drehte das Pergament immer wieder in den Händen und betastete regelrecht sinnlich seine Oberfläche, als wäre es ein seltener Stoff. Während sie das tat, starrte sie nicht Gregors solamnisches Symbol, sondern Kit selbst an. Ihr undurchschaubarer Gesichtsausdruck verriet Kit überhaupt nichts, aber wie ihre Augen glühten!

»Ich hatte gehofft«, sagte Kit wieder leise, »daß Ihr mir vielleicht sagen könnt, wo er ist.«

»Ich sage nichts über die Gegenwart«, sagte Madame Dragatsnu in scharfem Ton. »Zukunftsvorhersagen. Das steht auf dem Schild.«

Kit lief rot an. »Könnt Ihr mir etwas über seine Zukunft sagen?«