Выбрать главу

»Schsch!«

Es folgte minutenlanges Schweigen, währenddessen die Hellseherin weiter das Pergament befühlte und Kit anstarrte, der es schwerfiel, still zu sitzen.

»Wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?« fragte die Wahrsagerin unerwartet. Die Frage war weniger überraschend als die Art, in der sie gestellt wurde. Madame Dragatsnu hatte ihren geschäftsmäßigen Ton abgelegt und ließ unmißverständlich Mitleid durchklingen.

»Über fünf Jahre.«

»Mhmmm. Ich kann dir nicht besonders viel sagen. Norden, glaube ich. Ja. Irgendwo im Norden.«

»Er hat Verwandte im Norden, ich glaube, in Solamnia«, meinte Kit aufgeregt.

»Woanders«, erklärte Madame Dragatsnu. Wieder folgte langes Schweigen, als sie Gregors grobe Tintenzeichnung des Wappens mit dem Finger nachfuhr. »Eine Schlacht«, fuhr sie wie in Trance fort. »Eine große Schlacht, viele Männer – «

»Wird er in Gefahr sein?« Kit konnte sich kaum halten.

»Ja.«

Kitiara sog mit klopfendem Herzen rasch den Atem ein. Gregor in Gefahr!

»Aber nicht in der Schlacht«, sagte Madame Dragatsnu mit Nachdruck. »Die Schlacht wird er gewinnen.«

»Wie dann?« drängte Kit.

Madame Dragatsnu machte eine Pause. »Hinterher.«

»Wann?« forderte Kit. »Wann?«

Madame Dragatsnu starrte sie an. »Bald. Sehr bald.«

»Was kann ich tun? Was könnt Ihr mir noch sagen?« Kit schrie die alte Hexe vor Aufregung fast an.

Die Wahrsagerin blieb ungerührt. Sie ließ sich viel Zeit mit ihrer Antwort, und bevor sie diese äußerte, faltete sie Gregors Zeichnung wieder zusammen und händigte sie Kitiara aus.

»Nichts. Die Antwort auf beide Fragen lautet: Nichts.«

Wutentbrannt sprang Kit auf und rannte aus dem Zelt. Sie flüchtete sich hinter einen abseits stehenden Baum, denn in ihren Augen standen Tränen. Das war alles so eine blöde Lügenzukunft. Solche Wahrsager waren auf Jahrmärkten so allgegenwärtig wie Stechfliegen. Die alte Schrulle hatte kein Ahnung von Gregors Zukunft. Es war nur ein blindes Raten gewesen, als Madame Dragatsnu behauptet hatte, die Tintenzeichnung hätte etwas mit ihrem Vater zu tun.

Kit brauchte eine Weile, bis sie sich davon überzeugt, sich beruhigt und ihre Augen getrocknet hatte. Dann kehrte sie zu Aurelie zurück, die auf dem Rücken liegend eingeschlafen war und mit einem Lächeln auf den Lippen schlummerte.

»Gute Nachrichten?« fragte ihre hübsche Freundin, nachdem Kit sie geweckt hatte.

»Hokuspokus«, erklärte Kit mit fester Stimme und einem Kopfschütteln. »Reine Verschwendung. Komm, es ist spät. Ich muß nach Hause.«Eine ganze Weile nach Sonnenuntergang öffnete Kit leise die Tür zu ihrer Hütte und schlüpfte hinein. Ihr Gesicht war müde und dreckverschmiert, ihre Kleider schmutzig und zerrissen. Aber sie hatte die Vorhersage der Zukunftsdeuterin verdrängt und war ungewöhnlich glücklich. Sie brauchte einen Moment, bis sich ihre Augen von der Dunkelheit der Nacht an das merkwürdige Licht drinnen gewöhnt hatten.

»Psst!« Gilon ergriff ihren Arm und zog sie neben sich auf den Boden herunter.

»Wo bist du gewesen?« wollte Caramon wissen. Er saß neben seinem Vater.

Ehe sie antworten konnte, flüsterte Gilon: »Ist schon gut.« Mit der Hand strich er sanft Kits schwarze Haare zurück. »Sieh nur!«

Jetzt sah sie, was vor sich ging. Raistlin stand in der Mitte des Raums und gab eine Art Vorstellung. Zaubertricks? Ja, Raistlin machte Zaubertricks.

»Ich weiß nicht, wie er sie gelernt hat«, vertraute ihr Caramon an, der sich zu ihr lehnte, »aber er macht das schon den ganzen Abend. Er ist echt gut!«

Raistlins Gesichtsausdruck war ernst und konzentriert. Der Junge hielt seine Hände hoch. Dazwischen hing – wie, wußte Kitiara wirklich nicht – ein Ball aus weißem Licht. Raists Hände bewegten sich langsam und flatternd, während aus seinem Mund ein leiser Singsang von kaum verständlichen Worten kam, falls es überhaupt Worte waren. Einen Augenblick lang stellte Kit unbehaglich fest, daß sie sich wie Rosamunds Geplapper während ihrer Trancen anhörten.

Raistlin bewegte die Hände. Der Lichtball teilte sich in mehrere Lichtkugeln, mit denen er zu jonglieren begann. Er machte eine schnelle Bewegung. Die Kugeln teilten sich erneut, diesmal in Dutzende kleinerer Lichtkugeln. Noch eine Bewegung, und sie wurden zu Hunderten von Kügelchen, die wie Schneeflocken glitzerten, dabei aber wie lebendig pochten und zuckten und sich in einem kunstvollen Muster bewegten.

Schließlich wurden Raistlins Worte und Gesten langsamer. Auch die Lichter kamen fast zum Stillstand. Gilon, Caramon und Kit beobachteten schweigend Raistlins Gesicht, das jetzt einen beinahe schmerzhaft konzentrierten Ausdruck zeigte. Plötzlich murmelte Raist etwas und machte eine rasche, gezielte Geste.

Die Lichtbälle begannen zu rotieren, zu wachsen und in hellen, kräftigen Farben zu erstrahlen. Dann explodierten sie schneller, als man wahrnehmen konnte, in kleine Figuren: Feuerblumen, Muschelblüten, kometenhafte Schmetterlinge. Es war ein Trommelfeuer leiser Knallgeräusche, dem als Höhepunkt eine weiße Lichtexplosion folgte, die alle kurzfristig sprachlos und geblendet dasitzen ließ.

»Was ist los? Was ist passiert?« fragte Rosamund mit vor Schreck zitternder Stimme. Mit ängstlich verzerrtem Gesicht klammerte sie sich an den Türrahmen ihrer Kammer.

Gilon sprang eilig auf, um sie zurück ins Bett zu bringen und wieder zu beruhigen.

Jetzt war wieder alles normal. Raistlin kam und setzte sich. Er streckte Bruder und Schwester die Hände entgegen, und beide nahmen sie. Kitiara und Caramon lachten vor lauter Freude, und – was wirklich ungewöhnlich war – Raistlin lachte mit.

4

Die Zauberschule

Gilon packte etwas Brot und Käse für unterwegs ein, während Kitiara Raistlin ein letztes Mal musterte. Hände und Gesicht – sauber. Tunika und Hosen – an den Knien und Ellbogen gestopft, aber vorzeigbar. Kit reckte sich und gähnte. Als Gilon sie heute geweckt hatte, war die vorfrühlingshafte Sonne noch nicht zu sehen gewesen.

Raistlin sah ihr zu. Wenn Raistlin so still hielt, mußte er fürchterlich aufgeregt sein, weil er heute in die Zauberschule gehen sollte, dachte Kitiara. Bei der Aussicht auf einen solchen Ausflug wäre Caramon – wie die meisten Sechsjährigen – unbändig herumgesprungen und hätte eine Million Fragen gestellt.

Nicht aber Raistlin. Immer war er ruhig und aufmerksam, und jetzt, als er seine Vorstellung beim Zaubermeister vor sich hatte, wurde er noch ruhiger.

»Ich werde nie so groß und stark sein wie Caramon, nicht wahr? Egal, mit wieviel Klebzeug du meine Beine einreibst?« hatte er Kit am Vorabend gefragt, als sie ihn für die Nacht zurechtgemacht und eine übelriechende Salbe auf seinen Armen und Beinen verteilt hatte. Seit dem letzten Besuch des Heilers Bigardus gehörte das für ihn zum Zubettgehen. Nachdem Bigardus an jenem Tag Rosamund behandelt hatte, hatte er sich die spindeldürren Arme und Beine von Klein-Raistlin angeschaut und mißbilligend das Gesicht verzogen. Dann hatte er in seiner Medizintasche herumgewühlt und eine kräftigende Baumwurzelsalbe herausgezogen, mit der Kit Raistlins Gliedmaßen jeden Abend einreiben sollte. Na gut, hatte Kitiara voller Skepsis gedacht, vielleicht war die Salbe ja einen Versuch wert.

Gestern abend, als er sich schon auf seinen Ausflug zum Zaubermeister freute, hatte Raist gegen die stinkende Gewohnheit protestiert.

»Dieses Zeug wird nichts daran ändern, wie ich bin«, erklärte er überzeugt. »Ich werde immer klein und schwach sein. Das weiß ich. Macht mir auch nichts aus. Du brauchst gar nicht glauben, daß du immer auf mich aufpassen mußt.«

Kitiara hatte sich vorgebeugt, ihren kleinen Bruder schnell in die Arme geschlossen und insgeheim über seine Beobachtungsgabe gestaunt. Es verging tatsächlich kein Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, wie sie es anstellen konnte, daß sie sich nicht mehr ständig um ihre jüngeren Brüder kümmern mußte – nicht nur Raistlin, sondern auch Caramon. Sie war fast vierzehn. Sie wollte endlich auf eigene Faust losziehen, etwas von der Welt sehen, vielleicht sogar ihren Vater aufspüren. Sie hatte es zutiefst satt, all das zu tun, was Rosamund hätte tun sollen, wenn die nicht ihre blöden Trancen gehabt hätte.