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Ziellos streifte sie in dem großen Lager herum, wobei sie die Gesichter und Kleidung der Leute nach Hinweisen darauf absuchte, wo sie wohl herkamen und wohin sie wollten.

Die Menschen hier waren für Kit interessanter als die Waren und Vergnügungen auf dem Jahrmarkt. Sie merkte, daß sie in einem Teil des Lagers gelandet war, wo mehr getrunken als gegessen wurde, und wo die Besucher auf ihr Geld und ihr Leben zu achten hatten – damit sie sich nicht mit gespaltenem Schädel und leeren Taschen im Graben wiederfanden. Aber Kit hatte selber leere Taschen und vertraute darauf, daß sie auch mit schwierigen Situationen umgehen konnte. Notfalls konnte sie immer noch davonrennen.

Kitiara wollte gerade umkehren, als ihr rauhes Lachen und leises Streiten an die Ohren drang. Rechts von ihr entdeckte sie zwischen zwei Vorratszelten vier eng beieinandersitzende Männer, die hitzig redeten. Ihr sechster Sinn sagte ihr, sie solle diese Unterhaltung unbedingt belauschen.

Um dichter heranzukommen, schlich sich Kit in das Nachbarzelt, bis sie nur noch durch eine dünne Stoffplane von der Gruppe getrennt war. Durch einen kleinen Riß konnte sie erkennen, daß es vier Männer waren; dem Aussehen ihrer Kleidung und ihrer Waffen nach handelte es sich um Söldner. Einer von ihnen, den sie nur von der Seite sehen konnte, kam ihr irgendwie bekannt vor.

»Ich sage, wir töten ihn nicht. Wir entführen ihn und lassen ihn später gegen Lösegeld frei. Damit können wir doppelt absahnen.«

»Nein! Vergiß das Lösegeld. Wir sollen ihn nicht umbringen, und wir sollen ihn nicht entführen. Ich sage euch, wir werden wirklich gut bezahlt. Jeder von uns, und wir haben nichts zu bereuen.«

Die erste Stimme klang weinerlich. Die zweite – Kit wußte, daß sie diese Stimme schon mal gehört hatte, aber wo? Sie suchte sich eine bessere Position, konnte jedoch keines der Gesichter erkennen, weil alle die Köpfe eng zusammensteckten. Und sie konnte auch nicht alles verstehen, weil die Männer leise redeten.

»Wie weit ist es?« fragte ein dritter Mann mit tiefer, einschmeichelnder Stimme.

»Ungefähr sechs Tagesreisen nach Norden«, erwiderte die bekannte Stimme. »Ich kenne den Weg, aber wir müssen die Straßen meiden. Ich schätze, mindestens sechs Tage. Damit haben wir noch Zeit, die Falle aufzubauen. Unserem Informanten zufolge – «

Ein Auflachen des Weinerlichen ließ alle stocken.

»Unserem Informanten zufolge muß Gwatmeys Sohn die Lieferung persönlich, pünktlich und vertragsgemäß durchführen. Also wird er weder vom Zeitplan noch vom Weg abweichen.«

»Ich finde immer noch, wenn wir Lösegeld fordern, verdoppeln wir – «, fing die weinerliche Stimme wieder an.

»Vergiß es, Radisson«, sagte der Verschwörer mit der tiefen Stimme nachdrücklich. »Ursa hat recht. Wir machen es so, wie er sagt.«

Kitiara blieb fast das Herz stehen. Natürlich! Das war der Mann, den sie an jenem Tag vor langer Zeit getroffen hatte, als Rosamund die Zwillinge bekommen hatte. Ursa Il Kinth. Was mochte er wohl vorhaben? Die dritte Stimme hatte offenbar die Entscheidung besiegelt.

»Dann sind wir uns einig«, hörte Kit Ursa sagen. »Wir treffen uns in drei Tagen um Mitternacht jenseits des Eichenwäldchens im Norden der Stadt. Wir reiten ein, zwei Stunden im Mondlicht, bis wir Stadt und Höfe sicher hinter uns haben. Dort können wir lagern.«

Es folgte wieder eine Pause, bis Ursa abschloß: »Jetzt trennen wir uns, halten uns voneinander fern und gehen bis dahin auch allem Ärger aus dem Weg.«

Der mit der weinerlichen Stimme – Radisson – meuterte noch leise, doch die Gruppe ging auseinander. Kit kroch hinter eine Kiste, um ihnen Zeit zu lassen. Dann flitzte sie aus dem Zelt und sah sich hektisch um. Die anderen waren in der Menge zwischen den Zelten untergetaucht, aber zu ihrem Glück entdeckte sie Ursas breiten Rücken und seine große Gestalt in einiger Entfernung.

Nachdem sie ihm nachgerannt war, folgte Kit Ursa ein paar Minuten lang, während er durchs Lager schlenderte, ohne mit irgendwem ein Wort zu wechseln. Sie mußte sichergehen, daß Ursa allein war. Schließlich schloß sie mit ihm auf und lief neben ihm her.

Nach etwa dreißig Schritten fiel Ursa schließlich die kleine, weibliche Gestalt in der grünen Tunika mit den braunen Hosen auf, die neben ihm lief. Nachdem er ihr kurz zugenickt hatte, ging Ursa schneller. Wegen seiner langen Beine mußte Kit in Trab fallen, um mit ihm Schritt zu halten. Eine Minute später hatten sie den Südrand des Lagers erreicht, wo ein Stall eingerichtet worden war. Hier hielten sich kaum Leute auf.

Nachdem sie beschlossen hatte, daß das Risiko äußerst gering war, rief Kit ihn etwas außer Atem beim Namen: »Ursa Il Kinth.«

Langsam drehte er sich um und stellte sich breitbeinig, mit der Hand am Griff seines Dolches im Gürtel, diesem fremden Mädchen.

»Du mußt dich irren«, sagte er warnend. »Ich kenne dich nicht.«

»Heute kann ich dir keinen Apfel anbieten, aber ich habe etwas Besseres«, köderte Kit ihn mit einem Grinsen.

Ursa starrte sie ungläubig an, als würde er jemanden erkennen, den er nicht erwartet hatte. Rasch fing er sich wieder und stieß ein bellendes Gelächter aus. »Du!« Er streckte die Hand aus und verpaßte Kit einen »freundschaftlichen« Knuff aufs Ohr. »Na, du bist aber gewachsen – zumindest ein bißchen!«

»Ich bin gewaltig gewachsen«, sagte sie und warf beleidigt den Kopf zurück.

Lachend musterte er sie. »Allerdings«, meinte er. »Aber was könnte Gregor Uth Matars Tochter haben, was mich interessieren sollte?« fragte er. Sein Tonfall war abwertend, obwohl seine Augen freundlich blickten.

»Schlaue Hilfe.«

»Ich bin wirklich schlau genug. Vielen Dank, junge Dame.« Ursa zog das Wort spöttisch in die Länge.

»Du vielleicht schon, aber was ist mit deinen drei Kumpanen? Raub und Entführung sind eine ernste Sache, und vielleicht ist es ganz praktisch, jemanden dabei zu haben, der nicht nur kämpfen, sondern auch denken kann.«

Ursa packte sie am Arm. Aus seinem Gesicht war jede Spur von Humor verschwunden. »Meine drei Freunde sind schlau genug, ihre Pläne nicht mitten auf einem Lagerplatz herauszuposaunen«, fauchte er sie an, wobei er sich nervös umsah, ob jemand etwas mitbekommen hatte.

Er zerrte sie näher an die Seile der Pferdekoppel, um sich dann drohend zu ihr herunterzubeugen. »Was weißt du?« wollte Ursa wissen, der sie weiter festhielt.

»Nicht viel, und das ist die Wahrheit«, sagte sie wütend, starrte ihn genauso drohend an und versuchte, ihn abzuschütteln.

»Aber ich weiß, daß ihr dumm wäret, mich abzuweisen. Ich kann mit einem Schwert umgehen, und ich bin kein Narr wie, wie… Radisson!«

Zornig schweigend funkelte er sie an.

»Nimm mich bei euch auf«, beharrte sie.

Ursa schnaubte. »Meine Partner sind gierig. Sie würden den Topf nur ungern mit noch einer Person teilen, besonders« – er stieß das Wort verächtlich heraus – »nicht mit einem Mädchen. Vergiß Radisson. Und ich vergesse freundlicherweise unsere kleine Unterhaltung.« Seine Augen wurden etwas weicher. »Vielleicht kann ich dich gebrauchen, wenn wir uns mal wieder begegnen«, sagte Ursa, der von ihr zurücktrat. »Es heißt doch, ›aller guten Dinge sind drei‹. Bis dahin, leb wohl, Kitiara.«

Ursa rief laut. Sein Pferd, dasselbe kräftige, graue Tier, an das sich Kit noch erinnern konnte, löste sich aus einem Grüppchen auf der Koppel, sprang mit Leichtigkeit über das Seil, das als Zaun diente, und trottete zu dem Söldner hin. Ursa schwang sich geschickt auf den ungesattelten Rücken seines Pferdes – genau wie damals – und verschwand.

Kit sah ihm eine Minute lang nach, während sie sich betreten den Arm rieb. Im Gegensatz zum letzten Mal, wo sie sich begegnet waren, wußte sie, wo und wann sie Ursa jetzt finden konnte. Sie ballte die Fäuste entschlossen und machte sich zu der Kreuzung auf, wo sie sich mit Gilon treffen würde.