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Nachdem Kitiara und Gilon gegangen waren, folgte der Zaubermeister Raistlin in den kleinen, spartanischen Anbau und wies ihn an, sich auf einen der Stühle zu setzen. Dann rief Morat einen jungen Mann in einfachen Arbeitskleidern her, dem er erklärte, daß der Zaubermeister den Vormittag über nicht gestört werden dürfe. Der Mann – anscheinend eine Art Diener – nickte und ging, wobei er die Tür zur Bibliothek hinter sich zumachte.

Hinter dieser Tür vernahm Raistlin hin und wieder das leise Kommen und Gehen von Morats Schülern, die Zugang zu den Schätzen der Bibliothek hatten. Ihre Gespräche fanden im Flüsterton statt. Zweifellos waren sie nicht gerade darauf aus, den Zaubermeister zu stören. Raistlin nahm an, daß das meiste Lernen in den Räumen entlang des langen Korridors stattfand.

Der Raum, in dem sich Morat und Raistlin aufhielten, war völlig unauffällig. Kalksteinwände ohne Fenster, Farbe oder Wandschmuck. Selbst Klein-Raist begriff, daß es darum ging, möglichst jede Ablenkung auszuschalten, um eine bessere Konzentration zu erreichen. Morat befragte ihn mehrere Stunden lang bis in den frühen Nachmittag hinein. Er fragte nicht gerade Wissen ab, sondern eher philosophische Dinge, was die Antworten nicht leichter machte.

Vielleicht gab es auch keine richtigen Antworten.

Auf jeden Fall schien Morats Interesse an Raists Reaktion auf die Fragen fast ebenso groß zu sein, wie sein Interesse an der möglicherweise richtigen Antwort. Die schwarzen Augen des Zaubermeisters durchbohrten den kleinen Jungen gnadenlos. Raistlin, der kein Mittagessen bekommen hatte, wurde regelrecht schwindelig vor Hunger, aber er kämpfte darum, hellwach zu bleiben.

»Dafür, daß du bloß ein Kind bist, sagst du schlaue Dinge«, gab Morat irgendwann einmal widerwillig zu, »aber laß uns noch ein wenig über Gut und Böse reden. Ein Zauberer muß beides lernen und verstehen. Nicht nur das Offensichtliche – die Unterschiede –, sondern auch das Ähnliche. Was ist beiden gemeinsam? Wie würdest du, Raistlin, das Böse beschreiben?«

Jeder andere Sechsjährige hätte sich bei einer solchen Fragestellung bestimmt verwirrt am Kopf gekratzt. Doch Raist war ein Einzelgänger, der körperlich nicht der kräftigste war und wenig Spielkameraden hatte, so daß er viele Stunden allein verbracht hatte, in denen er über genau solche Dinge hatte nachdenken können. Besonders seit dem letzten Jahr, als er auf dem Markt des Roten Mondes zum ersten Mal ein bißchen einfache Zauberei gelernt hatte.

Zuerst hatte sich der kleine Junge vorgestellt, er würde ein guter Zauberer werden, der Banditen und wildgewordene Unholde bekämpfte, indem er seinen Kopf und seine Begabung genauso leicht benutzte wie Caramon die körperliche Geschicklichkeit, die ihn zum geborenen Kämpfer machte. Zauberer, die sich der Neutralität verschrieben, faszinierten Raistlin, obwohl er bis jetzt wenig über sie wußte. Und über das Böse als Feind des Guten hatte er schon viel gehört.

»Ich glaube, es wäre ein Fehler, das Böse zu genau oder zu einfach zu definieren«, erklärte Raistlin nachdenklich. Trotz seiner Bemühungen klang seine Stimme dünn und müde. »Aber was es auch ist, es ist das Gegenteil vom Guten. Um es also zu kennen, müssen wir auch das Gute kennen.«

»Eine kluge, durchdachte Antwort«, meinte der Zauberer kurz. »Aber jetzt sag mir, wie definieren wir es in Abwesenheit des Guten?«

»Hm«, sagte Raist, »es kann einfach keine echte Abwesenheit des Guten oder des Bösen geben. Das eine kann nicht ohne das andere sein. Sie sind ständig in einer Art Gleichgewicht, die ganze Zeit. Das eine kann mal überwiegen, während das andere schläft, aber keins kann je wirklich fehlen.«

»Kannst du dir kein Beispiel für das Böse vorstellen?« fragte der Zaubermeister.

»Kein reines Beispiel… außer natürlich den Göttern der Finsternis«, fügte der Junge eilig hinzu.

Morat wirkte zufrieden. »Wie erkennen wir also das Böse?« hakte er nach.

»Seine Masken sind unzählbar.«

»Aber ein Magier muß sich bemühen, das Böse zu erkennen und zu entlarven, sowohl bei sich und seiner Zauberei als auch bei anderen.«

»Ja«, stimmte Raist zu. »Man muß seine verschiedenen Gestalten lernen. Mehr als alles andere« – er hielt inne, und suchte nach den richtigen Worten – »lernt ein Magier, das Böse zu erkennen. Wer die Weiße Robe trägt, erkennt es als Gegensatz. Eine Schwarze Robe würde es als Verbündeten ansehen.«

»Und eine Rote Robe?«

»Hmm«, meinte Raistlin mit erbärmlich dünner Stimme. »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, ich würde sagen, daß eine Rote Robe es als Teil von sich selbst betrachten würde.«

Die letzten paar Minuten hatte Morat gespannt die Augen zusammengekniffen. Der Zaubermeister hatte sogar zum ersten Mal seit Beginn seiner stundenlangen Befragung aufgehört, auf und ab zu laufen, und sich auf einen Holzstuhl gesetzt. Jetzt beugte er sich vor und stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus.

»Hah!« rief Morat aus. »Sehr pfiffig. Oberflächlich, finde ich, aber ungeheuer pfiffig für einen Sechsjährigen!«

Raistlin nutzte den kurzen Anflug von Freundlichkeit, um um eine Pause zu bitten. Er war zwar auf das Wohlwollen des Magiers versessen, doch er spurte, daß er es sowieso nicht bekam. »Bitte, Herr«, sagte Raist respektvoll, »könnte ich jetzt wohl etwas Wasser bekommen und meine Brote essen?«

Augenblicklich kehrte Morats unzugängliche Haltung wieder. Er stand schroff auf und ging vom Tisch fort. Dann drehte er sich um, verschränkte die Arme und blitzte den hungrigen, kleinen Buben an.

»Zauberer müssen dazu fähig sein, sich stundenlang ihren Studien zu widmen, ob sie nun hungrig sind oder nicht«, belehrte ihn Morat. »Wenn du nicht mal einen Tag einfache Prüfungen durchhältst, dann bist du noch zu jung, zu sehr Kind, um mit dem Lernen anzufangen.«

Raist war vor Erschöpfung und Hunger schon ganz in sich zusammengesunken. Sein kleines Gesichtchen war fahl und übermüdet, seine Augen tränten. Doch er entschuldigte sich nicht. »Wenn das Eure Antwort ist«, erklärte er hartnäckig, »dann laßt uns fortfahren. Ich nehme an, daß Ihr es mir nicht nachtragen werdet, einfach nur gefragt zu haben.«

Eigentlich war Morat selbst ein bißchen hungrig, auch wenn er das nur ungern zugegeben hätte. Normalerweise machte er mittags eine Pause und nahm ein bescheidenes Mahl mit seinen Lieblingsschülern zu sich. Aber er war fest entschlossen, diesen kleinen Kerl kleinzukriegen, der auf jede Frage eine Antwort hatte. Selbst wenn die Antworten teilweise ungewöhnlich waren, mußte der Zaubermeister zugeben, daß sie wohlüberlegt klangen. Er war gleichermaßen beeindruckt wie verstimmt über den Ernst und den Trotz des Jungen, seine Selbstkontrolle und seine Weigerung, sich unterzuordnen.

»Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt für eine Pause«, lenkte Morat schließlich ein. »Ich lasse dir ein Tablett mit dem bringen, was du aus Solace mitgebracht hast. In der Zwischenzeit muß ich dich allein lassen und mich um meine Schüler kümmern.«

Der Zaubermeister machte die Tür zur Bibliothek auf. Bevor er ging, verharrte er kurz und drehte sich zu Raistlin um. »Du hast zehn Minuten Zeit«, sagte er. »Mehr nicht.«Raistlin aß hastig sein Mittagessen. Er schaffte gerade noch, es mit dem kalten, schäumenden Getränk herunterzuspülen, das ihm der Mann in Arbeitskleidung gebracht hatte, ehe Morat wiederkam.

Der Zaubermeister stand naserümpfend in der Tür, um Raistlin dann mit einer Geste in die eigentliche Bibliothek zu winken. Als der Junge dem Zauberer nach all den Stunden in dem engen Nebenzimmer in diesen großen, kreisrunden Raum mit dem Licht des Teichgrunds und den Bücherregalen folgte, fühlte er sich wie neu belebt und spürte plötzlich eine ungeheuere Aufregung.

Sein Herz klopfte wie wild. Diese wundervolle Bibliothek, die so anders war als alles, was er aus Solace kannte – wie sehr es ihn drängte, all diese Bücher zu lesen und hier die alten Künste zu lernen! Raistlin starrte die Bücher so verlangend an wie andere Kinder Süßigkeiten.