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Morat zeigte auf einen Stuhl. Dann ging er zu einem Regal und suchte mehrere Bände heraus, von denen er drei vor Raist hinlegte. Einen anderen, in Leder gebundenen Band legte er gegenüber von Raist neben seinen eigenen Stuhl.

»Öffne das Buch mit der Goldprägung und schlag Seite fünfundzwanzig auf.«

Raistlin sah enttäuscht, daß das fragliche Buch anscheinend grundlegende mathematische Gleichungen enthielt.

Pflichtbewußt begann er zu lesen. Die Minuten zogen sich hin. Morat sagte nichts, sondern saß nur dem Jungen gegenüber und beobachtete ihn genau. Während Raist über die Seiten hinwegflog, schien der Zaubermeister fast zu dösen.

Sein Blick war jedenfalls ausgesprochen verhangen.

Ein leises Klopfen an der Tür riß Morat aus seinen Tagträumen. Unwirsch vor sich hinmurmelnd, stand der Zaubermeister auf und ließ den Klopfenden ein. Die Tür ging auf, doch Raist war sich wieder nicht sicher, ob sie nun mechanisch oder magisch funktionierte. Auf jeden Fall sollte das dem Jungen egal sein. Er hatte zu lesen, also waren alle seine Blicke nutzlos.

Ein dicker Junge in Kitiaras Alter, der die graue Robe eines Zauberlehrlings trug, kam herein. Anscheinend einer der Schüler, denn er schien große Ehrfurcht vor dem Zaubermeister zu haben, während er um die rechten Worte rang.

»Meister«, fing der Junge zögernd an. »Alekno hat, ähem, Probleme mit dem Unsichtbarkeitszauber. Er konnte seine Beine verschwinden lassen, aber das ist leider auch alles. Jetzt sieht es so aus, als wenn er sie nicht wieder zurückzaubern kann. Wir haben versucht, ihm zu helfen, aber wir kriegen nicht raus, was er falsch macht. Würdet Ihr es uns bitte sagen?«

»Alekno paßt nie richtig auf, wenn man ihm etwas sagt, und dann kommt genau so etwas dabei heraus. Am liebsten würde ich ihn mal für ein, zwei Tage halb unsichtbar lassen. Das wird ihn lehren, nächstes Mal besser zuzuhören.«

Der dicke Junge trat unruhig von einem Bein aufs andere, weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte. Auf seinem Gesicht lag ein flehender Ausdruck.

»Na schön«, meinte Morat wütend. Er stand auf und ging murrend und schimpfend zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich zu Raist um. »Mach weiter. Ich bin bald zurück.«

Raistlin las weiter, wie man es ihm gesagt hatte. Fleißig blätterte der Junge die Seiten um, las von links nach rechts und von oben nach unten, immer mit dem Finger auf den Zeilen, und gab sich größte Mühe, die ganzen Tabellen zu verstehen und sich einzuprägen. Es waren mathematische Grundlagen und Maßeinheiten, aber auch komplizierte Gleichungen, Winkel und Grade und Teilungen. Raistlin las fast eine Stunde lang weiter, doch der Zaubermeister war immer noch nicht zurückgekehrt.

All die Übungen machten den Jungen schläfrig. Für bestimmte Zauber und Situationen würde es wohl hilfreich sein, etwas von Zahlen zu verstehen, aber Raist mußte gähnen, als er die letzte Seite des Buches umblätterte und den vergoldeten Einband schloß.

Immer noch keine Spur von Morat und kein Ton hinter der Bibliothekstür, durch die er verschwunden war. Die Spätnachmittagssonne, die von oben hereindrang, war nicht mehr so hell, und das Licht in der Bibliothek war fahl und gelblich geworden. Zusammen mit der Stille hatte das eine richtig unheimliche Wirkung.

Seufzend griff Raistlin nach einem der anderen beiden Bücher, die der Zaubermeister ihm herausgelegt hatte, dem mit dem abgegriffenen Einband und den krümelnden Seiten. Sofort erkannte er, daß es sich um ein Geographiebuch handelte. Es war voller detaillierter Karten von den vielen bekannten und auch weniger bekannten Teilen von Ansalon. Es gab grobe Klimakarten und Hinweise auf Bodenbeschaffenheit und Höhen, alles ganz exakt von Hand gezeichnet und farbig ausgemalt.

Obwohl dieses Buch lange nicht so dick war wie das Zahlenbuch, war auch dies harte Arbeit, und Raist blätterte die Seiten mit der Zeit immer langsamer um, doch der Zaubermeister kam immer noch nicht zurück. Nach einer weiteren Stunde hatte Raistlin das zweite Buch zu Ende gelesen. Raist sah sich in dem jetzt dämmrigen Zimmer um und griff pflichtbewußt nach dem dritten und letzten Buch vor sich.

Dieses hatte einen schweren Rindsledereinband mit Eisenbeschlägen, so daß Raist beide Hände nehmen mußte, um es aufzuschlagen. Das Pergament der Seiten war sehr dünn und von zarter Struktur und erzählte in winziger, eleganter Schrift die frühe Geschichte der Silvanesti-Nation. Kalligraphien bedeckten die Seitenränder, und die lange, detaillierte Chronik war auf jeder Seite in drei gleichlange Spalten geteilt.

Der kleine Junge, dem langsam die Augen zufielen, begann, die alte Geschichte zu lesen. Doch sein Interesse wuchs, je weiter er kam.

Er wußte nicht viel von der tragischen Geschichte der Elfenrasse, und es waren wirklich nicht so viele Seiten. Aber die Schrift war so winzig und die Tinte so verblichen, daß er in dem nachlassenden Licht seine Augen sehr anstrengen mußte. Es dauerte nicht lange, bis ihm der Kopf auf den Tisch sank. Er war eingeschlafen.

Feuchter, klebriger Nebel umwaberte Raistlins Stuhl. Er war nicht mehr in der Bibliothek. Gerade außer Hörweite von ihm schienen Stimme zuflüstern. Plötzlich erschien seine Mutter. »Komm mit, mein Schatz«, lud ihn Rosamund ein. »Ich werde dich führen.«

Der Junge griff eifrig nach ihrer ausgestreckten Hand. In dem Moment, wo sich ihre Finger berührten, verwandelte sich Rosamund jedoch in ein schreckliches, schleimiges Wesen, das Raistlin mit unwiderstehlicher Gewalt an seine Brust zog. Er geriet in Panik, denn er wurde von Geifer eingehüllt. Verzweifelt kämpfte er gegen das Erstickungsgefühl, rang nach Luft, schluckte aber immer wieder einen Mundvoll von dem ekelerregenden Zeug. Er ertrank in Schleim!

Ebenso plötzlich war der Spuk vorbei. Jetzt war Raistlin wieder zu Hause und hockte auf dem Bett seiner Mutter. Nein, eigentlich teilte er ihren Körper, sah mit ihren Augen, atmete ihre zitternde Atmung.

Kitiara bereitete das Abendessen zu. Caramon warf müßig Zweige ins Feuer. Gilon kam herein. Doch es war gar nicht Gilon. Dieses Wesen hatte Hörner und einen riesigen Kopf. Es überragte Kitiara, streifte die Decke. Ein Minotaurus, erkannte Raist erschauernd.

Der Minotaurus stürmte zu Rosamund hinüber.

Sie schrie und versuchte, den Tiermenschen abzuwehren, der sie – und Raist in ihrem Körper – geschickt in die Laken wickelte. Kit und Caramon schien das weder zu kümmern, noch schienen sie es überhaupt zu bemerken. Während Rosamund ihren Protest laut herauskreischte, schleppte der Minotaurus sie unter dem Arm zur Vordertür hinaus.

Plötzlich hatte Raist den Körper seiner Mutter verlassen und zog sich am Fensterbrett hoch, um in die Hütte zu spähen. Er sah, wie der Minotaurus und Kit einander verschwörerisch zunickten. Als Raist seine ältere Schwester genauer ansah, merkte er, daß sie sich verändert hatte. Sie trug eine Rüstung aus schimmernden, blauen Schuppen. Wenn sie den Mund aufmachte, schossen Flammen heraus. Um den Bauch trug sie einen Gürtel mit dem Holzschwert, das ihr Vater ihr vermacht hatte. Aber als sie es zückte, war es nicht mehr aus Holz.

Der harte Stahl glänzte im Feuerschein. Mit ihrem schrecklichen Schwert näherte sich Kit dem nichtsahnenden Caramon.

Raist klammerte sich wie gebannt ans Fensterbrett, ohne etwas unternehmen zu können. Schließlich begann er mit einer Hand gegen das Fenster zu schlagen und seinem Bruder eine Warnung zuzuschreien. Caramon sah nicht auf, als Kit das Schwert über seinem Kopf schwang. Rosamunds Kreischen war immer noch hinter ihm zu hören. Voller Entsetzen sah Raist zu, wie Kit das Schwert herunterfahren ließ und Caramon den Kopf abschlug. Der blutige Schädel rollte zum Fenster, und da sahen seine weitaufgerissenen Augen endlich Raist. Ruhig und traurig, doch ohne Vorwurf, fragte Caramons Kopf: »Bruder, warum hast du mich nicht gewarnt?«

Die Worte durchbohrten Raistlins Herz. Schluchzend brach er auf dem Boden zusammen.

Raistlin fuhr hoch. Er war eingeschlafen! Rot vor Scham suchten Raistlins Augen das Zimmer ab, doch er erkannte mit einiger Erleichterung, daß er immer noch allein war.